Mertin: Herr Meistermann, Sie haben in einem Interview gesagt, "Die Kirche kann ohne die hohe Kunst leben", und, "Kirche und Kunst sollte eins zusammenbringen: Wahrhaftigkeit." Ist das nicht ein Widerspruch, heißt das nicht, dass die Kirche doch nicht auf Kunst verzichten kann?
Meistermann: Die Kirche kann auf die Kunst verzichten. Ich meine, ein Bischof, der ein frommer Mann ist, braucht keine Kunst. Zudem haben sich Bischöfe selten für Kunst interessiert. Ich habe, wenn ich mit den Herrn zu tun habe, gelegentlich die Frage gestellt, 'Waren Sie schon einmal in New York?' - 'Ja, natürlich.' - 'Haben Sie Picassos "Guernica" gesehen?' - 'Nein' - 'Warum nicht?' - Dann bleibt die Frage offen. Sie genieren sich zu sagen, 'Ich habe keine Zeit'. Das ist genau so, als wenn ich sagte, ich habe sonntags keine Zeit, in die Messe zu gehen. Ich glaube, dass es dem lieben Gott egal ist, ob man vor einer Kitschfigur andächtig wird oder durch eine Kunstfigur. Ich glaube nicht, dass die Kirche Kunst nötig hat.
Die Frage der Wahrhaftigkeit ist eine andere. Wenn ich z.B. einen Topf voll Kaffee habe, weiß ich, wie viel Kraft ich aufwenden muss, um ihn anzuheben, ohne nachzudenken das geschieht automatisch. Jetzt nehmen wir einmal an, das Ganze wäre aus Plastik, auch der Kaffee, und die Täuschung ist so vollkommen, dass ich es nicht wüsste. Dann hebe ich es an und siehe da, ich verhebe mich, es ist zu leicht. Dann sind meine Sinne getäuscht worden. Diese Art der Sinnestäuschung lehne ich ab. Darüber hatte ich z.B. Streit mit Walter Förderer. Der meinte die Menschen gewöhnten sich daran, wenn die Sachen aus Plastik sind. Aber ich glaube, sie werden sich nie daran gewöhnen, weil ein Baum in der Natur immer ein anderes Verhältnis zur Wahrhaftigkeit der Empfindung vermitteln wird als ein Plastik-Baum. Das heißt also, man hat immerzu Maßstäbe in der Natur, an denen man merkt, dass eine Empfindung wahrhaftig ist. Wahrhaftigkeit ist eine Sache, die man glauben können muss. Das verstehe ich unter Wahrhaftigkeit.
Mertin: Für den persönlichen Glauben braucht man Kunst nicht. Aber wäre eine Kirchengemeinde, die z.B. Glasfenster haben will, auf hohe Kunst verpflichtet, weil sie wie die Kunst auf Wahrhaftigkeit verpflichtet ist?
Meistermann: Das kann die Gemeinde nicht von vorneherein leisten. Die Gemeinde ist ja erst mal anonym, wie 'Baum', B-a-u-m, den es ja auch nicht gibt. Es gibt Eichen, Buchen, Tannen, aber keinen Baum. Gemeinde ist zunächst ein abstrakter Begriff von Vielfältigkeiten, die nicht zu definieren sind. Was Gemeinde ist, können Sie niemals genau sagen. Das ist eine heterogene, manchmal auch homogene Vielfalt, die aber immer wieder ins Wanken gerät. Und Wahrhaftigkeit können Sie immer nur vom einzelnen verlangen. Wenn Paulus seine Briefe schreibt, dann ist er derjenige, der - um mit Brecht zu reden - Erkenntnisse hat und bemüht ist, die Erkenntnisse den anderen zur Kenntnis zu bringen, damit seine Erkenntnisse zur Kenntnis möglichst vieler gelangen. Das ist also auch eine Vermittlung von Wahrhaftigkeit, aber zunächst muss man einen Adressaten haben und einen Urheber, der von seiner Sache überzeugt ist.
Mertin: Welche Aufgabe kommt dann der Kunst in der Kirche zu?
Meistermann: Zunächst einmal bin ich der Meinung, dass Kunst, wie sie auch geschieht, eine Art Gotteslob ist, bewusst oder unbewusst. Selbst wenn Fernand Leger, der Kommunist war, nichts glaubte, dann ist das, was er macht, glaubwürdig, weil er mit sämtlichen Möglichkeiten das zu empfinden, mit dem Kopf zu analysieren, was er machen muss, wie er etwas machen muss, eine Summe herstellt in Form eines Bildes, die in sich eine totale Einheit ist, an der auch nichts mehr zu korrigieren ist. Man kann nun sagen, Picasso macht das anders, aber es gibt viele Wahrhaftigkeiten nebeneinander, ich rede ja nicht von Wahrheiten, sondern von Wahrhaftigkeiten.
Nun zur Aufgabe der Kunst in der Kirche: früher, in der alten Kirche, spielte während der Predigt immer eine leise Musik, das nannte man Organon, das Organ, aus dem die Stimme als artikuliertes, bestimmtes Wesen, das ganz sichere Inhalte mitteilen kann, sich herausschält. Kunst und Kirche bedeutet also die Zusammenführung von Augen und Ohren im Katholischen gibt es noch die Gerüche, den Weihrauch. Wenn ich eine Predigt höre, habe ich von alle dem etwas, d.h. ich bin erfüllt von allen Sinnen und höre aus diesen heraus eine Stimme etwas sagen. Kunst dient also in der Kirche der Verkündigung, indem sie einfach gegenwärtig ist.
Mertin: Wie ist die Gemeinde an diesem Verhältnis von Kunst und Kirche beteiligt?
Meistermann: Mit einer Gemeinde, deren Grundsubstanz, und die nenne ich mal ganz allgemein die menschliche, intakt ist, kann man sehr gut reden und kann ihr Vorstellungen bringen von dem, was einem vorschwebt. Wenn das bei der Gemeinde nicht der Fall ist, dann sagt der eine, der ist Professor, der versteht etwas von Kunst, er habe von der Kunst her Bedenken gegen eine bestimmte Sache. Dann haben Sie eine Putzfrau, die sagt im Gegenteil, mir gefällt das gut. Ich habe noch nie bei ganz einfachen Leuten Missfallen erregt, aber bei sogenannten Gebildeten sehr oft. Jetzt ist die Frage, auf wen Sie sich verlassen wollen. Mit den Gebildeten können Sie reden und können Ihre Zweifel unter Umständen beseitigen, indem Sie alle diese Themen insgesamt anschneiden. Mit den anderen brauchen sie nicht zu diskutieren, wenn ihnen etwas nicht gefällt, dann sagen sie einfach nein.
Wenn jetzt jemand bestimmte Inhalte dargestellt haben will, dann wird die Sache problematisch. Im Limburger Dom sind ja die berühmten Apostel. 1935, als die Nazis dort ihre Feier hatten, sind die Nasen der Juden gerade gemalt worden. Alle Judennasen sind arisiert worden. Für wen ist die Kunst nun da? Für den Machthaber, für den Bischof, für den Pfarrer, für die Gemeinde, für den Mann, der sie macht, für die Besucher, die heute immer mehr nach dem Baedecker in die Kirchen gehen, die dann gucken, wo etwas Nettes ist, die Baedecker-Christen? Wie soll man dieses Problem mit der Kunst in der Kirche lösen? Das wird von Generation zu Generation neu gestellt werden und immer wieder auch neu diskutiert werden müssen. Einen Grundkonsens über Kunst in der Kirche werden wir nicht erreichen. Heute stellen wir auch die Frage, was soll in die Kirchen? Soll moderne Kunst in die Kirchen? Moderne Kunst ist ein ganz abstrakter allgemeiner Begriff, der gar nichts sagt. Ist Beuys ein typisch moderner Künstler, bin ich einer oder Herbert Falken? Da wissen auch Bischöfe und Berufs-Christen nicht, was sie darunter verstehen sollen und lavieren und experimentieren. Zum Beispiel werden Fotografien vom Vietnamkrieg dargestellt oder dergleichen. Dann stellt sich die Frage nach der Fotografie, die ja durchaus eine Wahrhaftigkeit darstellen kann, und so wird das Problem immer unlösbarer.
Mertin: Können Sie Ihren Umgang mit Kunst in der Kirche an einem Beispiel konkretisieren?
Meistermann: Für Kirchenfenster im speziellen können wir die romanische Kirche St. Gereon in Köln nehmen. Deren Glasfenster sind jetzt alle eingebaut und ich habe mir sehr viel Mühe mit ihnen gegeben. Dort sollten Apostel dargestellt werden. Ich habe mir überlegt, vielleicht sind in den zwölf Aposteln die Temperamente der Menschen enthalten. Einmal Paulus, den ich gelegentlich ein bisschen sarkastisch den 'Goebbels' des Christentums nenne, weil er auch sehr fanatisch war. Dagegen Johannes, der ein liebenswürdiger, freundlicher und gütiger Mensch war. Davon ist bei Paulus wenig. Wenn Paulus etwa an die Galater schreibt, da habt ihr einen in der Gemeinde, ich höre, dass der ein unerlaubtes Verhältnis zu einer Frau hat, schmeißt ihn raus aus der Gemeinde, dann protestiere ich. Paulus hätte sagen müssen, umzingelt ihn mit Gebeten. Aber wenn man ihn rausschmeißt, fängt die Parteikirche an.
Mertin: Wenn ich Sie recht verstehen, haben Sie in St. Gereon eine Archetypenlehre des Menschlichen darzustellen versucht?
Meistermann: Ja, aber nicht wissenschaftlich. Das ist eine Empfindungsfrage. Ich glaube schon, dass Paulus dieser nüchterne Mann ist. Und dass Andreas ganz etwas anderes ist. Dass Petrus ein Klotz ist, der ja auch eine höchst merkwürdige Person war! Gläubig wie kein anderer, fällt auf die Knie 'Du bist Christus, der Sohn Gottes' - 'Du wirst mich dreimal verraten1' - 'Ich? Nie!' - und dann nach ein paar Stunden ist es passiert. Diese Labilität bei dem, die absolute Sicherheit bei Paulus, die Liebenswürdigkeit bei Johannes, die unglaubliche Naivität bei Tobias, dann die sehr fragwürdige Labilität bei Thomas. All dies sind ja Temperamente und mit all diesen einzelnen Typen tut sich die Kirche in der Praxis schwer. Sie hätte am liebsten immer schon Heilige und Fromme. Dabei steht doch in der Bibel, dass im Himmel mehr Freude ist über einen der Buße tut, als über 99 Gerechte.
Mertin: Als Pfarrer einer Kirchengemeinde würde ich mich von Ihren Äußerungen allein gelassen fühlen. Ich möchte gute Kunst für meine Kirche und habe keine Ahnung davon. Mir gefällt jenes an diesem Kunstwerk, anderes gefällt mir nicht. Was soll ich nun machen?
Meistermann: Ja, der Pfarrer wird allein gelassen. Ich habe noch nie eine Skizze gemacht ich mache immer Entwürfe im Verhältnis 1:1. Das ist ein anderes Gefühl. Ich habe ein Gefühl für den Raum. Jetzt wollen viele zunächst einmal eine Skizze haben. Das mache ich nicht. Ich sage dann dem Pfarrer und dem Kirchenvorstand: Ich bin 75 und habe sehr viel gemacht. Nehmt euch einen kleinen Bus und fahrt ein bisschen rum. Dann schaut euch nicht nur meine Sachen an, sondern auch andere. Ich bin auch gar nicht böse, wenn ihr andere nehmt.
Mertin: Wie war das bei St. Gereon, wie kam das Thema 'Apostel' zustande? Kam die Gemeinde und sagte, wir brauchen jetzt Apostel auf den Fenstern?
Meistermann: Die St. Gereon-Gemeinde ist eine sehr intelligente Gemeinde mitten in der Stadt und hat sich natürlich einige Leute geholt, z.B. Professor Nyssen, der ist Studentenseelsorger, und den Dompfarrer Hofmann, der hat promoviert in Kunstgeschichte. Das ist ein Glücksfall, wenn man so will. Und die beiden haben die Thematik aufgebaut. Ursprünglich war zum Beispiel die thebäische Legion vorgesehen, zu der Gereon hingesandt wurde, um sie zur kaiserlichen Ordnung zu rufen. Dann wurde er aber auch Christ und wurde mit hingerichtet. Ich will natürlich keine römischen Krieger mit römischer Uniform und Schilden machen. Was kann man also tun? Zwölf Apostel dagegen fand ich fabelhaft. Dann habe ich gesagt, dazu können wir aus der Apokalypse die vier Wesen machen und die vier Reiter. So haben wir eine große Verbindung. Die Apostel stehen genau auf der Scheide vom Alten Testament zum Neuen. Das Ganze basiert auf dem Johannes-Evangelium. Dazu im Chor die Verkündigung. Wieder eine Situation der Urchristenheit in Abtrennung oder Erfüllung zum Alten Testament. Auf diese Art und Weise erhielt ich einen Zyklus. Es kommen aber auch Anfragen von einem Pfarrer, er hätte gerne das 'Vater unser' in Glas. Aber ich kann nicht malen 'Vater unser, der Du bist im Himmel ...' Das 'Vater unser' kann man aufschreiben und sprechen, mehr nicht. Ich kann es nicht darstellen, ebenso wenig wie das Credo. Ich kann nicht malen 'Ich glaube an Gott, den Vater ...' Es gibt Dinge oder Inhalte, die sind verbal in der vollkommensten Weise dargestellt. Das 'Vater unser' ist ein solch vollkommenes Werk. Wie ein Gedicht von Hölderlin, das kann ich auch nicht illustrieren. Ebenso wenig kann ich eine Philosophie illustrieren. Es gibt Dinge, die kann ich darstellen. Es gibt auch Dinge, die kann ich als Geheimnis darstellen. Ich kann das Geheimnis darstellen als etwas, das ich anschauen kann, aber ich kann es nicht fassen, das ist der Sinn des Geheimnisses. Wenn ich das jetzt entlarven würde, wäre das Stümperei. Man muss sehr viel Geduld haben, um das klarzumachen. - Es kommen auch Geistliche, die sagen, wir haben einen, der macht uns das 'Vater unser'. Dann sage ich, bitte schön, soll er machen, das ist für mich kein Problem. Das gehört auch zur Wahrhaftigkeit der Inhalte, die visuell darstellbar sind. Ich kann nicht malen 'Christus ist auferstanden von den Toten', aber ich kann den Auferstandenen in einer Figur darstellen, und zwar möglichst ohne Physiognomie. Also keine Gesichter, wo einer sagt, das gefällt mir nicht. Ich muss abstrahieren.
Mertin: Wie versuchen Sie, die Themen den Leuten nahe zu bringen?
Meistermann: Nehmen wir als Beispiel die vier Propheten, die dargestellt werden sollten. Das fand ich sehr schön. In der Mitte die Hochzeit des Lammes, ein wunderbares Thema. Maria und Johannes und dazwischen das Lamm mit dem Buch und den sieben Siegeln. Alles darstellbar, das kann man anschauen. Dann habe ich überlegt, wie verdeutlicht man das? Es ist ja vollkommen sinnlos, den Figuren einen Judenhut aufzusetzen und ihnen ein Spruchband auf den Bauch zu machen, wo dann draufsteht, Jesaja usw., das versteht kein Mensch. Sie müssen daran denken, dass die Baedecker-Besucher fragen, 'Jesaja' - wer ist denn das? So geht es nicht. Ich bin dann auf eine Idee gekommen. Die Propheten haben generell vier Inhalte: schauen, predigen, lauschen und zürnen. Also habe ich diese vier Typen abstrahiert in den Schauenden, den Sprechenden, den Lauschenden und den Zürnenden. Ich habe es so ausgeführt und das sehen die Leute auch. Selbst Leute, die vom Glauben keine Ahnung haben, sehen, dass da einer zürnt. Das ist eine Frage, die aufgrund des Bildes nach Instruktion oder Mitteilung verlangt bzw. nach Information. Das glaube ich, kann man machen. Im Eingang sind vier Fenster. Das vierte Fenster besteht aus acht kleinen Rosetten. Da Christen und Nichtchristen in die Kirche gehen, schreibe ich jetzt rund herum auf diese Scheiben den Anfang des Johannes-Evangeliums, den Prolog. Das kann jeder lesen, der reinkommt. Der liest 'Am Anfang war das Wort. Und wenn einer nachdenklich ist, hat er einen Grund, sich das übrige in einer Kirche, nicht nur die Fenster, ein bisschen anders anzugucken. Dann habe ich noch, um die Herkunft zu dokumentieren, das Ganze in Griechisch aufgeschrieben, und das wird jetzt an einer Stelle in der Mitte auf eine Scheibe für sich geschrieben, die sehr leuchtend ist, so dass das den anderen Text hinterlegt. Das sind meine Überlegungen, einer Sache gerecht zu werden.
Mertin: Sie haben nicht nur Werke für Kirchen geschaffen, sondern auch für 'weltliches' Publikum. Gibt es dabei Unterschiede von den Reaktionen her?
Meistermann: Ja, beim 'weltlichen' ist es einfacher. Wenn man für sogenannte weltliche Institutionen arbeitet, also für Profanbauten, dann ist das meist einfacher. Entweder ist das ein Aufsichtsratgeschäft oder wie in Frankfurt bei der Deutschen Bank ein direkter Auftrag. Aber es gibt natürlich auch Probleme. Für den Hearingsaal im Bundestag hatte ich die Idee, Namen aufzuschreiben ('Ehrenchronik demokratischen Verhaltens' in Opakglastafeln eingebrannte Namen von Persönlichkeiten aus der Zeit 1800 - 1945) die sind später abgehängt worden und sollen nun wieder rein. Darum hatte es einen Riesenwirbel gegeben, weil z.B. Rosa Luxemburg draufstand. Ich habe in Bonn in einem naturwissenschaftlichen Institut in der alten Universität Fenster und Portaltüren gemacht. Dem Chef des Lehrstuhls war das zu abstrakt. Und das Problem wurde dann sehr 'schön' gelöst immer wieder ging eine Scheibe kaputt und da setzte man dann Klarglas ein, bis die ganze Tür aus Klarglas besteht. Ich bin darüber nicht weiter traurig, das ist mir ziemlich egal.
Mertin: Es gibt eine Tradition im Christentum, die das alttestamentliche Bilderverbot aufgenommen hat und radikal ernst nimmt. Wie stehen Sie zum Bilderverbot im Christentum?
Meistermann: In den 50er Jahren gab es eine neue Tendenz, die hing zusammen mit Dorothee Sölle, mit einer völlig neuen Auffassung von Theologie und Gemeinde. Diese Situation war von sehr deutlicher Diesseitsbezogenheit das Metaphysische, Transzendente spielte kaum mehr eine Rolle. Da kam so etwas auf wie die Meinung, wenn Gott überall ist, dann ist er im Kuhstall genauso wie in der Kirche. Warum sollen sich dann Kuhstallfenster von Kirchenfenstern unterscheiden? Nur hat man damals versucht, überall Kuhstallfenster zu machen, statt im Kuhstall andere Fenster zu machen. Das waren die Jahre, in denen ich wenig zu tun hatte, weil ich da nicht gewünscht war. Da kamen die vielen Dekorationsfenster, die waren Design, nicht mal Ornamente. Es gab in der Kirche keinen Korpus mehr am Kreuz. Es wollte kein Mensch mehr etwas wissen von dem Leiden Christi und von Inhalten, durch die man zumindestens angestoßen werden kann, eine Entscheidung zu treffen. Dekorative Kreuze, kein Kruzifix.
Mertin: Was antworten Sie, wenn Ihnen jemand sagt, wir sollen doch keine Bilder machen, das Beste wären also in einer Kirche durchsichtige Fenster? Wie stehen Sie dazu, auch nach Ihrem eigenen religiösen Empfinden?
Meistermann: Ich bin ganz gegenteiliger Meinung. Die Kirche ist ein Ort, wie zunächst einmal jeder Raum etwas ist, was der Mensch baut, um sich vor dem umgebenden Kosmos zu schützen. Früher war der noch viel glaubhafter von Dämonen usw. besetzt, es spukte, man hatte Kerzenlicht, das flackerte, es gab Schatten. Das gab der Fantasie immer einen ungeheuren Auftrieb. Dies ist fast vorbei, ich finde das ein bisschen schade. Ich kann nur sagen, eine Gemeinde nimmt aus dem gesamten Kosmos einen Raum heraus, schneidet ihn aus, umzingelt ihn mit Mauern und setzt eine Decke oben drauf. Dieser Raum dient aber nicht mehr zum privaten Schutz, als eigene Wohnung, sondern die Gemeinde wählt ihn sich als Ort. Sie überlegt sich gut, wie er aussehen soll, um dort etwas zu tun, was mit dem allgemeinen täglichen Ablauf des Menschen nichts zu tun hat. Er kann da zwar lernen, wie man den täglichen Ablauf in bestimmte Richtungen praktizieren soll, aber erst einmal ist dieser Raum etwas anderes. Wenn ich diesen Raum durch Fenster so offen lasse, dass ich, wenn ich rausgucke, Flugzeuge vorbeifliegen sehe, dann kann ich keiner Predigt mehr konzentriert folgen und auch bei einer Eucharistiefeier keine Andacht mehr haben. Wenn man das zuspitzt, kann man fragen, brauchen wir überhaupt noch Kirchen? Kann man nicht Sonntag morgens in der Wirtschaft den Tresen abbauen, das Bierfass runtersetzen, ein Kruzifix hinstellen und dort die Messe feiern? Das kann man natürlich machen. Nur weiß ich aus Erfahrung - wenn ich in Kirchen gearbeitet habe -, da sind viele alte Menschen, die gehen in die Kirche, sehen vorne das 'ewige Licht' brennen mit dem Tabernakel dahinter, setzen sich dahin und verdrücken mal ganz still eine Träne. Ich glaube, dass Kirchen dringend nötig sind, einfach um einen Ort zu haben, wo man mal mit sich oder dem Herrgott alleine ist. Es gibt jedenfalls in der Massengesellschaft immer noch den einzelnen, der den Wunsch hat, gelegentlich für sich zu sein, sich zu sammeln um neue Kraft zu schöpfen. Das ist sicher auch der Grund, warum Diktaturen gegen die freie Kunst sind, weil Kunst immer den Menschen vor sich selber stellt. Sie können die 5. Sinfonie von Beethoven hören, aber Sie können nicht mitteilen, was Sie hören. Sie können darüber streiten, ob Karajan das besser macht oder Bernstein, aber Sie können den Inhalt dessen, was sie empfinden, nicht verbalisieren. Das bedeutet, Sie sind vor einem Kunstwerk sich selbst überlassen und dieses Sich-Selber-Überlassen-Sein wollen die Diktaturen nicht. Für sie ist die Gemeinschaft alles, der einzelne nichts. Insofern kann man sagen, die Kunst ist für den Menschen dringend nötig, ich würde sagen, man muss sie absolut ernst nehmen.
Mertin: In einem Aufsatz über Ihre Fenster in St. Gereon steht, sie verkörperten die Stimme des Rufenden und auch Ihre Fenster wären Botschaften. Sind die Glasfenster Ihre Art, Ihren Glauben darzustellen?
Meistermann: Nein. Ich kann den Glauben gar nicht darstellen. Doch ich kann etwas anderes tun. Ich finde z.B. die Figuren von Heiligen ideal für Glasfenster. Es sind durchleuchtete Figuren, erleuchtete Personen. Die Franzosen sagen von Leuten, die intelligent sind oder weise, sie seien Personen 'avèc de lumierè'. Eine erleuchtete Figur wird gegen das Licht gestellt und wird vom Licht aus wirksam, wobei das Licht eine märchenhafte Rolle spielt. Es geht ständig etwas mit dem Fenster, mit der Figur vor.
Mertin: Es gibt so etwas wie eine Renaissance des Heiligen in der Kunst. Das Heilige ist auch in der Philosophie ein sehr aktuelles Thema. Ist das Heilige, also eigentlich das Unaussprechliche, ein Kerngebiet der Kunst?
Meistermann: Ja natürlich, das, was man nicht aussprechen kann, kann man malen. Wenn ich es aussprechen kann, kann ich ein Gedicht machen, sonst muss ich es malen. Wie die Musik eine Sache für die Ohren ist, so ist die Malerei etwas für die Augen. Deswegen kann ich mit Bildern keine Revolution machen. Ich kann sehr revolutionär sein, ich kann auf die Barrikaden gehen, aber wenn ich Bilder male, male ich Bilder. Da geht es um Farben, da geht es um die Präzision dessen, was sich da mit Hilfe der Farben artikuliert. Ob das ein Bild ist im philosophischen Sinn, dass es für etwas steht, das kann ich nicht beurteilen. Das Wort 'profan' bedeutet 'vor dem Heiligen' stehend. Ich kann sagen, jeder Mensch hat ein Geheimnis. Und ein Mann wie Wols, der nach diesem Geheimnis sucht, hat eine Empfindung dafür, dass er etwas ausdrücken will, das andernorts einen Widerhall finden könnte, bei empfindsamen Menschen, bei Leuten, die sehen und hören können.
Mertin: Kommen wir einmal zu den Auftraggebern mit denen Sie zu tun haben. Wenn Sie in einer Kirche Glasfenster machen, mit wem sprechen Sie dann, mit dem Pfarrer, mit dem Kirchenvorstand? Wie stellen Sie sich dann den idealen Entscheidungsprozess in einer Gemeinde vor? Lässt sich Kunst in dem Sinne demokratisieren, dass die Gemeinde darüber entscheiden könnte?
Meistermann: Nein, das hat damit auch gar nichts zu tun! Die Gemeinde soll sagen, wir glauben, du glaubst auch und dann werden wir gemeinsam schon das richtige machen, wenn du das machst. Ich sehe das so: ich muss mit dem Talent wuchern, das ich habe, d.h. ich muss für das Kapital, das ich habe, Zinsen schaffen. Es ist doch sehr einfach zu sagen, dass ich dieses Talent vom lieben Gott habe und es macht mir riesigen Spaß, diese Zinsen zu erstatten. Das ist also der Hintergrund, wenn ich Fenster mache, dann tue ich das aus Freude an meinem Talent, das ich von Gott habe.
Mertin: Es gibt auch Kritik an Ihren Werken. Ist das beabsichtigt, soll Ihre Kunst weh tun, soll sie provozieren? Sie haben gesagt, und im Katalog des Archivs der bildenden Künste in Nürnberg steht das als Motto: "Meine Kunst soll durch das gekennzeichnet sein, was man an ihr beanstandet."
Meistermann: Ja, 'beanstanden' bedürfte hier eines Kommentars. Ich möchte machen, was es nicht gibt. Besser gesagt, ich möchte das machen, was der Zeit fehlt, also eine Genauigkeit der Sinne. Eine Überlegung, ob das alles ist, was der Mensch heute mit sich machen lässt. Wenn ich sage, ich möchte das machen, was der Zeit fehlt, dann schließt das ein, dass ich anecke.
Mertin: Wie weit lassen Sie sich auf Kritik Ihrem Werk gegenüber ein?
Meistermann: Wenn die Kritik sachlich ist, d.h. wenn sie mit den Kriterien misst, die ich selber stelle. Wenn ich z.B. sage, in St. Gereon mache ich euch die schönsten Fenster, die es seit 400 Jahren gegeben hat. Das ist ein hoher Anspruch. Dann habe ich nichts dagegen, wenn einer an diesem Anspruch die Fenster misst, zu welchem Ergebnis auch immer er kommt. Ich möchte den Anspruch, unter dem ich angetreten bin, nicht unter den Scheffel stellen.
Mertin: Glasfenster, so sagen Sie, dienen dazu, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zugleich verfolgen Sie, zumindest bei einigen Ihrer Werke, ein Bildprogramm. Wie soll das Publikum mit ihren Arbeiten umgehen?
Meistermann: Da kann ich nur sagen, wie ich mit Bildern von Picasso oder Braque umgehe. Ich bin ein neugieriger Mensch, was Bilder angeht, und schaue mir an, was Velazquez und Greco und Rembrandt gemacht haben, ich habe da keine Präferenzen. Ich bin auch nicht unbedingt jemand, der sagt, das Alte interessiert mich nicht. Ich finde eine ägyptische Plastik genauso schön wie eine von Henri Laurens. Ich lebe nicht in einem Bewusstsein davon, dass ich in einer bestimmten Zeit existiere. Ich habe Geschichtsbewusstsein nicht im Sinne des Ablaufs von Zeiten. Sondern für mich ist Geschichte der Einbruch von Ereignissen in den Ablauf des menschlichen Wesens. Geschichte als Ablauf von Kontinuität ist für mich ein Kompromiss von Schreibern und Historikern. Den Begriff der 'Kunstgeschichte' finde ich pervers, weil ich nicht der Meinung bin, dass im 20. Jahrhundert so etwas wie Kontinuität vorhanden ist. Beckmann, Mondrian, Lehmbruck, Laurens, Brancusi und Moore, heterogener kann Kunst doch gar nicht sein. Was hat das mit Geschichte der Kunst zu tun? Das sind doch typische Beispiele dafür, dass Kunst sich ereignet durch bestimmte Personen, die einen 'Schlag' bekommen haben. Als ich an den Aposteln arbeitete, habe ich gelegentlich gesagt, überlegt bitte doch einmal, wie das ist. Da kommt der Paulus zu den Leuten in Jerusalem und sagt, ich habe auch einen 'Schlag' gekriegt, ich bin jetzt auch einer von euch. Christus hat mich persönlich berufen. Dann sagen die, mein lieber Freund, gestern hast du aber noch Leute von uns verfolgt. Jetzt sollen wir dir das abnehmen, hast du Zeugen? Na also, da muss du verstehen, dass wir da sehr vorsichtig, sehr skeptisch sind. - Sie sehen, wie real die Situation vor 2000 Jahren war. Die würde heute auch nicht anders sein.
Mertin: Kirchgänger werden nicht als Kunstkenner geboren. Wie stellen Sie sich die Vermittlung Ihrer Werke an die Kirchgänger vor? Soll der Pfarrer darüber predigen?
Meistermann: Man sollte so darüber reden, wie wir das die ganze Zeit tun. Sehr ausführlich, sehr gründlich. Die Leute müssen sich die Zeit nehmen, die ich mir nehme. Ich halte jeden Menschen für wichtiger als jedes Bild, das je gemalt worden ist.
Mertin: Dann wird aber die Frage der Vermittlung an den Kunstbetrachter unausweichlich. Wie bringt man die Kunst den Menschen nahe?
Meistermann: Indem man darüber redet. Indem man über Sinnlichkeit, Wahrhaftigkeit und all das redet. Ich habe mit Studenten nach dem Kriege zusammengesessen, die wollten mit mir über meine Bilder reden. Ich habe sie eingeladen, habe Bilder aufgehängt und gefragt, 'Was sehen Sie denn?' - 'Nichts.' - 'Ja, das stimmt doch nicht. Natürlich sehen Sie etwas. Sie sehen ein bestimmtes Format und bestimmte Farben.' - 'Ja, natürlich.' - 'Welche Farben sehen Sie denn? Welche sind nicht vorhanden?' Dann haben wir eine Stunde diskutiert und zum Schluss habe ich gefragt, wie sie das Bild denn nun nennen würden - und sie sagten, das könne man so und so nennen. Dann haben wir das Bild herumgedreht und der Titel stimmte zumindest ungefähr. So kann man an die Sache herangehen.
Mertin: Im 20. Jahrhundert ist oft gefragt worden, was Wissenschaftler für Menschen sind. Ich möchte diese Frage abgewandelt auch an Sie stellen: Was sind Künstler für Menschen? Menschen, wie du und ich, Menschen mit einer besonderen Begabung?
Meistermann: Ich glaube, dass Künstler sich so total von anderen Leuten unterscheiden, wie sich Mann und Frau unterscheiden. Das schließt ein, dass jeder Mensch verschieden ist, dass jeder Mensch ein einzigartiges unverwechselbares Wesen ist. Der sogenannte Künstler ist jemand, der sich über diese Eigenartigkeit stets den Kopf zerbricht. Er fragt sich, wieso empfinde ich anders. Dass Künstler sich von der Gesellschaft unterscheiden, sehen Sie an Phänomenen wie Joseph Beuys, bei dem es sehr deutlich wird, dass er anders ist als andere Menschen. Die Unterscheidungsmerkmale sind dabei jeweils subjektiv. Beethoven unterscheidet sich anders, als Brahms, Mozart oder Schubert sich jeweils von der Gesellschaft unterschieden haben. Künstler haben zudem ein großes Empfinden für Chaos. Künstler sind Naturen, die eigentlich gerne in Frieden leben würden und deren Welt mehr als die anderer Bürger gestört wird von politischen oder anderen Ereignissen. Eine Katastrophe kann ich vielleicht noch hinnehmen, das kann ich begreifen. Aber eine Vereinbarung über SDI, die kann ich nicht verstehen. Das ist eine so total andere Welt und ich finde, das ist eine Welt, die hassenswert ist. Eine Welt, die auf nicht vorhersehbare Ereignisse mit gefährlichen Programmen reagiert, deren Konsequenzen unausbleiblich sein werden, das finde ich kriminell. Ich bin manchmal zu 'Happenings' gefragt worden. Ich bin 1911 geboren und ich habe sehr viele kriminelle Typen kennen gelernt. Ich finde, dass Politiker, Ärzte, Architekten in diesem Jahrhundert mehr verbrochen haben, als Künstler überhaupt verbrechen können. Die Künstler sollen machen, was sie wollen, das ist doch harmlos gegen die Verbrechen von Politikern und Ärzten in diesem Jahrhundert.
Mertin: Repräsentiert Kunst ein Gegenprogramm, eine Gegenwelt?
Meistermann: Sicher. Kunst ist die eigentliche, natürliche Welt oder die menschlichere Welt. Es ist sicher sinnvoll, Bilder zu malen, es ist sicher sinnvoll, ein Instrument zu erfinden. Gucken Sie sich mal ein Waldhorn an. Was hat sich der Mensch denn dabei gedacht? Wie ist er darauf gekommen, dass es so und soviel Drehungen haben muss, damit der Waldhornton raus kommt? Das ist doch atemberaubend: Dagegen ist jede politische Propaganda oder einfach jede politische Handlung unmenschlich.
Mertin: Zum Abschluss die Frage, was Sie der Kirche raten würden, wenn sie Kunst und Kirche ins Gespräch bringen wollte?
Meistermann: Da würde ich sagen, seht zu, dass ihr gute Künstler findet, die Geduld haben mit einer anspruchslosen bis anspruchsvollen Gemeinde, mit einer eigensinnigen Gemeinde mit dickköpfigen Mitgliedern, mit anderen, die sehr gerne zuhören, solange über die Kunst oder Kunstwerke zu reden, bis die Gemeinde etwas begriffen hat. Ich nehme es der Kirche etwas übel, dass viele Repräsentanten der Amtskirche den Menschen unterschätzen, dass sie ihm nicht zutrauen, dass er sein eigenes Gewissen, seinen eigenen ästhetischen Verstand, seinen eigenen Geschmack hat.