Am Sonntag ins Museum?

Kirche im Spannungsfeld kultureller Anbieter

Von Andreas Mertin

Vortrag auf dem Landeskirchentag Schmalkalden 2.09.1995

Sister Act - ein medialer Kirchen-Reformvorschlag

In einem populären Kinofilm des Jahres 1992 findet sich ein interessanter Beitrag zu der Frage, wie die christliche Kirche innerhalb eines differenzierter werdenden kulturellen Umfelds und einer sich immer reservierter verhaltenden Gesellschaft überleben kann. Der Film handelt davon, dass eine Nachtclubsängerin ihren Ex-Liebhaber bei einem Mord beobachtet und auf der Flucht vor ihm Asyl in einem Kloster erhält. Und dort trifft sie auf den deprimierenden Alltag der Kirche: eine enge, beschränkte Gruppe von Gläubigen mit starren Regeln, in Distanz zum Rest der Welt, ein Kirchenchor, der mehr schlecht als recht, aber doch sehr bemüht musikalisch sein Bestes gibt, eine Kirche, in der sich die wenigen Besucher zwischen den Bänken verlieren, ein Geistlicher, der die Sonntagspredigt mit den Worten eröffnet: Seid willkommen an diesem Sonntag morgen, ihr wenigen, aber treuen Gläubigen! Im Gottesdienst ist man unter sich, weit ab von den Kirchenfernen draußen.

In diese geordnete Welt platzt die Nachtclubsängerin, ein Energiebündel, gespielt von Whoopie Goldberg, welche keine Minute ohne Aktivitäten sein kann, ganz dem Leben zugewandt, eine Person, die sich nichts gefallen lässt und kein Blatt vor den Mund nimmt. Ihr ist dieses Leben im kirchlichen Ghetto langweilig, schier unerträglich öde, ohne Kick und ohne Action, ein Betrieb, der seinen mangelnden Erfolg sich selbst zuzuschreiben hat. Und so zeigt sie ihren staunenden Mitschwestern, wie man in Las Vegas die Kirche füllen würde: man muß aus dem Gottesdienst eine Show machen; eine Show, die in der Konkurrenz gegen andere sich auszeichnet, und das heißt: die Kirche, der Gottesdienst, die Gläubigen müssen einen »drive« bekommen, der dem Geist der Zeit entspricht. Zunächst wird der Chor auf Vordermann gebracht, er wird körperbetonter, bekommt Rhythmus, Bewegung, Leben, die Nonnen lernen die Zwerchfellatmung ebenso wie den gekonnten Hüftschwung. Die Melodien und Kirchenlieder werden ausgetauscht, ein wenig Pop-Kultur kann der Kirche nicht schaden. Der erste Auftritt des so renovierten Kirchenchors bewirkt ein Wunder: die ausgeflippten und heruntergekommenen jugendlichen Bewohner des städtischen Slums rund um das Kloster werden angelockt, sie sind ob dieser Modernität der Kirche fasziniert und lassen sich ins Kirchenschiff locken. Ein Punktsieg für die Kirche im Kampf um die Seelen. Dem Geistlichen, wen wundert's, gefällt diese Entwicklung und so wird das Programm ausgebaut: die Nonnen öffnen ihre Kirche, bemalen die Wände mit Graffiti und lernen auf der Straße, was es heißt, im Trend der Zeit zu sein. Dieses Modell kultureller Modernisierung der Kirche ist außerordentlich erfolgreich, so erfolgreich, dass selbst der gegenwärtige Papst während einer Visite in Amerika diesem aggiornamento, so nennt man die Öffnung der Kirche zur Welt, seinen Beifall gibt. Soweit Sister Act, der Hollywood-Traum von einer Kirche, die im Spannungsfeld kultureller Anbieter bestehen kann.

Der Traum von einer attraktiven Kirche

Nun kann nicht bestritten werden, dass auch die Mehrzahl der Pfarrerinnen und Pfarrer hierzulande von einer Sonntag für Sonntag gefüllten Kirche träumt, von Gläubigen, welche nicht nur gut protestantisch ihren Worten lauschen, sondern mit Leib und Seele bei der Sache sind. Auch sie hätten gerne eine Whoopie Goldberg in ihrer Gemeinde, die die erstarrten Verhältnisse in Bewegung versetzt. Zumindest wünschen sie sich eine Kirche, die etwas von der Vielfalt und Lebendigkeit der Welt widerspiegelt, die nicht nur die ewige Wiederholung des Immergleichen ist, sondern die es fertig bringt, in dieser notwendigen Wieder-Holung geistesgegenwärtig zu sein. Und an dieser Geistes-Gegenwart fehlt es der Kirche zur Zeit.

Denn das wäre eine Kirche, die nicht nur aufwacht, wenn ihre überlieferten Symbole - wie etwa das Kruzifix in bayerischen Schulen - in Frage gestellt werden, sondern die diese Zeichen nicht nur als traditionelles Kulturgut versteht, sondern mit Leben erfüllt und sie mit dem Leben verbindet, so dass eine formale juristische Infragestellung sie gar nicht mehr treffen könnte, weil sie nichts von dem berührt, was dem christlichen Glauben substantiell ist, weil die Glieder der Gemeinde Jesu Christi es als ihre Aufgabe ansehen, seiner lebendigen Selbstbezeugung von einer Erkenntnis zur anderen zu folgen (Karl Barth). Die Betonung liegt hier auf dem Wort »lebendig«. Dass Vertreter der Kirche ernsthaft versuchen, ein Symbol legalistisch zu sichern, deutet schon auf ihre Sorge, dieses Symbol könne aus sich heraus nicht leben und überzeugen.

Der Traum von einer lebendigen Kirche, einer Kirche also, die die Menschen anzieht, wäre kein Traum einer Kirche in der Warengesellschaft, in der die Menschen dazu verleitet werden, zur Kirche zu gehen (oder auf kirchliche Symbole zu blicken), sondern es wäre die Vorstellung, dass Menschen von sich aus entscheiden würden, sich mit ihren Freunden und Freundinnen am Sonntag in der Kirche unter diesem Symbol zu versammeln. Eine derartige Kirche wäre auch, nimmt man es theologisch genau, der Ort, wo sich ästhetische Wahrnehmung und Gestaltung im Horizont der Liebe Gottes vollziehen. Da die Kirche durch ihr Sein und Handeln Zeugnis für die Versöhnung ablegt, (wäre) ihre ästhetische Praxis gleichzeitig das Medium, durch welches die rechte Wahrnehmung und Gestaltung kultureller Schönheit an die nichtkirchliche Kultur vermittelt wird. Durch sie (würde) der Welt vor Augen geführt, welches nach dem Willen Gottes das angemessene menschliche Verhältnis zur Schönheit der Kultur ist (Matthias Zeindler). Würde die Kirche diesem (theologischen) Traum entsprechen, wäre die Fragestellung genau umgekehrt: was könnte das Museum von der Kirche lernen?

Dass wir aber nicht so fragen, sondern uns eher Gedanken um die kulturelle Konkurrenz machen, dass wir auf das Licht blicken, das bei anderen leuchtet, zeigt, wie auch die vielen Konjunktive in meiner Beschreibung, dass es sich bei diesem Traumbild einer Kirche, die aus sich heraus im Spannungsfeld kultureller Anbieter besteht, um ein irreales Gebilde handelt. Zu fragen ist, woher das kommt und welche gesellschaftlichen Faktoren dafür verantwortlich sind, dass die Institution Kirche, auch wenn sie die Türen noch so sehr öffnet, in der Gegenwart unbestreitbar an Attraktivität verliert, weil die Menschen zwar nicht weniger religiös, aber immer weniger kirchlich sind.

Die Entwicklung zur Erlebnisgesellschaft

These 1: Die gegenwärtige Gesellschaft kann treffend mit dem Schlagwort 'Erlebnisgesellschaft' charakterisiert werden. Ihre leitenden Paradigmen sind 'Spaß, Genuss, Action'. Das Paradigma der aufgeschobenen Interessenbefriedigung ist überholt. Diese Entwicklung ist unhintergehbar und kann auch nicht einfach ignoriert werden. Sie ist weder als Ergebnis einer Verfallsgeschichte noch als Fortschritt zu werten. Vielmehr handelt es sich um eine durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingte Interessenverschiebung.

Wer sich aufmerksam in der Gesellschaft umschaut, wird seit einigen Jahren immer häufiger das Wort "Erlebnis" wahrnehmen. Zunächst war es der Erlebnis-Urlaub, dann das Erlebnis-Bad, später der zum Erlebnis gestaltete Einkauf. Heute wird selbst der Gang ins Kaufhaus-Restaurant "zum erlebnisreichen 'Schlemmer-Bummel'", bei dem für jeden Geschmack das Passende dabei ist. Erlebnis ist zu einem Schlagwort geworden, das den aktuellen Zustand dieser Gesellschaft charakterisiert. Das meint jedenfalls der Kultursoziologe Gerhard Schulze in seiner Untersuchung "Die Erlebnisgesellschaft". Er fragt: Was geschieht, wenn Glück, Spaß, Genuss zu Paradigmen des Handelns werden? Wie ist eine Gesellschaft zu beschreiben, bei der die erlebnisorientierte Wahl zur charakteristischen Handlung wird? Wie verändert sich das Verhalten, wenn wir nicht mehr aus nackter Notwendigkeit, sondern aufgrund einer Vielzahl von Angeboten entscheiden? Statt Wie erreiche ich dies oder das? fragen wir Was will ich eigentlich?, die Parole lautet: Erlebe dein Leben! An die Stelle bisheriger Außenorientierung ist die innenorientierte Lebensauffassung getreten: das Projekt des schönen Lebens als Verlangen, etwas zu erleben. Angebotsexplosion, Ausweitung der Konsumpotentiale, Wegfall von Zugangsbarrieren, Umwandlung von vorgegebener in gestaltbare Wirklichkeit: die Erweiterung der Möglichkeiten führt zu einem Wandel der Lebensauffassungen ... Im Entscheidungssog der Möglichkeiten wird der Mensch immer wieder auf seinen eigenen Geschmack verwiesen ... Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt (G. Schulze).

Aber diese Entwicklung hat ihre Schattenseiten. Die Kehrseite der Erlebnisorientierung sind Verunsicherung im Blick auf die Wahl jener Momente, welche das Leben als gelungen erscheinen lassen, und Enttäuschung, weil das erstrebte Glück sich nicht dauerhaft inszenieren lässt. Das Projekt des schönen Lebens verbindet sich mit seinen Folgeproblemen von Unsicherheit und Enttäuschung zu einem dynamischen Motivationsgemenge, aus dem neue kollektive Strukturen hervorgehen. An die Stelle von Gesellschaftsbildung durch Not tritt Gesellschaftsbildung durch Überfluss (G. Schulze).

Die Faktoren, die früher noch das Erscheinungsbild des einzelnen in der Gesellschaft wesentlich geprägt haben, wie etwa die Stellung im Produktionsprozess, der Lebensstandard, die Umgebung oder auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Konfession verlieren dagegen an Bedeutung. Angesichts der verwirrenden Vielzahl von Möglichkeiten auf dem Erlebnismarkt sucht man heute Gleichgesinnte und schließt sich zu Szenen zusammen: Hochkulturszene, Neue Kulturszene, Kneipenszene, Sportszene oder Volksfestszene. Darüber hinaus zeichnet sich eine gravierende Veränderung in der Kulturwahrnehmung vor allem bei den Jüngeren ab: die bisher übliche Kontemplation wird mit Action angereichert, Kultur muß einen "Kick" vermitteln, sie muß komplex und spontan sein, sie muß für die einzelnen Subjekte einen hohen Erlebniswert besitzen.

Das religiöse Subjekt (in) der Erlebnisgesellschaft

These 2: Das religiöse Subjekt muß heute - als Ergebnis eines seit mehr als 150 Jahre andauernden Prozesses - als autonomes religiöses Subjekt begriffen werden. Die Normierung religiöser Subjekte nach der jeweils herrschenden kirchlichen Dogmatik ist aufzugeben. Statt dessen ist der einzelne als Produzent seiner eigenen Theologie ernst zu nehmen. Dadurch wird die religiöse Erfahrung zunehmend auch mit ästhetischer Erfahrung verbunden. Die gesteigerte Wahrnehmung für das, was ist, konstruiert die religiöse Erfahrung und damit die religiöse Einstellung.

Welche Bedeutung hat diese Entwicklung für das religiöse Subjekt? Religion ist kein dominierender Faktor der Lebensgestaltung mehr, vielmehr wird die private Religion nach den Bedürfnissen des eigenen Lebens eingesetzt und gestaltet. Religion wird zum möglichst bunten, interessanten, dekorativen Detail im Biographie-Design. Was das für den einzelnen bedeutet, mag ein Zitat verdeutlichen, das ich dem Einladungsheft zum letzten Kirchentag in Hamburg entnehme:

Wer in Hamburg noch nicht einmal besonders aufmerksam durch die Straßen geht, stellt schnell fest: Religiöse Angebote gibt es an jeder Ecke der Stadt. Ob mir mein Bäcker nebenbei ein dickes Heft mit Esoterik-Adressen, Wochenendseminaren und 100 Selbsterfahrungsgruppen anbietet oder ich in ein buddhistisch-vegetarisches Restaurant gehe: Das bunte Leben der Religionen und Spiritualitäten spiegelt sich überall. Wenn ich mit kirchenferneren Menschen rede, so kehrt ein Motiv immer wieder: Sie haben es sich nicht leicht gemacht mit ihrer Suche nach den inneren, höheren Werten. Oft haben sie verschiedene Angebote der Szene ausprobiert, sich hier oder dort für eine Weile niedergelassen, geprüft und verworfen. manches für sich angenommen, anderes schnell abgelehnt. Eines aber blieb vielen: die Sehnsucht nach einer offenen, toleranten, bunten, lebendigen Form religiösen Lebens, die sich an starre Institutionen nicht binden will. Und die gegen Ausschließlichkeitsansprüche hochallergisch reagiert. Der Übergang von Sondergemeinschaften, Kirchen, ... Ostreligionen und Sekten ist fließend. Bedroht aber fühlen sich nur wenige von dieser Vielfalt, die meisten nutzen diese Palette als Anregung für das eigene Nachdenken und die Herausbildung eigenen religiösen Verständnisses. Oder kommen am Ende zu der Meinung, dass an der Sache selbst, an der Suche nach den großen Zusammenhängen und ihrer Rolle darin, zwar etwas dran sei, dieses aber auch gut im stillen Kämmerlein oder mit einigen wenigen Freunden zu besprechen sei.

In diesem Text kommen alle Vokabeln der Erlebnisgesellschaft vor. Religion ist, das wird deutlich, selbst (nur) ein Teil der Erlebniswelt. Im Zusammenhang von Religion von Erlebniswelt zu sprechen, mag dem bitter aufstoßen, für den Religion ein wichtiger, erhaltenswerter und letztlich unverfügbarer Wert darstellt. Religion als Erlebniswelt - das klingt als lägen Einkaufen, Restaurant-, Schwimmbad- und Gottesdienst-Besuch auf derselben Ebene, als wäre die individuelle Tröstung vergleichbar mit dem täglichen Fernsehkonsum. Aber genau dieser Prozeß der Vergleichgültigung - in dem Sinn, dass alle diese unterschiedlichen Angebote gleich gültig sind - hat sich in den letzten Jahren vollzogen.

Grob gesprochen lautet die Entwicklung: Vom Schicksal zur Wahl. Heute kann jeder nicht nur zwischen den Religionen, den Konfessionen und den diversen Ausprägungen der einzelnen Konfessionen wählen, er kann sich auch in einem Akt synkretistischer Wahl aus den einzelnen Religionen das herausgreifen, was ihm gefällt. Die Kombination von Christentum und Zen-Buddhismus, oder Christentum und matriarchalen Göttinnen, Christentum und Bhagwan etc. gehört zum Erscheinungsbild von christlicher Religion heute. Das religiöse Angebot hat sich nicht nur verbreitert, es scheint auch relativ willkürlich kombinierbar. Für das einzelne Subjekt bestehen aber nicht nur Wahlmöglichkeiten zwischen den Religionen, einzelnen Eigenarten der Religionen usw., sondern auch zwischen ganz unterschiedlichen Kultorten, wie etwa zwischen Kirche und Museum, ja sogar zwischen verschiedenen Betreuungsformen, wie etwa der Seelsorge durch den Pfarrer, den Psychotherapeuten oder auch durch Ilona Christen und Hans Meiser im privaten sowie die Herren Schimpf und Fliege im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Diese Entwicklung zur Stärkung des religiösen Subjekts ist nicht (nur) negativ zu beurteilen. Wenn, wie der praktische Theologe Henning Luther schrieb, die Religion der einzelnen nicht in der bloßen Übernahme offizieller, dogmatisch fixierter Lehre besteht, sondern als subjektiver Akt der selbständigen Auslegung von und auch kritischen Auseinandersetzung mit den Deutungsangeboten der Religion zu verstehen ist, muß man davon ausgehen, dass die einzelnen Subjekte nicht (nur) Empfänger theologischer Lehre sind, sondern selbständige und kreative Produzenten religiösen Denkens ... Theologie kann nicht länger als normative Lehre verstanden werden, die verbindlich klärt, was und wie die einzelnen zu glauben haben ... Das Auseinanderfallen von kirchliche Lehre einerseits und subjektiver Religiosität andererseits hat seine Ursachen gerade darin, dass nicht länger allen alles an der überlieferten religiösen Tradition einleuchtend, plausibel und subjektiv nachvollziehbar erscheint. Vieles an der offiziellen Religion lässt sich immer weniger mit den Erfahrungen der einzelnen Menschen zusammenbringen. Dies hängt nicht zuletzt an der notorischen Erfahrungsschwäche und Lebensferne der theoretisch ausdifferenzierten dogmatischen Systeme ... Dem 'Test' durch die 'Erfahrung' werden sie nicht ausgesetzt.

Auf die Erlebnisse, auf die Wünsche, die Bedürfnisse, die Hoffnungen und Phantasien, die Traditionen und alltäglichen Gewohnheiten der Menschen zu rekurrieren, sich ihren vielfältigen Erfahrungen auszusetzen, heißt, in eine kritische Auseinandersetzung und Überprüfung der kirchlichen Lehre einzutreten. Denn wenn sich die Menschen in anderen gesellschaftlichen Bereichen mit ihren Erfahrungen eher angesprochen sehen, wenn sie von den Sorgen des Alltags eher an anderen Orten entlastet werden, wenn die gelebte Frömmigkeit innerhalb der Kirchen die subjektive Frömmigkeit der Menschen nicht mehr aufnimmt, dann muß die Kirche, dann müssen die Gemeinden sich fragen, wohin die Menschen gehen, welche Alternativen sie dem Besuch der Gemeindeversammlung vorziehen.

Die Kirche als Freizeitinstitution

These 3: Die Kirche als institutionalisierte Religion ist von dieser Veränderung substantiell betroffen. Sie wird in der Erwartung der Gesellschaft zu einem Teilelement jener Erlebniskultur, die dafür zu sorgen hat, dass der Erlebnishunger befriedigt wird. Kirche wird so zu einem unter vielen im Spannungsfeld kultureller Anbieter.

Beides, die Entwicklung zur Erlebnisgesellschaft, wie die Rolle des einzelnen im Blick auf die Religion, haben Folgen für die Kirche als institutionalisierter Religion. Über die reale Bedürfnislage der Menschen gibt eine Umfrage Auskunft, die vor einigen Jahren durchgeführt wurde. Befragt wurden Bundesbürger darüber, bei welcher kulturellen Institution sie den Verlust wohl am meisten bedauern würden. Zur Auswahl standen dabei Bücherei, Kino, Kirche, Museum, Oper, Sportstadion, Theater und der Zoo. Auffallend ist dabei schon der Umstand, dass die Kirche hier überhaupt unter den Freizeitinstitutionen auftaucht. Das ist nicht selbstverständlich. Man könnte sie ja auch zu grundlegenden Institutionen wie Medizin, Politik oder Juristik rechnen.

Jedenfalls würden die weitaus meisten Menschen zuallererst den Verlust des Zoos bedauern, die Kirche rangiert an dritter Stelle, das Schlusslicht bildet die Oper. Kein Grund zur Sorge also? Fragt man nach der Konfession, so rückt bei den Protestanten die Kirche weit nach hinten und bei den Konfessionslosen rutscht sie sogar ans Ende der Liste. Interessant ist auch der Blick auf das Alter: bei den über 65-jährigen steht die Kirche erwartungsgemäß an der Spitze und auch Theater und Museum rangieren weit oben; bei den bis 19-jährigen liegt dagegen das Kino an der Spitze, während die Kirche am Schluss der Liste in direkter Nachbarschaft zum Museum zu finden ist. Das Museum selbst ist also kaum eine direkte Konkurrenz zur Kirche, eher schon Zoo, Fußball und Kino.

Präziser müsste die Frage also lauten: Was tun am Sonntag morgen? Gottesdienstbesuch ist eine neben anderen Beschäftigungsmöglichkeiten für den Sonntag. Und die Entscheidung, die man für oder gegen den Gottesdienstbesuch trifft, wird nach den Gesichtspunkten der Freizeitgestaltung getroffen: macht die Sache Spaß, bereitet sie Genuss, verschafft sie Befriedigung, entlastet sie mich von meinen Sorgen des Alltags usw. Und so steht tatsächlich für die Menschen, die ihren Sonntagmorgen planen, die Frage zur Entscheidung an: will ich nicht lieber, statt unserer Pfarrerin bzw. unserem Pfarrer bei seiner Exegese der Predigtperikope zu lauschen, im Bett liegen bleiben, den Sportklub aufsuchen oder einen Spaziergang machen? Welche Freizeitaktivität verspricht mir die Befriedigung meines Erlebnishungers? Wo bieten sich mir »Aktion, Spaß, Genuss«? Unbestreitbar wird dabei auch die Kirche unter die möglichen Aktivitäten einbezogen, freilich besitzt sie unter den kulturellen Angeboten zur Befriedigung des Erlebnishungers einen nur geringen Stellenwert. Gegen den Strich gelesen sagen viele Menschen durch die Wahl anderer Freizeitaktivitäten am Sonntagmorgen: die Sache der Kirche macht mir keinen Spaß, sie bereitet mir keinen Genuss, sie verschafft mir keine Befriedigung, sie entlastet mich nicht mehr von meinen Sorgen des Alltags. Im Konzert der kulturellen Anbieter hat sie kein besonders attraktives Angebot.

Am Sonntag ins Museum?

These 4: Die Verräumlichung des Religiösen ist in der Gegenwart nicht mehr eindeutig an die Kirche und ihre Räume gebunden. Für ein bestimmtes Segment der Gesellschaft kann das Kunstmuseum einen alternativen Kultraum bilden. Ihre vordergründige Funktion als Ort des Sammelns, Bewahrens und Lehrens erklären nur einen Teil ihrer allgemeinen Wertschätzung. Das Museum eröffnet vielmehr einen Raum für die symbolische Rettung vor dem Vergessen verbunden mit der beruhigenden Botschaft einer durch Geschichte abgesicherten kollektiven Identität. Auf diese Weise wird das Museum in einer bestimmten Hinsicht und für eine bestimmte Gruppe zum Funktionaläquivalent der Kirche.

Von denen, die den Sonntag mit einem kulturell belangvollen Angebot füllen wollen, fragen einige auch: soll ich heute nicht Chagall-Bilder in einer Galerie betrachten oder Bilder van Goghs in einer Ausstellung in Köln oder Avantgarde-Werke von Joseph Beuys in Kassel oder auch nette Pinguin-Skulpturen von Stephan Balkenhol in Frankfurt. Sonntags ist schließlich in den meisten Museen freier Eintritt, man trifft sich mit vielen Gleichgesinnten zum zwanglosen Flanieren vor den Kunstwerken oder auf einen Plausch im Museumscafé. Deshalb also: Am Sonntag statt zur Kirche ins Museum! Und die Entscheidung zugunsten des Museums fällt, wie die Theologin Susanne Natrup in einer Studie über das Museum als Kultort gezeigt hat, nicht nur wegen der dort präsentierten Kunstwerke, sondern auch weil inzwischen viele Museen neuester Bauart sich als Orte verdichteter Realität verstehen und präsentieren. Die Verräumlichung des Religiösen, die lange Zeit an Gotteshäuser und bestimmte exklusive Orte gebunden war, kann heute auch im Kultort Museum geschehen. Das Kunstmuseum der Gegenwart vollzieht damit eine Bewegung, die schon sehr früh in der Kunst selbst angelegt war: Wie der Zauberer als erstes bei der Zeremonie den Ort, in dem die heiligen Kräfte spielen sollen, gegen alle Umwelt eingrenzte, so zeichnet mit jedem Kunstwerk dessen Umkreis geschlossen vom Wirklichen sich ab (Horkheimer/Adorno). Das heutige Kunstmuseum inszeniert diesen kultischen Aspekt: Die postmodernen 'Kunsttempel' scheinen den einst kirchlichen Part der Erbauung, Vergewisserung und Gemeindebildung fast mühelos zu übernehmen und das entstandene Vakuum zu füllen ... Museen sind Orte individueller und zugleich kollektiv-sozialer Zuflucht, um spätmoderne Kontingenzerfahrungen erlebter Wirklichkeit zu bewältigen. Dabei scheint es so, dass insbesondere für die, die sich von der Kirche entfernen, aus ihr austreten oder ihr kritisch gegenüberstehen, Kunst bzw. die Inszenierung von Kunstereignissen die Funktionen der Religion für Kontingenzbewältigung, Sinnfragen und Sinnstiftungen übernimmt ... Der museale Kultisierungsprozess aus sakral unterlegter Architektur, gegenstandsfreier Kunst und inszenatorischer Potenz übernimmt quasi-religiöse Konnotationen und weist in seinen Strukturierungen Analogien zu denen des religiösen Geschehens auf (S. Natrup). Was sich anbietet, so schreibt der Phänomenologe Bernhard Waldenfels, ist das Museum als Passage, als Durchgangsort. Wir verweilen bei der Darbietung von Sichtbarem, das selber sichtbar macht und uns die Welt anders sehen lässt, in gesteigerter, zugespitzter oder verfremdeter Form. Das Museum erschöpft sich nicht mehr in der Funktion als Ort zu bewahrender Kulturgüter, es wird zum Stiftungsort kultureller Identität und bietet einen spannungs- und genussreichen Raum für die symbolische Rettung vor dem Vergessen (S. Natrup). Insoweit dabei weitgehend auch ritualisierte Verhaltensformen ausgebildet werden (Kleidung, Flanieren, Kommunikation im Cafe, Schwellencharakter, Abgrenzung vom Alltag) tritt das Museum an die Stelle der Kirche, zumindest wird es zu einer möglichen Konkurrenz.

Bilder der Kirche ...

These 5: Aufgabe der christlichen Religion ist es, Formen zu finden, Zeiten und Räume so zu gestalten, dass Gottes Ankunft in der Gegenwart zumindest nicht systematisch verhindert wird. Gott ist ein Gott der Gegenwart: »Denn siehe, ich bin da!« (Jes. 52,6). Die institutionalisierte Religion muß darum bemüht sein, eine qualifizierte Gegenwart und eine qualifizierte Gestalt zu gewinnen. Sie tut dies in der Reflexion der eigenen Gestalt und durch die Teilnahme am allgemeinen Diskurs um die Gewinnung qualifizierter Gegenwart. Qualifizierte Gegenwart gewinnt die Religion aber nur im Dialog, nicht in der Wiederholung und nicht in der Ignoranz der sie umgebenden Kultur.

Es bleibt daher die Frage, wie sich die Kirche im Spannungsfeld kultureller Anbieter darstellen will. Um es noch einmal zu akzentuieren: keine der benannten kulturellen Institutionen ist eine wirkliche Gefährdung der Kirche, eine Gefährdung besteht allenfalls darin, dass die Kirche entgegen ihrem Selbstverständnis als Freizeitinstitution begriffen wird und deshalb an der Attraktivität derartiger Freizeitfelder gemessen wird. Und da sieht es, sagen wir im Vergleich zum Safari-Park oder dem Erlebnisbad, für die Kirche nicht immer gut aus. Der Fotograf Horst Wackerbart hat das mit einem treffenden Satz zusammengefasst: Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird zu einer der knappsten Ressourcen überhaupt. Trifft die Beobachtung zu, dass die Menschen heute nicht mehr global, sondern nur noch spezifisch anzusprechen sind, dass sie das ihnen unterbreitete Angebot mit ihren Erfahrungen und ihren Erlebniserwartungen vergleichen, dass sie darauf setzen, jedem kulturellen Bereich in einer spezifischen Zeitgeist-Konstellation zu begegnen, dass sie ihre Umwelt nach den Paradigmen »Glück, Spaß, Genuss« betrachten, dann müssen wir fragen, wie die Kirche damit umgehen soll. Wie kann die Kirche die knappe Ressource Aufmerksamkeit nutzen? Zwei Vorschläge habe ich eingangs vorgestellt, ich nenne sie einfach einmal die Whoopie-Goldberg-Alternativen:

Man kann auf das vertraute Erscheinungsbild der Kirche setzen, weil zwanzig oder dreißig Jahre kulturelle Nivellierung eine fast zweitausendjährige Institution nicht gefährden können. Zwar werden einige oder sogar viele Menschen die Gottesdienste nicht mehr besuchen und sich von der Kirche abwenden, sie als langweilig und erstarrt beschreiben, aber das ist nur ein Klärungsprozess, der das Erscheinungsbild der Kirche von jenen reinigt, die schon lange innerlich nicht mehr dazu gehören. Dieses Angebot der Kirche setzt auf das Einverständnis mit ihren treuesten Mitgliedern, auf die Kerngemeinde, auf ältere Menschen und solche, die im Sozialfeld Kirche aufgewachsen sind und hier ihre Heimat gefunden haben. Zusammenfassen lässt sich die Haltung vielleicht mit dem bekannten Wort: Keine Experimente!

Man kann versuchen, radikal das Steuer herumzuwerfen und etwas vom Geist der Zeit, von der Lebendigkeit und der Fülle der Lebenswelt, vom Geschehen rund um die Mauern der Kirche hereinholen. Man kann sich bemühen, der Verkündigung und dem Gemeindeleben ein neues Kleid zu geben und der frohen Botschaft mehr Pepp. Die Modernisierung kann auch in der Hinwendung zur modernen Kunst bestehen oder im betonten gesellschaftspolitischen Engagement. Dieses Angebot zielt auf die Kirchenferneren, die sozial Engagierten unter den Gemeindegliedern, die ganz jungen Menschen mit ihrem Bedürfnis nach unkonventionellen Lösungen. Das Motto könnte lauten: wir brauchen einen Magneten (in Form von Kunst, Action, Veranstaltungen etc.), um die Menschen in die Kirche zu ziehen.

Einen Mittelweg hat vor einigen Jahren Hans-Jürgen Benedict, Pastor in Hamburg und damit mitten im Zentrum eines kirchendistanzierten Publikums, vorgestellt. Er nannte seine Überlegungen: Die Gemeinde Jesu Christi als kultureller Verein? Beobachtungen zu einer neuen Funktion der Ortsgemeinde im Zeitalter massenmedialer Unterhaltung. Darin macht er einsichtig, dass die Gemeinde Jesu Christi ... zwangsläufig ein kultureller Verein sein muß oder eine kulturell aktive Gemeinde, wenn sie Gemeinde Jesu Christi sein will. Dazu verweist er auf die real stattfindenden kulturellen Aktivitäten der Kirchengemeinde. Das beginnt schon mit dem Gottesdienst.

Denn in dem Gottesdienst wird Sonntag für Sonntag ein altes Stück aufgeführt, ein Drama, das aus der Antike stammt, im Mittelalter und in der Reformation einige Veränderungen durchlaufen hat, dann noch mal im 19. Jahrhundert und erheblich nach 1945, aber es wird als dieses von seinen Ursprüngen her bestimmtes und geformtes Stück, ja man könnte sogar sagen Kunstwerk, stets noch aufgeführt ... Ich kann mich natürlich entscheiden, die von der Landesintendanz einmal festgelegte Aufführungsform zu spielen, das antike Stück als geschlossenes liturgisches Heilsdrama unkommentiert und unverändert abrollen zu lassen. Aber: das ist mir selbst als Inszenator und Hauptdarsteller zu wenig. Auch fordert die aktuelle Situation oft eine konkrete Zuspitzung des antiken Stücks. Und schließlich spielen die Publikumsbedürfnisse eine wichtige Rolle. Die Zahl derjenigen, die es in der von der Landesintendanz festgelegten Form sehen wollen, schrumpft ständig. Neue Besuchergruppen müssen erst mit dem antiken Drama bekannt gemacht und zu häufigerem Aufführungsbesuch gereizt werden. Und so entsteht ein ortsnahes religiöses 'Theater', manchmal mit dem Vorschein von Glück und Sinn und einem Engel, der durch den Raum geht.

Weitere Bereiche kultureller Arbeit, auf die Hans-Jürgen Benedict hinweist, ist die kirchliche Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Konfirmanden, die Inszenierungen hoher Festtage, das Gemeindehaus als Ort kultureller Veranstaltungen bis hin zu den neuen kulturellen Aktivitäten wie Film-Clubs und Ausstellungen mit bildender Kunst. Benedikt summiert: Indem das antike Drama neu gespielt, dargestellt, gesungen, getanzt, gemalt, getöpfert wird, wird die Gemeinde zum Träger kultureller Arbeit. Die kulturelle Arbeit bleibt aber nach Auffassung von Hans-Jürgen Benedict an ein Stück gebunden, das mit Lebenssinn und mit Gott als dem Grund der Welt zu tun hat.

Wer an dieser Stelle meint, die Beschreibung der normalen Gemeindeaktivitäten als Ausdruck kultureller Arbeit sei doch etwas zu hoch gegriffen, der sei auf die Reuchlin-Preisrede des renommierten Germanisten Albrecht Schöne verwiesen. Schöne befasst sich darin mit der für das Verständnis unserer Kultur unentbehrlichen Kenntnis der biblischen Schriften. Diejenige Bibelkenntnis, welche in zahllosen Fällen eine unerlässliche Voraussetzung dafür bildet, dass man die uns überkommenen Kunstwerke, Bilder wie Texte, ohne lästige gelehrte Hilfestellungen, vielmehr aus spontanem eigenen Vermögen und also mit der Freude eigenen Entdeckens begreift, besitzen heutige Betrachter und Leser, gar schon die jüngeren unter ihnen, nicht mehr. Und das gilt, nebenbei bemerkt, nicht nur für Werke der Hochkultur wie Goethes Faust, sondern auch bereits für manche Inszenierungen der Populärkultur wie etwa Video-Clips aus der aktuellen Pop-Szene (z.B. Madonnas »Like a prayer«).

Wir brauchen demnach nicht neue Stücke, sondern neue Inszenierungen des klassischen Stücks, das dessen Gehalt in der Gegenwart zur Geltung und zum Ausdruck bringt. Der Mittelweg, den Hans-Jürgen Benedict vorschlägt, besteht demnach darin, sich auf die substantiellen kulturellen Gehalte des Christentums zu besinnen und diese im Blick auf und unter Wahr-Nehmung der konkreten Situation der Menschen zuzuspitzen, sie in immer neuer Inszenierung wieder und wieder aktuell und aktualisiert in Erinnerung zu bringen. Diese Re-Inszenierung wäre dann der kulturelle Beitrag der Kirche zur Welt.

... und ihre (ästhetische) Kritik

These 6: Kunst ist das Endresultat von Versuchen, qualifizierte Gegenwart herzustellen. Qualifizierte Gegenwart ist ein Konstrukt von Erfahrungen. Sie ist das Endresultat eines komplizierten Prozesses von Wahrnehmungen: des Selbst, der Gesellschaft, von Allgemeinem und Besonderem. Die Hereinnahme von Kunst in den kirchlichen Raum, sei es in dramatischer, körperlicher, bewegter oder bewegender Form kann ein Beitrag zur 'Gegenwärtigkeit' des Christentums sein. Die Kunst wird jedoch ästhetisch wie religiös missbraucht, wenn sie nur ein Sinnenkitzel für religiös Interessierte oder ästhetisch Ambitionierte ist. Die Öffnung zur säkularen Kultur ist darüber hinaus eine notwendige, d.h. die Sinnen-Not der Gemeinde wendende Form der Gewinnung von Geistes-Gegenwart und deshalb im Prozeß lebendiger, spiritueller, leibhafter (Selbst-) Werdung der Gemeinde und des einzelnen religiösen Subjekts, sofern sie an ihrer Selbst-Werdung Interesse haben, unverzichtbar.

Ich möchte die verschiedenen Vorschläge noch einmal kritisch durchgehen. Die beiden erstgenannten sog. Whoopie-Goldberg-Alternativen überzeugen mich nicht und zwar aus Gründen der Ästhetik. Sie überzeugen nicht, weil sie einerseits einem falschen Bild von Kirche anhängen, und weil sie andererseits den Ausdruck von der Sache, die Form vom Inhalt trennen.

Beim ersten Vorschlag wird so getan, als lenke die Diskussion um das Erscheinungsbild der Kirche von ihrem Inhalt, von der Verkündigung des Evangeliums ab, als sei die Ästhetik der Kirche gleichgültig, als gehe es unbeschadet vom Ausdruck allein um die Sache, als bedürfe die Verkündigung nicht einer bestimmten reflektierten Gestalt. Nur der Inhalt zählt, diesem will man treu bleiben und ihn vor allen modischen Avancen und Verpackungen bewahren. In Wirklichkeit wird jedoch ein bestimmter historischer Ausdruck, ein bestimmtes historisches Erscheinungsbild festgeschrieben. Dieses in den Köpfen bewahrte Bild der Kirche soll für immer gelten.

Beim zweiten Vorschlag wird zwar das Erscheinungsbild hervorgehoben, aber der Ausdruck wird der Sache vorangestellt, der Inhalt der Botschaft bleibt sekundär gegenüber der Gestalt. In Wirklichkeit droht der Inhalt dabei jedoch beliebig zu werden, das Bild der Kirche, das gepflegt wird, orientiert sich an ihrer Wirkung. Wie ein schlechter Künstler schielt man auf den Markt und schaut, was denn gerade geht und was nicht. Man reflektiert also nicht die Gestalt der Kirche und der Verkündigung als Ausdruck einer Sache, sondern reflektiert nur noch Vermittlungsformen. Die Kirche bleibt so immer einen Schritt hinter der jeweils avanciertesten Form zurück.

Nicht erst heute sind Ausdruck und Inhalt so miteinander verbunden, dass sie nicht von einander gelöst werden können. Diese Einsicht gilt bereits für die Predigt Jesu. So ist die Form des Gleichnisses für die Verkündigung weder zufällig noch willkürlich (als ob Jesus genauso gut auch in dogmatischen Sätzen hätte reden können, wie es der erste Vorschlag der Whoopie-Goldberg-Alternativen nahe legen würde), noch ist das Gleichnis ein rhetorisches Mittel (dessen Jesus sich nur bedient hätte, um seine Zuhörer leichter zu überzeugen, wie dies der zweite Vorschlag suggerieren würde). Das Reich Gottes ist weder eine »Friss, Vogel, oder stirb«-Angelegenheit, noch eine, die werbetaktischer Vermittlung bedürfte. Ästhetik, als Einladung zum Zuhören und zur Auseinandersetzung ist vielmehr untrennbar mit dem Inhalt christlicher Botschaft verbunden. Ohne Ästhetik, ohne Reflexion der sinnlichen Gestalt, ist das Evangelium nicht zu haben, ohne das qualifizierende Moment, ohne die Kraft, »Wirklichkeit neu zu beschreiben« (Paul Ricoeur), ohne den Richtungssinn auf die durch Christus eröffnete unbedingte Möglichkeit ist Verkündigung unterbestimmt.

So könnte also die Kirche bei der (zeitgenössischen) Ästhetik und Kunst in die Schule gehen. Hier könnte sie lernen, nicht, wie sie sich zu präsentieren hat, sondern, wie gute Kunst entsteht. Nicht auf die Inhalte allein kommt es in der Kunst an und auch nicht darauf, der jeweils neuesten Kunstbewegung nachzueifern. Vielmehr ist es die Aufgabe und das Können jedes guten Künstlers, seinem künstlerischen Anliegen einen eigenständigen, originellen und originalen Ausdruck zu geben, die Kette der künstlerischen Problemlösungsversuche der Kunstgeschichte weiterzuknüpfen. Aufgabe der Kirche, der Gemeinden, der Pfarrer und Pfarrerinnen ist es, wie ein guter Künstler den jeweils geistesgegenwärtigen Ausdruck des Evangeliums zu finden. Dazu können sie auf Anregungen, Erfahrungen, Problemlösungen, Gedanken, Hoffnungen, Phantasien zurückgreifen, die extra muros ecclesiae, vor den Türen der Kirche vorhanden sind und auch weiterhin entwickelt werden. In einer immer differenzierter arbeitenden Gesellschaft ist es völlig utopisch zu glauben, die Gemeinde könnte alle Formen zeitgenössischen Lebens aus sich selbst heraus entwickeln. Vielmehr ist sie dazu konstitutiv auf ihre Umwelt, auf »die Welt« angewiesen. In diesem Sinne hat Klaus Röhring geschrieben: Wenn eine Tür sich öffnet, fällt Licht von draußen herein: Wärme, der Zauber eines sonnigen Tages, Nachricht vom Leben draußen ... Mit Kunst und Kultur könnte es so sein für den oft allzu grauen Raum der Kirche. Türen öffnen, dass auch von daher erhellendes Licht hereinkommt - als eine andere Wirklichkeit, als ein Lächeln jedenfalls ... Also warum nicht am Sonntag auch ins Museum oder Kunst in die Kirche? Der letzte Satz dieses Zitats verweist auf die zwei Richtungen, in der Türen genutzt werden können.

Zum einen können die Türen geöffnet werden für die Welt in der Kirche, geöffnet werden zum Eintritt z.B. der Kunst, der Musik, der Literatur, des Theaters, des Tanzes usw. in die Räume der Kirche. Die Künste der Gegenwart sind Gäste, die noch zu selten Aufnahme und Herberge in den Kirchen finden. Dabei ist der Beitrag der Künste zur Gestaltung, aber auch zur Irritation des herrschenden Vollzuges der Gestaltung des Gottesdienstes lehrreich und gewinnbringend. So verstehe ich den Satzteil Warum nicht am Sonntag Kunst in die Kirche?

Zum anderen aber können die Türen geöffnet sein, damit die Gemeinde und die einzelnen Gläubigen selbst in die Welt hinausgehen, um die aktuellen Entwicklungen z.B. in der Kunst, in der Musik, in der Literatur, im Theater, beim Tanz wahrzunehmen und als qualifizierte Bemühung um Gegenwart, um Geistesgegenwart aufzunehmen. So interpretiere ich den Satzteil Warum nicht am Sonntag auch ins Museum? Allerdings ist das »auch« in diesem Satz wichtig, denn die Begegnung mit den Künsten ist kein Substitut für den Gottesdienst, die religiöse Erfahrung ist durch die ästhetische Erfahrung nicht zu ersetzen. Aber es gibt keine authentische religiöse Erfahrung ohne qualifizierte ästhetische Gestalt und es ist eine Crux der Kirche und der Gemeinden, dass sie sich zu selten um eine qualifizierte ästhetische Gestalt ihres Zusammenlebens mühen. Hier ersetzt der gute Wille die Anstrengung ästhetischer Erfahrungsarbeit. Deshalb gilt es, die Erfahrungen, die wir vor den Türen der Kirche in der Welt machen, qualifiziert zurückzubinden an den Ausdruck, den wir dem Evangelium in der Gegenwart geben.

Ich plädiere daher für das Modell des Mittelweges zwischen der Fortschreibung des status quo kirchlicher Selbstgettoisierung einerseits und der kulturellen Anpassung der Kirche an den Zeitgeist andererseits. Freilich bedarf dieses eben skizzierte Modell einer gewissen Konturierung. Ist die Gemeinde Jesu Christi notwendig eine kulturell aktive Gemeinde, so müsste dazu der Begriff der Kultur kritisch gefasst werden. Nicht alles, was in den Gemeinden geschieht, ist auch schon ein kultureller Beitrag der Gemeinde zur Gewinnung von Geistesgegenwart. Ganz im Gegenteil. Es wäre schon viel gewonnen, wie der Theologe Dietrich Neuhaus kürzlich in diesem Kontext formulierte, wenn es den Gemeinden gelänge, Zeiten und Räume so zu gestalten, dass Gottes Ankunft in der Gegenwart zumindest nicht systematisch verhindert wird. Davon kann zur Zeit nicht ausgegangen werden. Und wenn denn Gott ein Gott der Gegenwart ist, dann ist es eine allererste Aufgabe der Gemeinden, sich am Diskurs um die Gewinnung qualifizierter Gegenwart zu beteiligen. Weder die Wiederholung dessen, was kulturell in der Welt geschieht, noch die Ignoranz gegenüber dem, was in der Kultur geschieht, hilft da weiter. Eine bekannte Fernsehkritikerin hat vor kurzem moniert, kirchliche Sendungen seien entweder Wiederholungen dessen, was man auch so als vernünftiger Mensch ohne jegliche christliche Zutat sagen würde oder sie würden eine penetrant christlich-weltanschauliche Maske vor sich her tragen. Genau dies beides gilt es auch im Blick auf das kulturelle Angebot der Kirchen im Spannungsfeld kultureller Anbieter zu beachten. Weder das zu sagen und zu tun, was alle sagen oder tun, noch das Christentum zu einer bloßen Haltung oder gar zu einem Kulturgut der abendländischen Tradition verkommen zu lassen.

Das alles löst noch nicht das Problem der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die sich an Paradigmen wie Spaß, Action, Genuss oder Freizeit orientiert, die also durch das Stichwort »Erlebnisgesellschaft« charakterisiert ist. Freilich kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch das Christentum irgendwann einmal nicht nur mit einem Kruzifix als Signum der christlich-abendländischen Kulturgesellschaft oder mit Brot für die Welt als institutionalisiertem Appell an unser Gewissen identifiziert wird. Beides - die Reduktion des Christentums auf einen kulturgeschichtlichen Ausdruck wie auch seine Reduktion auf Ethik - sind eklatante Verkürzungen christlichen Lebens.

Ist Erfahrung das Stichwort der Zeit, so muß die Gemeinde Erfahrungsräume eröffnen, d.h. die Gemeindeglieder müssen hier ebenso religiöse, ästhetische, kulturelle Erfahrungen machen können wie ihre eigenen außerhalb der Kirche gemachten religiösen, ästhetischen, kulturellen Erfahrungen einbringen können. Wenn das Christentum eine qualifizierte ästhetische Gestalt, wenn es Geistesgegenwart gewinnt, dann wird es auch zur (nicht mehr negativ bewerteten) Erlebniskirche, dann kann es auch durchaus mit den Paradigmen Spaß, Action, Genuss in Verbindung gebracht werden. Die Öffnung zur säkularen Kultur ist eine notwendige, d.h. die Sinnen-Not der Gemeinde wendende Form der Gewinnung von Geistes-Gegenwart. Sie ist im Prozeß lebendiger, spiritueller, leibhafter Selbst-Werdung der Gemeinde und des einzelnen religiösen Subjekts unverzichtbar, insofern diese aus religiösen Gründen an ihrer Selbst-Werdung ein vitales Interesse haben (müssen).

Zitierte Literatur

  • Barth, Karl Kirchliche Dogmatik IV, 3, § 72, Zürich 1989.
  • Benedict, Hans-Jürgen "Die Gemeinde Christi als kultureller Verein?" Pastoraltheologie 77, 1988. S.394-405.
  • Horkheimer/Adorno Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt 1969
  • Luther, Henning Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart 1992.
  • Natrup, Susanne »The Museum is not a Museum of Art« - Religiöse Erfahrungen an einem ungewöhnlichen Ort. Ms. Fulda 1995.
  • Neuhaus, Dietrich Thesenpapier »Zur Bedeutung des Zusammenhangs von Theologie/Kirche und Kunst/Ästhetik, Frankfurt 1995.
  • Schöne, Albrecht Können wir noch lesen? DIE ZEIT Nr. 34, 18. August 1995, S. 36.
  • Schulze, Gerhard Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York 3/1993.
  • Zeindler, Matthias Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit, Göttingen 1993.

© Andreas Mertin