Die Entmythologisierung des Museums
Eine kleine Übersicht
von Andreas Mertin
[Originalbeitrag]
Der Ursprung des Museums ist die Kirche und der Krieg
Wer heute die Ruinen des alten Kultortes Delphi betritt, der in der Landschaft Phokis am Abhang des Parnass hoch über dem Golf von Korinth liegt, und durch die Anlage des Heiligtums wandert, bekommt einen Eindruck von der ursprünglichen Verquickung von Kunst, Kirche und Krieg. Delphi ist eine alte Orakelstätte, die bis in das 2. Jahrtausend vor Christus zurückreicht und schon immer ein besonderes Verhältnis zur Kunst hatte. Am Anfang steht ein Kunstraub. Einer der ältesten bekannten Orakelsprüche, noch aus dem 2. Jahrtausend, ergeht an Orest mit dem Inhalt, dass er sich vom Muttermord entsühnen könne, wenn er das Bildnis der Artemis aus dem fernen Taurus raube und nach Athen bringen. Andere Empfänger von Orakelweisungen drückten ihren Dank in Weihegaben aus, die sie in Delphi häuften und die von den einzelnen griechischen Staaten zum Teil in Schatzhäusern, den ersten Museen der Welt, zusammengestellt wurden. Über 20 solcher Schatzhäuser säumen die sog. Heilige Straße. Dabei kam es zu einem regelrechten Wettstreit der Staaten untereinander. Entsprechend dem wechselnden Kriegsglück präsentierten die Sieger ihre Weihegeschenke gegenüber den alten Weihegeschenken der Unterlegenen. Zahlreiche, wenn nicht die Mehrzahl der Weihegeschenke gehört unmittelbar in den Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen. Auch das Ende von Delphi ist im wesentlichen eine Geschichte des fortgesetzten Kunstraubs. Wie Konstantin der Große ließen zahlreiche Kaiser Kunstwerke aus Delphi abtransportieren, um damit die Hauptstadt zu schmücken. Und so konnte die sagenhafte Pythia, als der letzte heidnische Kaiser Oreibasios um ein Orakel bat, nur noch das eigene Grabepigramm verkünden: Sagt es dem Herrscher: zerstört ist die kunstgesegnete Stätte, Phoibos hat kein Heim mehr und keinen mantischen Lorbeer, nicht mehr dient ihm die Quelle, verstummt ist das murmelnde Wasser.
Mit der Plünderung der griechischen Schatzhäuser und Tempel durch die Beutezüge der Römer erfolgte eine Privatisierung der bis dahin öffentlichen Sammlungen. Die römischen Feldherren ließen die Beutestücke entweder zu hohen Preisen versteigern oder statteten damit ihre Privathäuser aus. Das führte im Gegenzug zu der politischen Forderung nach restloser Veröffentlichung der Sammlungen durch Überführung der Beutestücke in öffentliche Gebäude. Summarisch hat Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen diese Entwicklung der Anhäufung von Kulturgütern so skizziert: Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.
Das Museum als Ideologieträger
Die Funktionen, die den ersten Museen zugewiesen wurden, sind vielfältig und schillernd, je nach den ausgestellten Gegenständen, ihren Stiftern und Sammlern und der jeweiligen Zeitgeschichte. So werden noch Fürstenmuseen geplant und ausgeführt, wo andernorts seit vielen Jahrzehnten bürgerliche Museen existierten. Andererseits pflegte manches bürgerliche Museum eine Zugangspraxis, die man eher bei einem Fürstenmuseum vermutet hätte. Was unterscheidet die verschiedenen Museen königlich-fürstlicher, revolutionärer oder bürgerlicher Provenienz, wenn es nicht die Kunstwerke sind, die in ihnen ausgestellt wurden und werden? Die Kirche hatte ihre Kunstschätze häufig der Öffentlichkeit zur Schau gestellt, allein schon deshalb, weil viele Kunstwerke direkt in den Kult integriert waren. Die ästhetische Akkumulation gehört seit dem 5./6. Jahrhundert zu den Kennzeichen kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit, freilich nicht unwidersprochen, wie die parallel verlaufende Geschichte des Bilderstreits und -sturms zeigt.
Am Bilderstreit lässt sich auch eine Problematik aufzeigen, die alle revolutionären wie gegenrevolutionären Bewegungen eint: das Problem des Umgangs mit den Kunstwerken der besiegten Gruppe, sei es mit den Kunstwerken des Katholizismus in der Reformation, sei es mit denen des Adels in der Französischen Revolution, sei es auch mit der Avantgarde in der nationalsozialistischen Bewegung. Die Alternativen für die jeweiligen Sieger lauteten Vernichtung, Verkauf oder Zurschaustellung. Für die Vernichtung sprach, dass die Kunstwerke der geschlagenen Partei zugleich deren Ideologie transportierten, und dass mit der Vernichtung der Kunstwerke zugleich die Ideologie empfindlich getroffen werden konnte. Dies ist ein gemeinsamer Nenner aller Bilderstürmer seit dem Alten Reich in Ägypten über die Reformation bis hin zum Prager Frühling oder auch zur iranischen Revolution. Für den Verkauf sprach, dass Kunstwerke totes Kapital darstellen, dass der Zirkulation des Geldes entzogen ist und durch den Verkauf für den Staatshaushalt produktiv genutzt werden konnte. So wurden im byzantinischen Bilderstreit wie im nationalsozialistischen Bildersturm zahlreiche Kunstwerke zu Geld gemacht. Für die Ausstellung der erbeuteten Kunstwerke sprach, dass dadurch die unterlegene Ideologie als überwundene und damit ungefährliche Ideologie denunziert werden konnte. Das zehrte von der Erfahrung, dass die Aneignung der fremden Ideologie durch Integration sich als die beste Waffe im Kampf der Ideologien erwiesen hatte. Einige Bewegungen haben diesen gordischen Knoten ganz alexandrinisch gelöst, indem sie die Kunstwerke erst zur Schau ausstellten und sie dann vernichteten: so etwa Savonarola bei der Verbrennung der Eitelkeiten in Florenz, oder der Nationalsozialismus, der die verfemten Kunstwerke unter dem Titel "Entartete Kunst" ausstellte und sie später verkaufte, sich aneignete oder vernichtete.
Auch die französische Revolution hatte sich mit dem Problem der Neutralisierung der Beute auseinander zusetzen. Die erste spontane Reaktion des Volkes war denn auch die Zerstörung der Kunstwerke, gefolgt von einem schwunghaften Handel mit erbeuteten Stücken und Sammlungen. Es ist dem Künstler Jacques Louis David zu verdanken, dass die Sammlungen des Adels und der Kirche seit 1793 bzw. 1795 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten. Die Entscheidung, die Kunstwerke nicht zu zerstören, sondern aufzubewahren, ja sogar auszustellen, fußt auf bestimmten Voraussetzungen. Zum einen, wie erwähnt, auf der Überzeugung, dass die Präsentation erbeuteter Kunstwerke ideologisch effizienter ist als deren Vernichtung, zum anderen aber auch darauf, dass sich politische, kirchliche und künstlerische Bewertung von Kunstwerken trennen lassen. Denn nur unter dieser Voraussetzung konnten die Werke unter veränderten historischen Voraussetzungen in den Museen hängen bleiben. In den Revolutionsmuseen von 1793 und 1795 hatten die Kunstwerke vor allem eine didaktische Funktion. So sagte der Künstler David: Täuscht euch nicht, Mitbürger, das Museum ist keine oberflächliche Ansammlung von Luxusgegenständen oder Frivolitäten, die nur der Befriedigung der Neugier dienen sollen. Es muß eine Ehrfurcht gebietende Schule werden. ... Wir schreiben nach Art der Alten unsere Geschichte in Monumenten sie sollten groß und unsterblich sein wie die Republik, die wir geschaffen haben und der Genius der Kunst, Erhalter erhabener Werke, die wir besitzen, sei zugleich ein schöpferisches Genie, das neue Meisterwerke hervorbringt.
Auf die Ehrfurcht, die den Kunstwerken entgegengebracht wird, setzten auch die deutschen Fürsten, als sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Museen für eine größere Öffentlichkeit bauten. Walter Grasskamp charakterisiert die hinter den Museumsgründungen des Adels versteckte Ideologie so: Die Fürstenmuseen repräsentierten den Anspruch der Feudalherrscher, für die Kultur verantwortlich zu sein und in ihrer Existenz dadurch gerechtfertigt zu bleiben, dass nur sie der Kultur Fortbestand sichern konnten. Das Angebot der Fürstenmuseen gegenüber dem Bürgertum war daher ebenfalls erzieherischer Art ... Die Fürstenmuseen räumten damit dem Bürgertum die Möglichkeit ein, den Blütestand der Kultur als Verdienst des Adels kennenzulernen mit diesem Angebot der Teilhabe an einer bisher verschlossenen Kultur verknüpfte sich aber auch der Anspruch auf soziale Unentbehrlichkeit. Dass die Bestechungsversuch gegenüber dem Bürgertum und insbesondere gegenüber dessen Intellektuellen im wesentlichen geglückt ist, davon gibt die Schilderung Goethes beim Betreten der Dresdener Gemäldegalerie, die wir letzte Woche hörten, beredt Zeugnis. Das gebildete und aufstrebende Bürgertum hat die Fürstenmuseen und die mit ihnen vorgefertigte Form der ästhetischen Vermittlungsarbeit bzw. ästhetischen Distanzierung begeistert begrüßt.
Aber das Bürgertum war auch dem Gedanken eigener Museumsbauten zugänglich. Am Ende des 18. Jahrhunderts bürgerte sich das Wort "Museum" als Name von Lesegesellschaften ein und wurde als Titel von Sammelwerken und Zeitschriften benutzt. Zu diesen Schriften gehören das 1776-1788 von Dohm und Boie herausgegebene "Deutsche Museum" und seine 1798-1799 erschienene Fortsetzung "Neues Deutsches Museum", das von Wieland seit 1796 herausgegebene "Attische Museum", das legendär gewordene Periodikum der Romantiker "Deutsches Museum", 1812-1813 herausgegeben von Friedrich Schlegel, das 1833 begründete "Rheinische Museum für Philologie" oder das ebenfalls 1833 begonnene "Museum" von Franz Kugler. Diese Zeitschriften sowie die Kenntnis der Museen in Rom, London, Kassel und Paris und die fürstlichen Bemühungen um die Gründung eigener Museen förderten das Interesse begüterter bürgerlicher Kreise für den Museumsgedanken. So gewann insbesondere nach der Aufstandsbewegung von 1848 auch das Bürgertum Geschmack an der Idee, exklusive Räume für die Kunst zu schaffen. Exklusiv waren die ersten dieser Häuser zunächst allerdings nicht für die Kunst, sondern für ihre Mitglieder. Es war nicht jedermann der Zutritt gestattet, vielmehr trafen sich hier Privilegierte um im Stil englischer Clubmitglieder miteinander zu kommunizieren.
In Bremen entstand 1806, in Karlsruhe 1813 ein Haus "Museum". Beide waren jedoch nichts anderes als Klubhäuser exklusiver Gesellschaften, die nebenbei kleine Sammlungen unterhielten. So war die Bremer Gesellschaft "Museum" zunächst der Mittelpunkt des geistigen Lebens in Bremen, entwickelte sich dann aber immer mehr zum Herrenklub. In Karlsruhe entwickelte sich aus einer 1775 gegründeten Lesegesellschaft die Gesellschaft "Museum", deren Tendenz nicht Speculation oder Gewerb oder sonstiger Privat-Gebrauch, sondern lediglich edle und schöne Geistes-Bildung und Erhöhung gesellschaftlicher Kultur war. Das Gebäudes des 1814 feierlich eingeweihten Haus "Museum" in Karlsruhe stand an einer spitzwinkligen Straßenecke. Die schräg aufeinanderzulaufenden, dreigeschossigen Straßenfronten endeten in einer Halbrundung, um die über dem Eingang ein Balkon gelegt war. Die Fassaden bauten sich aus rustiziertem Erdgeschoss mit Rundbogenfenstern und glatten Obergeschossen mit rechteckigen Fenstern auf. Die vordere Rundung öffnete sich im Hauptgeschoss mit großen Rundbögen zwischen jonischen Kolossalpilastern, die ein Gebälk mit breitem reliefiertem Fries trugen. Das raffiniert aufgeteilte Innere enthielt neben dem alles beherrschenden großen Saal vor allem Spiel-, Speise- und Gesellschaftsräume, sowie die Wohnung eines Wirts. Die Wandlung vom Sakralbau Kirche zur Kultstätte Museum lässt sich sehr gut an dem ersten eigenständigen bürgerlichen Museumsbau, dem 1845 eingeweihten Innsbrucker Museum Ferdinandeum beobachten. War in vergangenen Jahrhunderten die Kirche oder das Rathaus Zentrum des Dorfes bzw. der Stadt, so wird hier erstmals ein Musentempel zum repräsentativen Zentrum und Ausgangspunkt einer ganzen Stadtteilplanung.
Kunstgeschichte als Voraussetzung des Museums
Kunstgeschichte ist die historische Rekonstruktion des vergangenen ästhetischen Prozesses. Solange man noch Kunst als Kunstanschauung beschrieb, erschöpfte sich Kunstgeschichte in der Aneinanderreihung von Künstlerviten. G. W. F. Hegel markiert den Wendepunkt zur heutigen Kunstgeschichtsschreibung er ist es auch, der zuerst vom Ende der Kunst spricht. Hegel dachte, über seiner Zeit wölbe sich die Abendröte. Der Mensch konnte jetzt auf ein langes Tagwerk zurückblicken. In der Dämmerung lag vor ihm, ausgebreitet in die Ferne von Jahrtausenden, eine vollständige Sammlung der Weltkunst. Jedes Werk stellte eine versteinerte Form des Bewusstseins dar, welches die Menschheit zurückgelassen hatte auf ihrer langen Wanderung zu sich selbst. Wie die Eule erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt, so schwangen sich Hegels Gedanken auf, zu einer Reise des Geistes in die eigene Vergangenheit. Was den Gang der Geschichte nur blind und drängend vorangetrieben hatte, sollte als umfassende Rückschau im Wissen aufbewahrt werden. Den Prozeß der Rückerinnerung hielt er fest in den Vorlesungen über Ästhetik und Geschichte. Hegels imaginäres Museum bestand aus einer Flucht von drei gewaltigen Sälen: Der Erste war der Architektur des Morgenlandes gewidmet, der Mittlere beherbergte die Skulpturen des antiken Griechenlands, die Malerei des abendländischen Christentums folgte als Letztes. Mit ihr kam die Kunst zu ihrem Ende.
Im Februar 1979 füllt sich der kleine Saal im Centre Pompidou in Paris mit dem gleichmäßigen Ticken eines Weckers. Der Maler Hervé Fischer misst die Breite des Saales mit einem Zentimeterband. Von links nach rechts schreitet er vor dem Publikum entlang. Er ist in Grün gekleidet und trägt ein weißes indisches Hemd mit Blumenstickereien. Mit der einen Hand hält er eine weiße Schnur, die in Augenhöhe aufgehängt ist. Mit der anderen hält er ein Mikrophon, in das er hineinspricht: Von mythischem Ursprung ist die Geschichte der Kunst. Magique. Ieux. Age. Anse. Isme. Neoisme, Isme. Ique. Han. Ion. Hic. Pop. Hop. Kitsch. Asthme. Isme. Art. Hic. Tac. Tic. Vor der Mitte der Schnur hält er inne und sagt: Einfacher Künstler, der ich bin, und Letztgeborener dieser asthmatischen Chronologie, erkläre ich an diesem Tag des Jahres 1979, dass die Geschichte der Kunst beendet ist. Er macht einen weiteren Schritt, schneidet die Schnur ab und sagt: Der Augenblick, in dem ich diese Schnur durchschnitten habe, war das letzte Ereignis in der Geschichte der Kunst. Dann lässt er die eine Hälfte der Schnur zu Boden fallen und fügt hinzu: Die lineare Verlängerung dieser gefallenen Linie wäre nur eine faule Illusion des Gedankens. Er lässt die andere Hälfte der Schnur fallen und sagt: Fortan befreit von der geometrischen Illusion, aufmerksam für die Energien der Gegenwart, treten wir in die Ereignisgeschichte der posthistorischen, der Meta-Kunst ein.
Zur Kritik des Museums
Fassen wir zusammen und versuchen wir zu ermitteln, woran sich eine Kritik des Museums entzünden könnte. Da ist zum einen die Tatsache, dass Kunstwerke oftmals Beutestücke aus kriegerischen Auseinandersetzungen sind, zusammengeraubt über viele Stationen im Laufe von Jahrhunderten. Noch heute könnten viele Museen ihre Pforten schließen, müssten sie jene Kulturgüter abgeben, die aus den Beutezügen des Kolonialismus oder aus den Kriegen vergangener Jahrhunderte stammen. Da ist zum zweiten die Tatsache, dass die in den Museen versammelten Kunstwerke erst sekundär zu solchen geworden sind, dass sie m.a.W. für andere Funktionskontexte geschaffen wurden. Die Arbeiten aus Delphi sind zunächst einmal Weihegeschenke, die in der Reformation enteigneten Altäre Kultobjekte, nicht Kunstwerke. Da ist zum dritten der Umstand, dass die Museen, wie wir gesehen haben, keine wertneutralen Dokumentationsstätten sind, sondern konkreten und handfesten Zielen dienen. So diente die Präsentation der Tafelbilder und Ikonen in den Kirchen der Versinn(bild)lichung des Glaubens, ja z.T. sogar der Rettung der Seelen aus dem Fegefeuer, die Gemälde und Grafiken der Reformation der Verbreitung einer Theologie, die Sammlung von Ölgemälden des Adels der Vergegenwärtigung und Präsentation des Reichtums seiner Besitzer, die frühesten öffentlichen Sammlungen des Staates der Ausbildung der Künstler bzw. der Bildung der wissenschaftlichen Zunft, die Fürstenmuseen der Erhaltung und Legitimation der feudalen Herrschaft, die Kunstvereine und ersten bürgerlichen Kunsthallen der Kommunikation und dem Zeitvertreib des begüterten Bürgertums. Weiterhin ist viertens festzuhalten, dass sich mit der Präsentation der Kunstwerke innerhalb der verschiedenen Museen ideologische Interessen der Museumsorganisatoren verbinden, sei es die Ausbildung oder die Einschüchterung der Besucher, die Präsentation des Reichtums der Besitzer oder die ideologiekritische Zurschaustellung überwundener Herrschaft.
Vor dem Hintergrund der Entstehung des Museums als Sammelort der Beutestücke der Geschichte, seiner Verwendung zur Legitimation bestehender bzw. sich etablierender Herrschaft, sowie seiner Verflachung zu einem positivistischen Demonstrationsort der Aufeinanderfolge von Stilentwicklungen ist die Kritik zu sehen, die sich insbesondere zu Beginn dieses Jahrhunderts am Museum entwickelte. Entfaltet werden soll diese Kritik in fünf teils aufeinander folgenden, teils parallelen historischen Schritten, beginnend mit der Kritik des italienischen Futurismus, über die Museumskritik der Dadaisten, den impliziten Museumssturm durch die Readymades von Marcel Duchamp bis hin zur alternativen bürgerlichen Konzeption eines Museums durch den Mäzen Karl Ernst Osthaus und die fingierte politische Aneignung der ästhetischen Kraft der Kunstwerke für den proletarischen Widerstand in Peter Weiß" Roman 'Die Ästhetik des Widerstands'.
Die Kritik des Futurismus oder: Modernolatria versus Passatismus
Die erste Kritik des Museums kreiste um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, von Altem und Modernem, von Passatismus und Modernolatrie, wie einer der führenden Kritiker formulierte. Artikuliert wurde diese Kritik vor allem in den Manifesten des italienischen Futurismus, die zu Beginn dieses Jahrhunderts für Aufsehen und Kritik sorgten. Warum, so fragten die Futuristen, hängen die Museen voller Werke vergangener Zeitalter, was legitimiert diese Werke, in welchem Verhältnis stehen sie zu den aktuellen Bewegungen der Zeit, welchen Beitrag können sie zur Gegenwart noch leisten?
Zur Disposition stand der Begriff der Tradition. Tradition, so schreibt Theodor W. Adorno, kommt von tradere, weitergeben. Gedacht ist an den Generationenzusammenhang, an das, was von Glied zu Glied sich vererbt wohl auch an handwerkliche Überlieferung ... Die Kategorie ist wesentlich feudal ... Mit bürgerlicher Gesellschaft ist Tradition strengen Sinnes unvereinbar ... Die falsche Tradition, die fast gleichzeitig mit der Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft aufkam, wühlt im falschen Reichtum. Diese Ambivalenz der Tradition ist es, der die Futuristen nachspüren. Sie schrieben: Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken. Museen: Friedhöfe! ... Wahrlich identisch mit dem unheilvollen Durcheinander von vielen Körpern, die einander nicht kennen. Museen: öffentliche Schlafsäle, in denen man für immer neben verhassten oder unbekannten Wesen schläft! Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer, die sich gegenseitig wild mit Farben und Linien entlang der umkämpften Ausstellungswände abschlachten.
Kritikpunkt der Futuristen war vor allem, dass die Museen ausschließlich von der Vergangenheit zehren, während um sie herum sich die Produktivkräfte entwickelten, sich die Produktionsverhältnisse änderten. Die Futuristen fragten, wie man angesichts von Radio, Automobil und technischem Fortschritt noch der Mythologie der Vergangenheit frönen könne. Sie kritisierten die Flucht des Bürgers in die kulturelle Tradition. Dagegen setzten sie auf ein neues Überdenken des Verhältnisses von Alltag und Kultur. Die Diffamierung der vorindustriellen Kunst ist für die Futuristen Teil einer Strategie gewesen, die das Bürgertum dazu zwingen sollte, sich nur über seine faktische historische Rolle und über seine produktive Leistung zu repräsentieren. Für diese Repräsentation boten sich die Futuristen als Hofdichter des Bürgertums an, denn sie wollten und konnten die Produkte des Bürgertums ins rechte Licht rücken: das Flugzeug, das Auto, die Eisenbahn, die Massenvernichtungswaffen, das Telefon, die Elektrizität, die Maschine, die Fabrik. So lautete denn auch einer der Slogans des Futurismus: Ein Rennwagen ist schöner als die Nike von Samothrake.
Das Bürgertum ist auf das Angebot wie auf die Kritik der Futuristen nicht oder nur zeitweise eingegangen. Ihre Konjunktur während des italienischen Faschismus, Marinetti brachte es zeitweise bis zum Minister, ging mit ihm unter, ihre Werke verschwanden in den Museen, eingereiht in den Traditionsstrang der Werke, die sie vormals hatten vernichten wollen. Die Futuristen waren von der kritischen Avantgarde zu den Hofkünstlern des Fortschritts geworden. Die Frage des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Museen blieb als ungelöste erhalten.
Dadaismus
Ein ähnliches Schicksal wie den Futurismus ereilte auch die zweite museumskritische Bewegung des 20. Jahrhunderts, den Dadaismus. Auch die Dadaisten interessierte der Zusammenhang von Kunst und Leben, nur setzten sie von der entgegengesetzten Seite an. Bestand das Bestreben des Futurismus darin, dem Bürgertum zu einer kulturellen Identität zu verhelfen, so reagierten die Dadaisten auf die ideologische Basis, die diese kulturelle Identität stiften sollte. Sie hatten inzwischen erlebt, worauf das Bürgertum sich stützte und wohin seine Bestrebungen führten. Ihr Ausgangspunkt war die schockierende Erfahrung der Differenz, die sich in den beiden Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende zwischen dem kulturellen Anspruch des Abendlandes und seinen kolonialistischen und imperialistischen Kriegen auftat. Das Ziel der dadaistischen Museumskritik war jener Kunstbetrieb, der inmitten einer auf die Massenvernichtung menschlichen Lebens eingerichteten Gesellschaft noch die Fiktion von Humanität aufrecht erhielt, einer Humanität, der sich im Handeln niemand mehr verpflichtet fühlte.
Vom Emigrantentum und vom Protest gegen den Krieg gekennzeichnet, wurde für die Dada-Vertreter der Widerspruch zwischen der Praxis des Lebens und der idealisierten Welt traditioneller Kunst unerträglich. Daher zerschlugen sie den Elfenbeinturm einer harmonischen schönen Kunst und proklamierten statt dessen die Anti-Kunst des Protests, des Schocks, des Skandals mit Hilfe ironisch-satirischer, objektbezogener Sprachmittel. Dabei richtete Dada sein Augenmerk aufs Alltägliche, aber nicht mehr, wie noch der Futurismus, auf die den kapitalistischen Fortschritt ermöglichende Technik, sondern vielmehr auf das Absurde, das Wertlose, das Vernachlässigte, überflüssig Gewordene, die Abfallprodukte der bürgerlichen Zivilisation. Kurt Schwitters, Vertreter des Hannoveraner Dadaismus nutzte im Gegensatz zur aktualitätsbezogenen, explosiven Art der Berliner Dadaisten eher klarere, poetischere Formen, indem er aus den Abfallprodukten der Zivilisation: Schuhsohlen, Drähten, Scheuerlappen, Billets, Streichhölzern, Tuchfetzen, Geschäftspapieren Materialbilder fertigte. In Schwitters Kunstwerken, insbesondere in seinem berühmten Merzbau, wird jede gesellschaftsfunktionale Ordnung aufgehoben und die ständige Veränderung als Spiegel des Lebenszufalls eingeführt.
Das Problem der Museumsstürmer, sowohl der Dadaisten wie der Futuristen, zeigt sich historisch darin, dass sie die Wirkungsmechanismen des Kunstmarktes unterschätzten, vor allen Dingen das dialektische Wechselspiel von Innovation und Integration falsch beurteilten. Der Kunstmarkt lebt davon, dass er gerade die kritischen, innovativen Momente der Kunstszene als belebende und stimulierende Elemente in den Betrieb integriert. Schlagend zeigt sich dies in der Aufnahme der kritischen Werke in die Museen. Auch die Werke Kurt Schwitters konnten umstandslos in die Kunstgeschichte eingereiht werden, wie nicht zuletzt auf der letzten documenta zu sehen war, wo Stefan von Huene Arbeitsideen von Schwitters in eine mechanistische Roboterfigur überführte.
Marcel Duchamp
Bei einem anderen Künstler ist diese Integration nur scheinbar gelungen. Seine Wiederaufnahme auf der d8 demonstriert denn auch, wie hilflos der Kunstmarkt gegenüber einer Strategie der negativen Affirmation ist. Gemeint ist das Werk des Künstlers Marcel Duchamp, dessen Plagiierung durch Ange Leccia auf der d8 geradezu lächerlich wirkte. Marcel Duchamp wählte zu Beginn dieses Jahrhunderts einen völlig neuartigen Weg, die Institution Museum in Frage zu stellen. Seine "Readymades", die er nach 1913 der Öffentlichkeit präsentierte, bestehen aus einfachen Gebrauchsgegenständen, die vom Künstler ohne jede Veränderung ihrer Gestalt zu Kunstwerken erklärt wurden. 1913 war es ein auf einem Holzhocker befestigtes Fahrrad-Rad, 1914 ein Flaschentrockner, 1915 eine Plastikschreibmaschinenhaube, 1917 ein unter dem Titel "Fountain" ausgestelltes Urinoir. Auf diese Weise wird die Kunst der Wirklichkeit angenähert, indem in den Kunstwerken die Wirklichkeit sich selbst darstellt. Die Readymades verweigern die den Kunstwerken bis dahin unterstellte Nachahmungsfunktion. Sie sind einerseits Wirklichkeit (schließlich unterscheiden sie sich in nichts von einem normalen Gebrauchsgegenstand) und sind es andererseits doch nicht (auf irgend eine Weise muß sich ja das Kunst-Werk von der Realität unterscheiden, sonst wäre es keines). Duchamp erklärt die traditionellen ästhetischen Wertbegriffe in der Kunst für obsolet. Nicht mehr durch Fertigung von Künstlerhand, sondern durch (beliebige) Auswahl entsteht Kunst.
Duchamps Methode der Museumskritik besteht darin, die kunstvermittelnden Institutionen durch Beiträge zu kritisieren. Das als Kunstwerk ausgestellte Objekt soll die ausstellende Institution lächerlich machen. Noch der Werbe-Spot, in dem zwei Putzfrauen eine im Museum ausgestellte verdreckte Badewanne mit Ata zum Glänzen bringen, zehrt von der Ambivalenz der Readymades von Duchamp. Was, so ist die Frage, ist noch Kunst, was nicht? Mag die exponierte Aus-Stellung der Badewanne noch eine eindeutige Situation erzeugen, der Putzeimer mit Schrubber an der Wand erzeugt spätestens eine vollendete Hilflosigkeit beim Betrachter. Wenn alles Kunst werden kann, scheint nichts mehr Kunst zu sein! Die Ideen Marcel Duchamps sind im Laufe der Zeit durch andere Künstler verharmlost worden, seine kritische Infragestellung des Museums, die ja gerade darin gipfelt, dass prinzipiell auch das Wohnzimmer zu Hause ein Kunstwerk sein könnte, wurde dahingehend beerbt, dass heute via Reproduktion jeder sein Museum mit nach Hause nehmen zu können meint. Das imaginäre Museum der Gegenwart ist der umfangreiche, gut reproduzierte Ausstellungskatalog, der im trauten Heim die Welt der Kunst erlebbar macht.
Karl Ernst Osthaus
Eine völlig andere Vorstellung von der lebensorientierenden Funktion von Kunst hatte ein anderer am Beginn dieses Jahrhunderts, der Hagener Mäzen Karl Ernst Osthaus. In seinem Buch über Henri van de Velde formulierte er 1919 Sätze, die für ihn charakteristisch sind. In allen Ländern wucherte der Schund auf den Mistbeeten des Liberalismus. Das Unternehmertum hatte die Kunst aus der Architektur und aus dem Gewerbe verdrängt ... Wo konnte sich dieser Abstieg hüllenloser offenbaren als in den Städten, die der modernen Industrie ausschließlich ihr Dasein verdankten? ... Alles Tun, dessen Nutzen nicht berechenbar war, wurde als Narrheit verspottet. Dieser Gesinnung entsprach das Aussehen der Städte. Es war des Verfassers Jugendschicksal, in solcher Umgebung aufzuwachsen ... Sein Wunsch war, den abwärts rollenden Rädern irgendwie in die Speichen zu fallen ... Es drängte sich ihm auf, dass eine Wandlung nur durch eine von Grund auf veränderte Erziehung der Menschheit erreicht werden könne, dass man zu einer Gesundung nur käme, wenn alle schaffenden Kräfte auf die Schönheit eingestellt waren. Dem Schaffen des Schönen aber musste ein Begreifen des Schönen in der Natur vorausgehen und so entschloss er (der Verfasser) sich, zunächst ein Museum der Naturwissenschaften in seiner westfälischen Vaterstadt Hagen zu errichten.
Zur Verwirklichung dieser Idee kam es nicht. Unter dem Einfluss von Henri van de Velde entschloss sich Osthaus, in Hagen ein Kunstmuseum zu errichten, das bildende Kunst, Architektur, Kunsthandwerk und Städtebau miteinander verband, wie Karl Ernst Osthaus im ersten Katalog des "Museum Folkwang" hervorhob. Osthaus gelang es unter der Beratung von van de Velde, Kunstwerke und Künstler zu Zeiten zu entdecken, wo noch kein anderes Museum der Welt sie kannte. Darüber hinaus gelang es ihm, die Industriestadt Hagen auch für Architekten, und Künstler wie van de Velde, Peter Behrens, Thorn-Prikker, Christian Rohlfs und Emil Nolde attraktiv zu machen. Osthaus ging davon aus, dass künftig nicht mehr die Fürsten einen neuen Stil prägen können, sondern dass neue Entwicklungen abseits der Residenzen in den Ballungszentren der Industrie entstehen müssen. Schon bei der Eröffnung des neuen Museums wird klar, dass hier weder die säkularisierte fürstliche Kunstkammer oder ihre vom Bürgerfleiß erstellte Kopie, sondern ein neues, die Kategorie Museum sprengendes Konzept vorgestellt wurde.
Aber schon bald reicht Karl Ernst Osthaus ein bloßes Kunstmuseum nicht mehr, er sucht Konsequenzen zu ziehen aus der Erkenntnis, dass Kunst nicht unverbindlich ist und sein darf, sondern dass sie lebensweltliche Konsequenzen verlangt. Er befasst sich mit Architektur und Städtebau einerseits und der Handwerks- und Entwurfs-Kultur der Warenproduktion andererseits. Neben dem Bau einer avantgardistischen, aber auch privilegierten Villensiedlung protegierte Osthaus auch den Bau von Arbeitersiedlungen. Für Osthaus war das Nachdenken über Arbeitersiedlungen nur die Fortführung seiner Gedanken über die kulturelle Situation seiner Zeit. Walter Grasskamp fasst in seiner Schrift 'Museumsgründer und Museumsstürmer' das Wirken und die Bedeutung von Osthaus so zusammen: Mit Osthaus ist in der bürgerlichen Kulturpolitik zum ersten und zugleich zum letzten Mal ein Mäzen aufgetreten, der im großen Stil Experimente finanzierte, die einem umfassenden und keineswegs elitären Kulturbegriff verbunden waren ... Das Niveau dieses Kulturbegriffs, eines solchen Mäzenatentums, ist seither nicht mehr zu beobachten gewesen. Im Gegenteil, eine Kulturpolitik im Sinne einer Synthese von Industrie und Kultur steht heute überhaupt nicht mehr zur Debatte, die Trennung zwischen beiden Bereichen gehört vielmehr zum Inventar der Selbstverständlichkeiten unserer Gesellschaft.
Dass Karl Ernst Osthaus mit seinem Konzept scheitern musste angesichts einer bürgerlichen Gesellschaft, die doch gerade von der Trennung von Kultur und Industrie profitiert, scheint vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich. Statt dessen haben die Industriestädte die Kulturzerstörung entscheidend vorangetrieben und nur als Alibi noch eine weitgehend machtlose Kulturbürokratie für harmloses Tun beschäftigt, ein Tun, das im Blick auf seine Konsequenzen gar nicht mehr so harmlos erscheint. Seit der Zeit von Karl Ernst Osthaus sind weite Teile der Bevölkerung systematisch von der Kultur ausgeschlossen worden. Gerade die Kunstbewegungen, die ursprünglich die Museen zugunsten eines besseren Lebens hatten stürmen wollten, stellen heute jene Kunstwerke, die von der breiten Masse am wenigsten verstanden werden. Weder ist die Apotheose der Technik, wie sie der Futurismus vollzog, nach ihrer geradezu apokalyptischen Entwicklung im 20. Jahrhundert heute noch nachvollziehbar noch ist es die dadaistische Anti-Kunst, die die Besucher nur verwirrte und schockierte, um dann doch nur wieder im Museum zu landen und in die Geschichte der Kunst eingereiht zu werden ganz zu schweigen von den ästhetischen Experimenten von Marcel Duchamp und seinen Künstlerkollegen, die bis heute nicht kulturelles Gemeingut geworden sind. Die intendierte Verbindung von Kunst und Leben ist ihnen nicht oder nur zeitweise gelungen. Deshalb soll am Schluss dieser Erörterungen das Beispiel einer gelungenen Verbindung von Kunst und Leben stehen, ein nachahmenswertes Modell des Umgangs und der Aneignung auch von Kunstwerken, die in feudalen Verhältnissen entstanden sind. Doch leider ist dieses Modell nur fiktiv, es existiert nur als Roman.
Die Ästhetik des Widerstands
Peter Weiß hat mit seiner 1981 abschließend veröffentlichten "Ästhetik des Widerstands" einen Rekonstruktionsversuch der Aneignung bürgerlicher und feudaler Kunstgegenstände durch das proletarische Subjekt vorgelegt. Weiß" Versuch ist aus der historischen Distanz geschrieben, er weiß um die Entwicklung der Kunst und ihrer Veröffentlichungsmedien in diesem Jahrhundert, aber trotzdem ist sein Roman spannend als Konstruktion einer möglichen Öffentlichkeit von Kultur. Der Roman, der von der bürgerlichen (linken) Literaturkritik vernichtend rezensiert wurde (ZEIT: Blasen aus der Wortflut FAZ: Der verschollene Peter Weiß), ist nichtsdestoweniger einer der spannendsten Versuche der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts, das Verhältnis von Kunst und Leben, Kunst und Politik, Kunst und Widerstand einer Klärung näher zu bringen. Insofern ist es vergleichbar nur noch mit der 1969 im Nachlass erschienen "Ästhetischen Theorie" von Theodor W. Adorno. Der Roman ist ein Bildungsroman in fast klassischem Sinne, eine Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst.
Der Held des Romans ist ein junger Arbeiter, der im Berlin der dreißiger Jahre, im kommunistischen Untergrund und im Pergamonmuseum, seine ersten politischen Erfahrungen sammelt. 1937 nimmt er am spanischen Bürgerkrieg teil. Zu Beginn des zweiten Bandes der "Ästhetik des Widerstands" treffen wir ihn in Paris wieder, wo er ein Hilfskomitee für Flüchtlinge des Spanienkriegs organisiert und nebenher im Louvre kunsthistorische Studien treibt. Auf der Flucht vor politischer Repression gelangt er nach Stockholm, wo er als Fabrikarbeiter untertaucht, Kurierdienste für die Komintern erledigt und, als Schüler von Brecht im schwedischen Exil, seine ästhetische Erziehung vervollkommnet. Der Band endet mit Brechts Übersiedlung nach Finnland. Der abschließende dritte Band zeigt die konspirative Arbeit und die inneren Konflikte der Kommunisten in Schweden, die Verhaftung und Hinrichtung der Mitglieder der Roten Kapelle, die im Roman als Protagonisten für verschiedene Haltungen zur Kunst stehen. Am Romanende formuliert der Erzähler seine Zukunftspläne: er wird das Buch schreiben, das der Leser als die "Ästhetik des Widerstands" in Händen hält.
Peter Weiß geht es darum, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt. Die Gefahr ist der heranrollende Faschismus, die Erinnerung, die Geschichte der Erniedrigten und Unterdrückten, das Medium ist die Kunst. Es gilt, die in den Kunstwerken niedergelegten sozialen und kulturellen Erfahrungen dem Konformismus abzugewinnen, der die Kunst als bloße Freizeitbeschäftigung gettoisieren will. Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die anderen aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eignen Fleisch. Genuss vermittelte das Werk dem Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischem Gesetz ahnten die anderen, sagt der Erzähler im Angesichts des Frieses vom Pergamontempel. Während die einen den mühelosen Umgang mit Kunst ihrer bürgerlich-humanistischen Bildung verdanken, stehen die anderen als Opfer der Klassenschranken zunächst verständnislos und dumpf brütend daneben - daneben, weil diese Kunst nicht unmittelbar zur Kultur ihrer eigenen, proletarischen Lebenspraxis gehört.
Wo und wie konnte sich der Arbeiter kulturell orientieren, wie die Arbeit des ästhetischen Widerstands leisten? Dabei kam dem Bildungswilligen noch zugute, dass gerade die Zeit der Weimarer Republik eine Zeit der kulturellen Öffnung war: Es waren nicht nur die Werke eines Piscator, Brecht, Weill und Eisler, eines Grosz, Dix, Schlemmer, Nolde, Beckmann und Klee, eines Döblin, Musil, Broch, Jahnn oder Benjamin, es war die gesamte Atmosphäre aus Vitalität, aus unbegrenzter Phantasie, aus Lust am Experimentieren, die das kulturelle Leben ausmachte, jeden Tag gab es neue Entdeckungen, wir waren gewiss, dass nun eine Umwälzung einsetzen werde, um den ganzen Menschen zu ergreifen ... Wie aber konnte geschehn, (...) dass zugleich mit diesem kulturellen Aufstieg das Niedrigste, das es im Menschen gab, zu einer Ausbreitung kam, die sich innerhalb weniger Jahre stärker erwies als alle Klarsicht.
Kunst, so wurde klar, funktioniert nicht im Sinne einer automatischen Bewusstseinsveränderung, die Versuche der Dadaisten die soziale Wirklichkeit zu re-ästhetisieren und ausgehend von der Kunst die Welt wieder poetisieren zu wollen, mussten scheitern. Gegenüber der blanken Gewalt hat die Kunst keine Chance. Weiss umschreibt dieses Verhältnis politischer Gewalt zur autonomen Kunst im Roman anhand eines antiken Mythos. Herakles aber zog Linos, dem Lehrer, der seinem Schüler weismachen wollte, die einzige Freiheit, die es gäbe, sei die Freiheit der Kunst, den Hut so hart über die Augen, dass ihm das Nasenbein brach, und als der Magister weiterhin behauptete, die Kunst sei zu allen Zeiten unabhängig von den jeweiligen Wirrnissen zu genießen, steckte er ihn kopfüber in die Jauchegrube und ertränkte ihn, zum Beweis, dass waffenlose Schöngeistigkeit einfachster Gewalt nicht standhalten kann. Wenn aber nicht so, wie ist dann das Verhältnis der Kunst zur Lebenswirklichkeit zu bestimmen?
Peter Weiß bestimmt es so, dass die in den Kunstwerken sedimentierte soziale und historische Erfahrung herausgelöst und in die Lebenspraxis rückübersetzt werden muß, oder allgemeiner formuliert, es geht darum, die Erkenntnisse der Kunst zur Anwendung zu bringen. Um aber zur Anwendung zu kommen, d.h. aktiv und mit Bewußtsein Widerstand leisten zu können, ist vorher in mühevoller Kleinarbeit nach Feierabend die Anstrengung des Begriffs, Vorbedingung für die Aneignung von Bildung und Wissen, zu leisten. Als Eigentumslose näherten wir uns dem Angesammelten zuerst beängstigt, voller Ehrfurcht, bis es uns klar wurde, dass wir dies alles mit unsern eignen Bewertungen zu füllen hatten, dass der Gesamtbegriff erst nutzbar werden konnte, wenn er etwas über unsre Lebensbedingungen sowie die Schwierigkeiten und Eigentümlichkeiten unsrer Denkprozesse aussagte.
Wir brauchten ... noch nicht zu verlangen, dass die Kunst, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die geistige Wirklichkeit umzustürzen, auch eine politische Mission tragen müsse ... Ebenso wenig oblag es der Politik, die Kunst unmittelbar mit sich zu reißen. Das Neue, auch heute noch ungenügend Erfasste ..., liegt darin, die beiden Kräfte in ihrer Eigenart und Gleichwertigkeit anzuerkennen, sie nicht gegeneinander auszuspielen, sondern ihr paralleles Abrollen, ihre gleichzeitigen Schöpfungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Ästhetik und Widerstand, die Formierung einer sinnlich-kontemplativen Erkenntnis durch Kunst und praktisch-revolutionäre Tätigkeit, ergänzen einander wechselseitig. Die Kunst wiegt etwas von dem auf, was in der Politik nicht erfüllt wird, weil sie, sich dem ganzen Menschen zuwendend, von verborgenen Möglichkeiten, von Phantastischem und Utopischem spricht, während die Politik auch und in besonderem Grade das einzulösen hat, was Kunst als "promesse de bonheur" formuliert und was erst eine neue Gesellschaft wird gültig schaffen können: Zufriedenheit, Glück, Menschlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit.
Verwendete Literatur
Walter Grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München: Beck, 1981. 187 S.
Wolfgang Kemp, Kunst kommt ins Museum; in: Funkkolleg Kunst, hg. von Werner Busch, München: Piper, 1987. S. 205-229.
Volker Plagemann, Das deutsche Kunstmuseum 1790-1870. Lage, Baukörper, Raumorganisation, Bildprogramm. München, 1967.
Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte? 2. Auflage. München: Deutscher Kunstverlag, 1984. 95 S.
Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik der Moderne. München: Matthes & Seitz, 1985. 336 S.
Thomas Zacharias, Blick der Moderne. Einführung in ihre Kunst. München: Schnell & Steiner, 1984. 432 S.
Der westdeutsche Impuls 1900-1914. Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet. Die Folkwang-Idee des Karl Ernst Osthaus. Hagen: Karl Ernst Osthaus Museum, 1984. 239 S.
Hesse-Frielinghaus, Herta. Hagener Architektur 1900-1914. Westfälische Kunststätten Heft 25. Münster: Westfälisches Amt für Denkmal pflege, 1983. 24 S.
Adorno, Theodor W. Über Tradition; in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. 7. Auflage. Frankfurt: Suhrkamp, 1981. S. 29-42.
Benjamin, Walter Geschichtsphilosophische Thesen; in: ders., Gesammelte Schriften, Band I/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt: Suhrkamp
Peter Weiß. Text und Kritik Band 37. Zeitschrift für Literatur, hg. von Heinz Ludwig Arnold. 2. Auflage. München: text und Kritik 1982. (Vgl. insbesondere die Aufsätze von Jochen Vogt und Werner Jung).
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