Blickpunkt Mensch

Ecce homo - Vom Christusbild zum Menschenbild

von Andreas Mertin

aus: "forum religion" Heft 3/88, S. 2-15

Hieronymus Bosch (1450-1516) Ecce homo (Schaustellung Christi vor dem Volk)
1480/85, Öl auf Holz, 75x61cm, Frankfurt/Main, Städel

Das Bild zeigt den dornengekrönten Christus, präsentiert von Pontius Pilatus und seinem Gefolge, vor der erregten Volksmasse. Jesus trägt einen blauen Mantel, der von zwei Leuten aus dem Gefolge des Pilatus auseinandergezogen wird, so dass nun die Spuren seiner Geißelung sichtbar sind. Jesus wird zum Prototyp des dem öffentlichen Spott preisgegebenen Menschen. Er trägt einen Schurz, die überkreuz gebundenen Hände verbergen seine Scham. Hinter Jesus steht Pilatus, erkennbar durch die Inschrift "Ecce homo" (die hier dieselbe Funktion hat wie die Schriftblasen heutiger Comic-Strips). Dieser Gruppe gegenübergestellt ist die Masse des Volkes. Ihnen ist die Inschrift "Crucifige eum" - "Kreuzigt ihn" beigegeben. In der linken unteren Ecke waren ursprünglich noch zwei Stifterfiguren platziert, die baten "Salve nos Christe redemptor" - "Errette und Christus, Erlöser". Hintergrund und Ausstattung der Figuren platzieren das Geschehen in einen orientalischen Raum. Von einem Stadtturm weht eine rote Fahne mit Halbmond, Anspielung auf das Vordringen des türkischen Reiches. Unauffällig im Bilde untergebracht sind Symbole, die die Bösartigkeit des Geschehens verdeutlichen sollen: so die Eule im Hause des Pilatus und die Riesenkröte auf dem Schild eines Soldaten im Volk.

M "Das Bild werde ich nie vergessen. In einem Blitzlichtgewitter von Fotografenscheinwerfern wird eine junge Frau hereingetragen, von der man zunächst nur die dünnen Beine unter einem hochrutschenden Rock sieht. Darüber eine schmale Gestalt mit merkwürdig verschränkten Armen, hereingezerrt und umrahmt von vielen Polizeibeamten. Den Kopf gesenkt, mit strähnig herunterfallenden dunklen Haaren. Von hinten greift einer in Uniform in diese Haare und reißt den Kopf hoch. Eine Trophäe, eine Fleischschau nach siegreicher Jagd. Obwohl das Gesicht jetzt zu sehen ist, ist nichts zu sehen, denn die Augen sind geschlossen. Die junge Frau war Margit Schiller, Randfigur der Roten Armee Fraktion, die so nach ihrer Verhaftung der Presse vorgeführt wurde." Antje Vollmer, "Die Würde des Menschen ist antastbar" in: Seht, welch ein Mensch!, a.a.O., S. 91-94, hier S. 91f.

Da das Bild eine Fülle identifizierbarer Details bietet, sollten diese zunächst von den SchülerInnen beschrieben und notiert werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Beschreibung und Wissen zunächst getrennt werden. Dass die Figur im blauen Mantel Christus ist, sieht man nicht, man weiß es. Dann sollte die Beschreibung mit dem Geschehen, wie es in den synoptischen Evangelien und vor allem bei Johannes überliefert ist, verglichen werden. Was entspricht der biblischen Überlieferung, was nicht? Was ist der Kern des Bildes? Wie wird Christus hier zur Schau gestellt? Wie fühlt man sich, wenn man so an den Pranger gestellt wird? Diese Situation des Ausgeliefertseins, des 'an den Pranger gestellt'-Werdens dürfte vielen auch persönlich bekannt sein. Ein aktuelles Beispiel zum Umgang mit Feindbildern schildert der Materialtext von Antje Vollmer. Auch bei Hieronymus Bosch geht es um Feindbilder. Das verdeutlicht die Frage nach den Details, die der Künstler von sich aus dem Geschehen hinzugefügt hat - türkische Reichsfahne, orientalische Trachten: Schuld an dem Leiden der Christen sind die Türken. (Dazu wird es unter Umständen nötig sein, Informationen zur Zeitgeschichte um 1500 zu geben, also etwa zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453.)


Hans Holbein d.Ä. (1465-1524) Altar der Frankfurter Dominikanerkirche (Detail)
1500,Frankfurt/Main, Städel

Das Ecce-homo-Bild des Hans Holbein d.Ä. ist Teil eines größeren Passionsaltars. Dem ganzen Altar ist seine judenfeindliche Tendenz anzumerken. In der Abendsmahls-Szene sitzt 'der Jude' Judas mit verwüstetem roten Gesicht, mit zerwühltem Haar, im roten Gewand des Verräters am Tisch - in der Hand den obligaten Geldbeutel, der im 16. Jahrhundert mit 'dem Wucher der Juden' assoziiert wurde. Ähnlich charakterisiert ist Judas in der Verrats-Szene, diesmal in das grelle Gelb der Ausgestoßenen, der Aussätzigen, der Ketzer, der Verräter gekleidet. Die Ecce-homo-Szene gestaltet Holbein als personenreiches Volkstribunal. Das Bild ist genau in der Mitte durch die Lanze eines Kriegers geteilt. Auf der einen Seite stehen der gegeißelte und gedemütigte Christus, der mitleidige Pilatus und seine Schergen, ihnen gegenüber das 'Volk der Juden', aufgeregt gestikulierend und dennoch vom kalten Tötungswillen bestimmt. Der angebliche Volkswille, das "Kreuzige ihn!", fließt von der Kreuzigungsgeste in ein pseudohebräisches Manuskript und in die obszöne Verspottungsgeste eines kleinen Jungen: 'die Juden' wollen den Tod des Gottessohnes, den sie verachten und schmähen, und - nach einer weitverbreitete Meinung um 1500 - sie beschimpfen und schmähen ihn noch immer, und mit ihm die Christen.

M Melito von Sardes: "Hört es, alle Geschlechter der Völker, und seht es: Ein nie da gewesener Mord geschah in Jerusalem, in der Stadt des Gesetzes, in der hebräischen Stadt, in der Stadt der Propheten, in der Stadt, die als gerecht angesehen wurde! Der, welcher die Erde aufgehängt hat, ist selbst aufgehängt worden der, der die Himmel anheftete, ist angeheftet worden der, der das All festgemacht hat, ist am Holz festgemacht worden! Gott ist getötet, der König Israels ist durch Israels Rechte beseitigt worden!" Johannes Chrysostomus: "Wenn ihr euch schämt, den Grund zu sagen, so will ich ihn euch nennen, vielmehr nicht ich, sondern die objektive Wahrheit. Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr gegen den Herrn die Hand erhoben habt, weil ihr sein kostbares Blut vergossen habt, deshalb gibt es für euch keine Besserung mehr, keine Verzeihung und auch keine Entschuldigung. Denn damals ging der Angriff auf Knechte, auf Mose, Jesaja und Jeremia. Wenn auch damals gottlos gehandelt wurde, so war das, was verübt wurde, noch kein todeswürdiges. Nun aber habt ihr alle alten Untaten in den Schatten gestellt durch die Raserei gegen Christus. Deshalb werdet ihr auch jetzt mehr gestraft. Denn, wenn dies nicht die Ursache eurer gegenwärtigen Ehrlosigkeit ist, weshalb hat euch Gott damals ertragen, als ihr Kindesmord begangen habt, wohingegen er sich jetzt, da ihr nichts derartiges verübt, von euch abwendet? Also ist klar, dass ihr mit dem Mord an Christus ein viel schlimmeres und größeres Verbrechen begangen habt als Kindesmord und jegliche Gesetzesübertretung."

Was für die Christen im Mittelalter aufgrund ihrer vielfach beeinflussten Alltagswelt eine 'selbstverständliche' Bilderfahrung darstellt, die Agitation gegen die Juden, die These von ihrer Schuld am Tode Christi, das Judasbild als Typus für 'den Juden', die Exkulpation des Pilatus und der römischen Schergen, ist den SchülerInnen allenfalls unterschwellig im Bewußtsein und muß von ihnen bewusst als Teil der Bildaussage rekonstruiert werden. Zunächst wird daher zu klären sein, wie das Altarbild Holbeins heute erfahren wird. In einem zweiten Schritt sollte überprüft werden, wie sich die Wahrnehmung verändert, wenn man zum Bild Informationen über das Leben und Leiden der Juden im Mittelalter erhält. Im dritten Schritt sollte die Aufmerksamkeit der Bildkonstruktion durch Holbein zugewendet werden. Welche bewusst eingesetzten Bildelemente sollen einer Agitation gegen das Judentum Vorschub leisten? Wie hat Hans Holbein die neutestamentlichen Texte umgesetzt? Wieso konnten die zugrundeliegenden Texte (Joh 18, 28 - 19, 16a Mt 27, 1.2.11-31 Mk 15, 1-20 Lk 23, 1-5.13-25) für antijudaistische Agitation miss- bzw. gebraucht werden? Oder ist in den neutestamentlichen Texten bereits eine antijudaistische Tendenz enthalten?


Elvira Bach (* 1951) We don't need no troubles, what we need is love 1986,Acryl/Lwd., 120x100cm, Raab-Galerie, Berlin

Wie hier, so stehen in den meisten Bildern von Elvira Bach selbstbewusst wirkende Frauen mit kantigen Körperformen im Zentrum. Mit beiden Händen hat sie ein Kind empor gerissen als wolle sie es vor einer Gefahr schützen. In der rechten Hand hält sie ein Messer. Ihr Körper glüht in einem tiefen Rot, gegen das das Giftgrün ihre Gesichts scharf absticht. Ihre Körperhaltung drückt Aggressivität und Bereitschaft zur Verteidigung aus. In ihrem Gesicht lässt sich keine Angst, sondern nur Wut und die Entschlossenheit erkennen, ihr Kind zu verteidigen, auch wenn sie dazu das Messer benutzen muß. Das Kind hebt sich in "kostbaren" Gold- und Gelbtönen vom dunklen Hintergrund ab. Seine Körperformen wirken weich und harmonisch. Hilflos hängt es in der Luft, ein Bein und ein Arm rudern ins Leere. Seine Gesichtszüge wirken ungeformt und unfertig. Es scheint noch nicht zu verstehen, was mit ihm und um es herum vorgeht. Alles spielt sich in dunklem, undurchsichtigem Wasser ab. Das grünliche, schlammig wirkende Wasser und der wie von Flammen erhellte Hintergrund scheinen auf die Gefahr hinzuweisen, in der sich das Kind befindet und gegen die es verteidigt werden soll. Der Titel weist auf die Intention des Bildes hin: We don't need no troubles, what we need is love

M Die Legende von Christopherus: Reprobus war ein Kanaaniter von riesigem Wuchs und furchtbaren Gesichtszügen. Er suchte nach dem mächtigsten König der Welt, um ihm allein zu dienen. Erst kam er zu einem König, von dem man sagte, er sei der Größte dieser Welt, und diente ihm. Als einmal ein Spielmann ein Lied sang, in dem der Teufel vorkam, bekreuzigte sich der König, und Reprobus merkte, dass der König vor einem Mächtigeren Angst hatte. Sogleich machte sich Reprobus auf die Suche nach dem Teufel und fand ihn in Gestalt eines wilden, furchterregenden Ritters. Er diente ihm, bis sie auf ihrem Weg an einem Kreuz vorbeikamen und der Teufel fluchtartig die Straße verlies. Von einem alten, frommen Einsiedler hörte Reprobus endlich von der Macht Christi. Da er weder zu fasten, noch zu beten verstand, schickte ihn der Einsiedler an einen reißenden Fluss, damit er die Leute ans andere Ufer bringe. So sollte der starke Riese, indem er jedem diente, Christus dienen. Er baute sich am Ufer eine Hütte, nahm sich einen starken Stab und trug die Reisenden durch den Fluss. Einmal wurde Reprobus von einem Kind gerufen. Er nahm es auf seine Schulter und ging durchs Wasser. Doch das Kind wurde ihm so schwer, als trüge er die ganze Welt das Wasser stieg immer höher, so dass er schon fürchtete zu ertrinken. In Wirklichkeit hatte er Christus selbst getragen. Zum Zeichen dafür blühte und grünte am nächsten Morgen sein Stab wie eine Dattelpalme. Er hieß von da an 'Christopherus', d.h. 'Christusträger'.

Die erste Frage gegenüber diesem Bild könnte lauten: Um welche Geschichte handelt es sich dabei eigentlich? Zwei Möglichkeiten der Beerbung könnten den SchülerInnen spontan einfallen. Da ist zum einen die Assoziation an die Geburtsszene Christi, den Jubel der Maria über ihr Kind, das sie jedoch bald gegen eine feindlich gesonnene Umwelt verteidigen und schützen muß. Für diese Assoziation spricht die formale Analogie zu Emil Noldes Darstellung der Geburtsszene (vgl. Abb. 6). In diesem Falle wird man die Flucht nach Ägypten und den Kindermord in Bethlehem in die Erörterung miteinbeziehen müssen. Die Aussage des Bildes wäre dann die schon bei der Geburt einsetzende Gefährdung Jesu. Es ist aber auch die Assoziation mit der Christopherus-Legende möglich (vgl. Materialtext). Diese Deutung wird unterstützt durch das dunkle Wasser, in dem Frau und Kind sich befinden. Doch ist gegenüber der Heiligen-Erzählung vom Christopherus die Szene eigentümlich verändert. Während sich in der Christopherus-Legende alles um die Macht und Stärke Christi dreht, wird in der Arbeit von Elvira Bach auch die Abhängigkeit Jesu betont: die vorgestellte 'Christophera' (deren Name mit Blick auf Maria eine zusätzliche Bedeutung erhält: "die Christus trug") leistet einen eigenen aktiven Beitrag zu seinem Leben.


Jürgen Brodwolf (* 1932) Tombeau II
1984, Holz, Pappe, Gaze, Kreideschlämme, Teer, 150x100x200cm

Das "Tombeau II" bilden fünf Figuren auf einer Holzplatte, vier stehende und eine liegende. Die 'Blicke' der vier richten sich in meditativer Konzentration auf die in der Mitte liegende. Nicht allein der Titel (Tombeau = Grab, Grabmal, Grabhügel) beschwört eine Situation des Sterbens, des Todes, der Beerdigung, auch ikonographisch ist man an die Grablegung Christi erinnert. Das Ensemble vermittelt zunächst ein Gefühl äußerster Trauer und ungestillter Trostbedürftigkeit. Es ist eine Momentaufnahme des Abschiednehmens, vielleicht auch ein aufblitzendes Bild der Erinnerung: an Szenen der eigenen Biographie, an die Vergänglichkeit alles Irdischen, an vergangenes Leid. Es ist eine neuzeitliche Form des 'memento mori'. Aber der Tod hat nicht das letzte Wort. Es fällt auf, dass die Lebenden von dem Toten nur durch ihre Haltung unterscheidbar sind. Man fragt sich, ob die Lebenden den Toten so ähnlich sind. Aber gerade durch ihre Nicht-Unterscheidbarkeit 'schreien' die Figuren ihre Frage nach der Menschlichkeit heraus, ihr Ecce homo ist mit einem Fragezeichen versehen. Wo aber noch in Frage gestellt und geschrieen wird, hat der Tod noch nicht gesiegt. Erst die verblassende Erinnerung an einen Gestorbenen, ein Leiden, eine Qual der Vergangenheit überlässt dem Tod den Sieg.

M "Als ich die antiken Schriftsteller las, die wie z.B. Tacitus oder Plinius als erste über das entstehende Christentum berichten, war ich beeindruckt davon, wie viel aus ihren Sätzen über die Macht des Auferstehungsgeschehens erkennbar wird. Tacitus beschreibt, dass Jesus von Pontius Pilatus hingerichtet wurde, dass sich aber nach seinem Tode die Anhängerschaft nur noch schneller ausbreitete. Man merkt ihm das Erstaunen an, dass der Kreuzestod eine nicht erwartete Wirkung hatte, gerade die Ausbreitung der Jesusbewegung beschleunigte, was Pilatus bestimmt nicht beabsichtigt hatte. Das ist die Außenansicht der Auferstehung Jesu. Für die Innenansicht finde ich es wichtig zu sehen, dass der Glaube der Anhängerinnen und Anhänger Jesu an die Lebendigkeit Jesu nach seinem Tode für sie zugleich ein Auftrag war: Jesus lebt, darum gehen wir weiter auf dem Weg, den er begonnen hat, den Weg ins wahre Leben der ganzen Schöpfung. Weniger wichtig finde ich, wie Glaubende in ihrer Zeit sich jeweils Auferstehung vorstellen. Ich möchte mich und andere nicht zwingen, biologische Mirakel zu 'glauben', ich möchte vielmehr erfahren und ausdrücken, dass der damals gekreuzigte Mensch Jesus bei mir ist als Lebendiger, der mich schützt und stärkt und auf den Weg schickt." Luise Schottroff, "Der gekreuzigte Mensch Jesus aus Galiläa" in: Seht, welch ein Mensch! Hg. von Raul Niemann. Gütersloh, 1987. S. 28-35, hier S. 33.

Auch der Tod gehört zum Leben. Das wird oft verdrängt. Brodwolfs Arbeit macht in einen spezifischen Sinn darauf aufmerksam. So wie die Arbeit aus einer autobiografischen Erinnerung entstanden ist, vermag sie vielleicht auch bei den SchülerInnen persönliche Erinnerungen und Assoziationen auszulösen. Diese sollten - sofern über sie gesprochen werden kann, sofern sie also nicht zu privat sind - besprochen werden. Mögliche Stichworte wären: Verlust nahestehender Personen, Trauerarbeit, Erinnerung an Verstorbene. Dabei ist es sinnvoll, schon hier zwischen der Außensicht und der Innensicht des Geschehens zu differenzieren. Was empfindet man als Unbeteiligter, was als Betroffener? Mit dem Tod, soviel wird schnell klar, kann ganz unterschiedlich umgegangen werden. Die Frage: Wie geht es jetzt weiter?, die sich in der dargestellten Situation stellt, wird von Luise Schottroff am Beispiel Jesu konkretisiert. Das "Ecce homo" ist nur ein Schritt in der Passion Christi. Der Material-Text erörtert, wie es weitergegangen ist nach dem Tode Jesu, wie es dazu kam, dass der Tod nicht das letzte Wort behalten hat. Text und Bild sollten zueinander in Beziehung gesetzt werden als eine mögliche (narrative) Realisation des im Kunstwerk Dargestellten.


Rainer Fetting (* 1949) West-Nacht
1984, Öl/Lwd., 274,3x640 cm, Raab Galerie Berlin

Kräftige Farben, starke Farbkontraste, viel Bewegung: Rainer Fettings Bild 'West-Nacht' versammelt eine Gruppe nackter Gestalten um ein Lagerfeuer, das das Dunkel der Nacht erleuchtet. Die Figuren drängen sich zum Feuer, eine fliegt wie Ikarus zur Sonne aus dem Dunkelblau der Nacht zu den lodernden rotgelben Flammen. Eine andere sägt an einem Stück Treibgut, einer Holzplanke, um sie für das Feuer zu verwenden. Das Leben in den Städten, einst Gegenstand der Malerei der Expressionisten, aber auch berühmter Romane und subtiler Essays ist in den letzten Jahren verstärkt zum Thema der Kunst geworden. In den Werken der Berliner "Jungen Wilden" schwingt dieses Motiv immer mit, mal als Reflexion über die erdrückende Anonymität, mal als ekstatische Feier subkulturellen Lebens, in der Regel als Beschreibung des Seelenlebens der Städte. Auch Rainer Fetting arrangiert die "Stadt als Landschaft", in seinen Bilder tobt der "Großstadt-Expressionismus". Seine Bild ist ein gemalter Traum der Großstadt Berlin-West, ein Traum vom Sein des Menschen in den Städten, vom Menschsein zwischen Ikarus, Prometheus und Christus. Im Meer der Städte kann der einzelne zum Strandgut werden, sein Schicksal zum Treibholz, sein Leben scheitern. Die "West-Nacht" legt davon Zeugnis ab.

M Mit der 41 in die Stadt. "Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den anderen, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen, die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsenden Widerwillen betrachtet hatte, waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt." Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. (1929). München: dtv 1965. S. 8.

Von allen Bildern ist das von Rainer Fetting dem Zeitgeist und wahrscheinlich auch der Erlebniswelt der SchülerInnen am nächsten. Es erzählt eine Geschichte bzw. macht das Angebot, eine Geschichte in ihm zu entdecken. Vielleicht können die SchülerInnen zunächst im Rahmen einer Hausarbeit eine Geschichte zum Bild schreiben. Dabei werden sehr unterschiedliche Erzählungen herauskommen, je nachdem welche Personen im Bild die SchülerInnen am stärksten ansprechen. Nach einem Vergleich der Erzählungen sollte das Bild beschrieben und bearbeitet werden. Die SchülerInnen sollen die Personengruppen und ihre Zuordnung analysieren. Dabei sollte auf die kräftigen Farben geachtet werden, die auch emotionale Aussagekraft haben. Welche Rolle spielt der Einzelne, welche die Gruppe auf dem Bild? In welcher Situation könnte das Geschehen lokalisiert sein? Was sagt das über die dargestellten Menschen aus? Wie wird wohl die Gesellschaft auf diese Gruppe reagieren? Dann könnte auf den Text aus dem Materialteil zurückgegriffen werden. Zwischen dem Text von Alfred Döblin und dem Bild von Rainer Fetting liegen 55 Jahre. Beide thematisieren das Leben von Randgruppen in der Großstadt, die Großstadt heißt Berlin, die Randgruppen wechseln.


Ingrid Hartlieb (* 1944) Der Verweigerer
1985,Holz, 130x170x38cm

Auf den ersten Blick ein mächtiger Block, aus verschiedenen Hölzern gebildet, die aneinandergeleimt und anschließend bearbeitet wurden. Die Farbgebung ist sehr zurückhaltend, die wenigen Farbtupfer sind Reste auf alten Hölzern, die mit verarbeitet wurden. Bei längerem Hinsehen formt sich aus dem Block eine Figur. Die Arme sind durch hervorstehende Hölzer nur angedeutet. Besonders auffällig ist der große Kopf, der zwischen die Schultern gesunken ist und an eine Schildkröte erinnert. Die Figur ist nicht geglättet, sie zeigt Ecken, Kanten und Risse. Konzentriert man sich auf den Kopf, das Gesicht, so scheinen sich hier tiefe Furchen eingegraben zu haben. Verkniffen, ängstlich und in sich zurückgezogen blickt uns der Verweigerer entgegen. Er scheint sich von der Außenwelt zurückgezogen zu haben und wirft nur misstrauisch schielende Blicke auf sie. In dieser Haltung scheint eine realistische Sicht der Umgebung gar nicht möglich zu sein. Sogar seine Extremitäten hat er völlig versteckt und sich so jede Möglichkeit genommen, die Welt zu begehen oder sie zu erfassen. Der raue unregelmäßige Aufbau des Holzes erinnert an Narben und Wunden, Verletzungen, die ihm zugefügt wurden. Die Narben dieser Verletzungen bilden nun seinen Panzer, in den er sich wie eine Schildkröte zurückzieht.

M "... Wonach sehnen sich Menschen? Es ist der Wunsch, ganz zu sein, das Bedürfnis nach einem unzerstückten Leben. Das alte Wort der religiösen Sprache "Heil" drückt genau dieses Ganzsein, Unzerstückel-Sein, Nichtkaputt-Sein aus. Dass die kaputten Typen - und wer rechnet sich zuzeiten nicht dazu? - den Wunsch haben ganz zu sein, ist nur verständlich. Es ist zugleich der Wunsch nach einem Leben ohne Berechnung und ohne Angst, ohne äußere oder bereits verinnerlichte Erfolgskontrolle, ohne Absicherung. Vertrauen können, hoffen können, glauben können - alle diese Erfahrungen sind mit einem intensiven Glücksgefühl verbunden, und eben um dieses Glück des Ganzseins geht es in der Religion." aus: Dorothee Sölle, Der Wunsch, ganz zu sein in: Ingrid Riedel (Hrsg.), Der unverbrauchte Gott. Neue Wege der Religiosität. Bern, München, Wien 1976.

Die SchülerInnen sollten zunächst versuchen, ihre ersten Eindrücke vom Werk zu beschreiben. Was lässt sich erkennen? Woran erinnert die Plastik und was könnte sie darstellen? Wird der Sinn des Kunstwerks plausibler, wenn man den Titel zu Hilfe nimmt? Warum heißt dieser mächtige Holzblock "Der Verweigerer"? Wem verweigert er sich denn? In einem zweiten Schritt wäre dann nach der Art der Verweigerung zu fragen. Was für eine Form von Verweigerung findet man in der Plastik, welche anderen Formen wären denkbar? Ist seine Verweigerung dem "Verweigerers" bewusst, basiert sie auf einer aktiven Entscheidung, Widerstand zu leisten, sich nichts mehr gefallen zu lassen? Oder ist sie nur ein unbewusst-ängstliches Zurückziehen aus der Umwelt, ein Rückzug aus Angst vor Verletzungen? Im Anschluss daran wäre es wichtig, auf die eigenen Empfindungen der SchülerInnen einzugehen. In welchen Momenten würden sie sich den Schutzpanzer des Verweigerers wünschen? Wann fühlt man sich so bedroht oder ohnmächtig, dass man sich so in sich zurückziehen möchte? Wie wäre ein Leben, das dem entronnen wäre? Dorothee Sölle entwirft in ihrem Text (s. Materialteil) die Grundstrukturen von Religion als diejenigen, die die Erfahrung des "Verweigerers" aufzuheben trachten: "vertrauen können, hoffen können, glauben können."


Barbara Heinisch (* 1944) Ecce homo (Aktion mit Egon Schrick)
1986, Tempera auf Nessel, 210x260cm

Der erste Blick zeigt dem Betrachter ein wildes Durcheinander in schwarzen, blauen, weißen und roten Farbtönen. Bei weiterer Beobachtung fallen zuerst einzelne Gliedmaße auf, die sich dann zu Gestalten zusammensetzen. Im Vordergrund offenbar eine am Boden niedergekrümmte Figur, dahinter eine, die sich wie in Schmerzen windet. In der Mitte dagegen eine eher lachende Gestalt, frei und ekstatisch mit den Armen schwingend. Rechts davon aus dem Hintergrund hervortretend eine große Gestalt, die mit der einen Hand zwei Stäbe wie ein Kreuz beschwörend von sich streckt, und die andere Hand wie abwehrend vor die Stirn hält. Der Gestus scheint verhaltene Trauer auszudrücken. Bei weiterer Vertiefung in das Geschehen treten noch andere Gestalten aus der Tiefe des Bildes hervor. Die verschiedenen Figuren sind nicht immer klar voneinander abzugrenzen, Farben, Formen und Gesten vermischen sich zu einem Wirbel des Geschehens, der sich nach oben und zu den Rändern hin zu lichteren Farben und glätteren Formen auflöst. Alles was die Menschen ausmacht, Glück und Trauer, Schmerz und Wut, Aufstieg und Untergang, wird hier auf dem Bild in einer Art Leporellobuch zu einer umfassenden Sicht des Menschen zusammengefasst.

M "Freiheit als Lockerung von allerlei äußerem und innerem Zwang ist doch erst so etwas wie der Anlauf zu wirklicher Freiheit. Diese ist nämlich Freiheit von diesem und jenem, äußerem und innerem Zwang, weil und indem sie Freiheit für ein ganz bestimmtes Denken, Reden und Tun ist. Negation der Unfreiheit kann auch in ihren besten, nötigsten und edelsten Formen immer nur ein Beiwerk, eine Vorbereitung zur Freiheit sein. Freie Menschen sind positiv denkende, redende und handelnde Menschen. Sie wollen und betätigen ihre Unabhängigkeit und Überlegenheit nicht zu ihrem eigenen Schmuck, Genuss und Vergnügen und darum, auch wenn sie sie erkämpfen und verteidigen müssen, nie zänkisch, sondern im Grunde immer friedlich. Sie brauchen ihre Kunst und Macht für den Dienst, in welchem sie stehen, nämlich dazu, den noch Unfreien zu helfen, auch Freie zu werden: jeder freie Mensch ein Zeichen der Hoffnung, der Trostes, der Ermutigung und Ermunterung für viele noch unfreie." aus: Karl Barth, Freiheit. 6 Radiovorträge. EVZ-Verlag Zürich 1960, S. 51.

Bei diesem Bild ist es zunächst wichtig, sich den Entstehungsprozess vor Augen zu führen. Das Bild ist das Ergebnis der Begegnung zweier individueller Auseinandersetzungen mit einem Thema. Der Aktionskünstler Egon Schrick und die Malerin Barbara Heinisch reagieren je auf ihre Weise auf das "Ecce homo". Den SchülerInnen liegt nur das Ergebnis dieses komplexen Prozesses vor, das Bild der Malerin. Durch das Geschehen auf der Leinwand hindurch müssen sie die Aktion quasi rekonstruieren. Deshalb ist es für sie wichtig, genau hinzusehen und die einzelnen Gestalten zu bestimmen. Was bedeuten deren verschiedenen Gesten, welche Gefühle hat wohl der Aktionskünstler, welche die Malerin mit ihnen verbunden und welche verbinden die SchülerInnen mit ihnen? Ist es möglich in dem Bild die Abfolge eines Geschehens zu erkennen? Was könnte das Bild mit der Passion Jesu verbinden? Kann es als Verdeutlichung der Geschichte Christi verstanden werden, als Nachempfinden seines Werdegangs vom hoffnungsvollen Anfang über Leiden, Schmerz und Tod bis zu seinem wiederum hoffnungsvollen Ende in der Auferstehung? Oder ist es ein Angebot an den Betrachter, sich mit dem Leben und Leiden Jesu zu identifizieren? Wird so eine Brücke zwischen dem historischen Geschehen und dem persönlichen Erleben geschlagen?


Gerhard Hoehme (* 1920), Tenebrae (nach Paul Celan)
1979/87, 206x496cm, Acryl/Leinen, Acryl/Plexispiegel, Acryl - angetrocknet in Plexiglas-Näpfen und PVC-Schläuchen in Holzkästen

Ein Triptychon mit klarem Aufbau. Auf der linken Seite eine Fläche, die an eine Plakatabrisswand erinnert. Wie zufällig schält sich aus den Abrissresten eine Struktur heraus, ein deutlich erkennbares Kreuz. Diese Struktur setzt sich, etwas undeutlicher, im Mittelteil des Werkes fort. Er besteht aus einem Plexiglasspiegel, den eine wachsähnliche Schicht und Buchstaben aus Schwarz und Grau überdecken. Die Buchstaben bilden ein Gedicht von Paul Celan. Es reflektiert die Veränderung, die im Verhältnis zwischen Gott und Menschen durch Auschwitz eingetreten ist. Die Opfer des Holocaust klagen Gott an, sie fragen nach dem Sinn ihres Opfergangs. Auf der rechten Seite, die zugleich die kleinste ist, ein 'Fragment einer Kreuzigung': Ein Holzkasten mit einem PVC-Schlauch und Plexiglas-Näpfen mit roten Farbelementen vor einer schwarzen Silhouette, die an einen aufgehängten Tierkadaver im Stil Chaim Soutines erinnert. Das Triptychon konfrontiert Kreuz Christi und menschliches Leiden, es steigert sich von der abblätternden Kreuzstruktur über die Konfrontation von Kreuz und Gedicht bis hin zu dem an den Pranger gestellten Leichnam. Das Christentum hat Auschwitz nicht verhindert, das Opfer Christi wurde durch den Opfergang eines ganzen Volkes ersetzt.

TENEBRAE

Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
'Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah.

PAUL CELAN

Die Bearbeitung des Bildes ist - auch im Rahmen einer Einheit über das 'Ecce homo' - ohne eine Auseinandersetzung mit dem Thema Auschwitz nicht möglich. Darüber hinaus kann das Bild sinnvoll nur im Rahmen einer Beschäftigung mit den Arbeiten Paul Celans eingesetzt werden. (Erste Informationen finden sich in der Zeitschrift für Literatur "Text und Kritik, Heft 53/54, Paul Celan".) Zunächst sollten die SchülerInnen in zwei getrennten Gruppen das Kunstwerk und das Gedicht bearbeiten. Die Fragestellung, unter der die Gruppen arbeiten, könnte die nach der Situation sein, auf die das jeweilige Werk reagiert, nach den formalen und inhaltlichen Ähnlichkeiten mit anderen Texten (Gebete, Psalmen). Der Vergleich zwischen den Ergebnissen beider Gruppen wird zeigen, inwieweit das Kunstwerk Erkenntnisse über das Gedicht hinaus bringt. Ein Kunstwerk, das nur vermittelt, was auch rein sprachlich mitteilbar wäre, stellt nur eine überflüssige Verdopplung dar. Aber Hoehmes Werk will mehr als das: "Das sprachliche Kunstwerk wird im Rahmen der Hoehmschen Arbeit an die ursprüngliche Position der Kreuzigung versetzt und damit das exemplarische Opfer Christi durch den exemplarischen Opfergang eines ganzen Volkes ersetzt." (H.-U. Schmidt im Katalog der Ausstellung 'Ecce-homo'.)


Heinz Kleine-Klopries (* 1949) o.T.
1987,235x400x370cm, Lego, Eisen, Einmachgläser

Elf Figuren aus Spielbausteinen auf Eisensockeln. Die Figuren sind - mit einer Ausnahme - alle "bis zur Unkenntlichkeit" verbrannt. Sie stehen im Halbrund, gesichts- und ausdruckslos wie Industrieroboter, eine der anderen gleich. Nur eine Figur weicht im Erscheinungsbild ab, sie besticht durch ein kräftiges, grelles Grün. Sie ist nicht angebrannt, war auch nie aus verschiedenfarbigen Spielsteinen zusammengesetzt wie die anderen Figuren, sondern ist uni grün. Die Figuren auf den oxidierten Eisensockeln sammeln sich um ein Ensemble "eingemachter" Spielbausteine. Sie stehen auf langen Eisenständern in 'haushaltsüblichen' Einmachgläsern, in Wasser eingelegt. Eines der Einmachgläser trägt - sicher nicht zufällig - die Firmenaufschrift 'Rex'. Nimmt man den vorgegebenen Kontext ernst, dann stellt sich die Frage "Who is who"? Ist mit dem Ensemble aus Einzelteilen Christus gemeint, geschlagen und von den Blicken der Leute zerstückelt? Ist die grüne Figur Judas, der Verräter, oder Pilatus, der das "Ecce homo" spricht? Und sind die verbrannten Figuren Jünger, aber warum dann nur 10? Oder symbolisieren sie das Volk, das "Kreuzigt ihn!" ruft. Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Fragen, die Geschichte zu diesem Kunstwerk muß vom Betrachter selbst (re)konstruiert werden.

M "Die Welt aber, in der wir leben, straft das feierliche Reden vom unersetzlichen einzelnen Lügen. Eher drängt sich ein Grundgefühl auf, das da sagt: alles ist auswechselbar. Bei der Suche nach Arbeit gibt es stets genügend andere mit den gleichen Qualifikationen. Menschliche Situationen, die uns unverwechselbar und einmalig erscheinen wollen, können von jedem Psychologen auf ihren Modellcharakter zurückgeführt und mit den standardisierten möglichen Lösungen konfrontiert werden. Aber nicht nur von solchem sozialpsychologischem Aspekt aus lässt sich die These vom unersetzlichen einzelnen kritisieren. Mindestens ebenso angreifbar wird sie, wenn man die Art unserer Produktion, also die materielle Basis unseres Lebens, ins Auge fasst. Jeder heute hergestellte und von uns benutzte Gegenstand existiert unzählige Male in genau der gleichen sinnlichen Qualität. Die maschinelle Serienproduktion macht alle Dinge auswechselbar ... Diese aus Verkaufsgegenständen und Serienartikeln gewordene, in jedem Detail ersetzbare Welt suggeriert auch dem einzelnen die Vorstellung, er sei ein ersetzbares Maschinenteilchen. Ein gut teil heutiger Sinnlosigkeitserfahrung hängt mit dieser Auswechselbarkeit zusammen." aus: Dorothee Sölle, Stellvertretung. Kreuz-Verlag Stuttgart, S. 47ff.

Bei der Arbeit von Heinz Kleine-Klopries steht der spielerische Aspekt zunächst einmal im Vordergrund, die in ihr enthaltene (ernste) Aussage muß erst erarbeitet werden. Zunächst also sollten die SchülerInnen ihren freien Assoziationen zu der Installation Raum geben. Dabei wird sicher auch schon einiges zur Ecce-homo-Thematik vorkommen. Die Phase der Assoziation sollte dann in eine genaue Beschreibung übergehen. Die Beschreibung führt dann direkt an die Ecce-homo-Geschichte heran. Da aber eine eindeutige Lokalisierung innerhalb der Geschichte nicht möglich ist, sollen die SchülerInnen selbst in die Geschichte einordnen. Je nach Art der vorgenommenen Zuordnung sollen die SchülerInnen dann die Aussage des Kunstwerks bewerten: Was sagt das Kunstwerk aus, wenn in ihm Christus im Mittelpunkt steht, was, wenn Judas hervorgehoben ist, oder wenn es Pilatus ist, der das Geschehen bestimmt? Denkbar ist aber auch, dass die Arbeit mit Blick auf das Menschenbild untersucht wird, das in ihr zum Ausdruck kommt. Zehn verbrauchte und eine strahlend frische Maschinenfiguren umrahmen eine zerstückelte elf Robotern, versammelt vor einem Ersatzteillager: ein Abbild der Gesellschaft der 80'er Jahre? Ein Ausdruck fehlender Menschlichkeit? Oder Menschen, die von Roboter nicht zu unterscheiden sind?


Annelies Klophaus (* 1940), Mensch zwischen Himmel und Erde,
1987, 220x370cm, Kunststofffarbe auf Maltuch

Die Künstlerin Annalies Klophaus hat sich lange und intensiv Gedanken darüber gemacht, wie sie das Thema "Ecce homo - Seht, den Menschen" bearbeiten könnte, und zwar so, dass sowohl die Situation - das Ausgeliefertsein eines Menschen - als auch das Medium - das sich immer dem Betrachter ausliefert - reflektiert werden. Dabei hat sie auf das zweite Gebot, das Bilderverbot, zurückgegriffen und es zum Ausgangspunkt ihres Werkes gemacht. Dabei hat sie ein Menschenbild im buchstäblichen Sinn des Wortes geschaffen. Dem Betrachter sticht zunächst das helle Blau ins Auge, dann tritt die hieroglyphische Anordnung der Strukturen hervor. Das Blau gliedert sich in sechs aneinandergedrängte große Buchstaben, die in der Reihe das Wort MENSCH ergeben. Roland Barthes schreibt "Die Sprache ist eine Haut. Ich reibe meine Sprache an einer anderen, so als hätte ich Worte anstelle von Fingern oder Finger an den Enden meiner Worte". Und Annalies Klophaus fügt hinzu: "Durch begreifen = berühren wird die Sprache wieder eine Sprache für den Menschen, Worte bekommen Hand und Fuß." Aus der zynischen Herrschaftssprache des Pilatus wird auf diese Weise wieder ein menschliches Wort gewonnen, das wirklich den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

M Das 2. Gebot: Du sollst Dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen.

Wenn Herr K. einen Menschen liebte: "Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., "und sorge, dass er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagte Herr K., "der Mensch". Bertolt Brecht

Du sollst dir kein Bildnis machen: "Du bist nicht", sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: "wofür ich dich gehalten habe." Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. Max Frisch

Das Bild scheint auf den ersten Blick sehr einfach: das Wort MENSCH in blassblauer Farbe, ein wenig beschwingt, die einzelnen Buchstaben eng aneinandergedrängt. Es kann also nicht darum gehen, den Bildinhalt zu erkennen, sondern vielmehr darum, die Bild-Aussage zu verstehen. Zur Annäherung an die Thematik 'Menschenbild' können die drei Kurztexte aus der Bibel, von Max Frisch und Bert Brecht verwendet werden. Sie beschäftigen sich alle mit der Frage, wie das Verhältnis von Bild und Mensch zu bestimmen sei. Während das Bilderverbot Abbildungen untersagt, die sich zwischen den Menschen und Gott drängen, weil die Autoren des Bibeltextes skeptisch gegenüber der sich verselbständigenden Tendenz von Bildern sind, handeln die beiden anderen Texte eher davon, wie wir konkret mit unseren Mitmenschen umgehen können. Verraten wir den Mitmenschen, wenn wir uns ein Bild von ihm machen, lassen wir seine Persönlichkeit nicht mehr zum Zuge kommen, oder bedürfen wir der Bilder, um die Menschen als veränderbare Wesen zu denken? Steckt die Arroganz des Pilatus darin, dass er Jesus auf ein konkretes Erscheinungsbild fixieren wollte oder darin, dass er ihn nach einem Bild gemodelt hat? Und ist die Alternative dann, auf Menschenbilder zu verzichten? Dazu hat die Künstlerin einen Vorschlag gemacht.


Helmut Lander (* 1924) Exekution II
1982, 200x40x185cm, Gusseisen

Die Umrisse einer menschlichen Figur in einem Block. Aus den Umrissen herausgefallen, am Boden liegend ein Mensch, die Arme auf dem Rücken gefesselt, die Hände wie im letzten Schreckenskrampf gespreizt. Durch Kopf und Körper zieht sich ein Riss, der Mensch ist gespalten. Schlaff und leblos halten die Füße gerade noch die Verbindung zu dem stehenden Block. Der Mensch liegt flach auf der Erde, so, als wäre er schon halb in den Boden eingesunken. Ein Mensch wurde exekutiert, ermordet, weil er in den Rahmen einer Gesellschaft, eines Staates nicht passte. Er lehnte sich gegen den vorgegebenen Rahmen auf, doch nun sind von seinem Tun nur noch Umrisse geblieben. Umrisse, die über Leid, Schmerz und Folter nicht mehr viel sagen. Die Plastik zeigt nichts Menschliches mehr, nur einen fast begrabenen Körper und den Schatten einer Erinnerung. Doch gerade durch die Abwesenheit des Menschlichen wird hier Menschliches beschworen. Durch das Vermissenlassen einer menschlichen Größe wird an sie erinnert. Ikonographisch knüpft Helmut Lander an Arbeiten von Francisco Goya, Otto Dix und George Grosz an. Aber auch aus der aktuellen Berichterstattung von den Krisengebieten der Erde, wo heute noch gefoltert, gemordet, exekutiert wird, sind uns ähnliche Fotos bekannt.

M "Dieses Volk hat begriffen, wie sehr es Jesus verwandt, ihm ähnlich ist. Denn ist es nicht wie der leidende Gottesknecht? Ohne irgendeine Metaphorik oder Allegorie zu gebrauchen, alle ihre Zeugnisse und Berichte, die uns diese Menschen gegeben haben, zeigen doch, dass wir sagen müssen: Das salvadorianische Volk trägt wie der Gottesknecht die Sünde der Gesellschaft wie der Knecht fällt es unter dem Gewicht so großer Sünde wie der Knecht stirbt es mit einem durch die Folter entstellten Gesicht wie der Knecht stirbt es oft in der Anonymität, stumm - ohne ein Wort auszustoßen, ohne dass andere zu seiner Verteidigung aufstehen ... Und wie der Gottesknecht - und das ist die schwierige Gewissheit des Glaubens - bringt es die Rettung und wird selbst erhöht werden. Und das ist die große Neuigkeit des Glaubens so vieler armer Salvadorianer. Die Auferstehung Jesu hat sie ihm ähnlich gemacht, weil er unschuldig gekreuzigt stirbt, um die Armen zu retten." aus: Bernd Päschke, Salvadorianische Passion. Münster 1985. S. 57/58.

Zunächst wären spontane Reaktionen auf die Plastik erwünscht. Was könnte hier passiert sein? Welche Vorgeschichte könnte die dargestellt Situation haben? Auf was lassen die abwehrend gespreizten Hände schließen? Was könnte der Riss durch den Körper des Menschen symbolisieren? Eine genauere Hinführung zum Thema könnte dann die Frage nach dem Wo des Geschehens ermöglichen. Woher kennen die SchülerInnen solche Szenen und was können Sie damit verbinden? Die Plastik weckt Assoziationen an Unterdrückung, Folter und Tod, wie sie auch der Text von Bernd Pläschke (s. Materialteil) Volk verdeutlicht. Pläschke konfrontiert das Leiden des salvadorianischen Volkes mit dem Gottesknechtslied nach Jesaja 53 und der Passion Christi. Auch Landers Plastik stellt eine Verbindung zwischen dem Tod Christi und dem allgemein-menschlichen Leiden in der Unterdrückung her. Während bei Lander das Leiden an der unterdrückten Menschlichkeit im Vordergrund steht, erweitert Pläschke es um den Aspekt der Stellvertretung. Wie Christus leidet das Volk von San Salvador für eine bessere Zukunft. Das Ecce-homo findet heute tagtäglich statt - nicht nur in den Ländern der 3. Welt. Wie ließe sich, angeregt durch die von Plastik und Text dargestellte Situation, eine alternative menschliche Praxis entwerfen?


Arnulf Rainer, (* 1929) Christ-König
1980, 50x65cm, Privatsammlung, Bad Säckingen

Christus zu erkennen, ist offenbar nicht immer gleich auf den ersten Blick möglich. Oft ist die Sicht verstellt, scheinen die Perspektiven verzerrt. Der Blick auf Christus kann verstellt, seine Menschlichkeit übertüncht sein: durch verklärende Sanftmütigkeit, die ihn unverbindlich werden lässt durch eine Dornenkrone, die eher als Herrschaftssymbol, denn als Folterinstrument erscheint durch eine Historisierung, die Christus unendlich fern erscheinen lässt. Diese Christusbilder sind tote Bilder, es sind erstarrte künstlerische Formen. Wie können sie ihre Ausdruckskraft zurückgewinnen und wieder lebendig werden? Arnulf Rainer gelingt das durch Übermalung. Er verwendet Fotos von romanischen oder gotischen Christusbildern, die er durch Übermalungen ruiniert und akzentuiert.

Dabei geschieht mit den Bildern mehr als nur eine Überarbeitung. Im vorliegenden Fall hat ein gotisches Christusbild seine Auferstehung ins Leben erlebt, es wurde durch Veränderung aktualisiert. So bekommt das gotische Christusbild unmittelbare Bedeutung. War es zuerst Ausdruck der 'Majestas Christi', so ist nun das Leiden und damit Christi Menschlichkeit in den Vordergrund getreten. Indem Arnulf Rainer das Foto durch Übermalung ruiniert, überträgt er etwas von dieser 'Verletzung' auf die Darstellung Christi.

Vor der Auseinandersetzung mit Arnulf Rainers Christusbild sollten sich die SchülerInnen mit romanischen und gotischen Christusbildern beschäftigen, da sie die Voraussetzung für das Verständnis von Rainers Bildverfremdungen bilden. Ein Beispiel ist im Materialteil abgebildet. Andere finden sich bei Paulus Hinz, Deus homo (vgl. Literaturliste). Die SchülerInnen sollten sich fragen, welche aktuelle Relevanz solche Bilder für sie haben, wovon sie dabei angesprochen werden, was ihnen diese Bilder 'sagen'. Dann sollten die historischen Vorbilder mit der Arbeit von Arnulf Rainer konfrontiert werden. Welche Bilder 'gefallen' besser? Was wird durch das Bild von Arnulf Rainer in der Wahrnehmung verändert? Ändert sich unser Verhältnis zu den historischen Christusbildern durch den Eingriff von Rainer? Danach könnte noch einmal auf die biblische Ecce-homo-Szene zurückgegriffen werden. Wenn man sowohl das historische wie das aktuell verfremdete Kunstwerk als Aussage über die Menschlichkeit Christi versteht, durch welches der beiden Bilder wird die Situation eher getroffen? Welche spezifischen Züge Jesu werden vom jeweiligen Bild akzentuiert? Die Antworten der SchülerInnen geben auch Auskunft über das jeweilige Gottesverhältnis. Das sollte abschließend erörtert werden.