Film und Spiritualität

Eine Rezension

von Andreas Mertin

aus: Pastoraltheologie 81, 1992, S. 533-534.

Hinter den Augen ein eigenes Bild - Film und Spiritualität.
Hg. von Michael Kuhn, Johan G. Hahn, Henk Hoekstra.
Benziger Verlag, Zürich 1991, 384 Seiten.


Die Frage nach dem wechselseitigen Beitrag, den Theologie und Film-Kunst füreinander leisten können, ist der Ausgangspunkt für das Projekt "Film und Spiritualität. Europäische Filmkultur in theologischer Perspektive", eine Zusammenarbeit katholischer Institute an den Universitäten Amsterdam, Freiburg/Schweiz und Freiburg i.Br. Das vorliegende Buch mit 13 Beiträgen ist das Ergebnis eines ersten Symposions in Amsterdam 1990. Ziel des Forschungsprojektes soll es sein, "eine Art herrschaftsfreier Kommunikation zwischen Film und Theologie zu erproben". Das ist auch dringend nötig, denn lange Zeit war, wie die Autoren hervorheben, das Verhältnis von Kirche und Spielfilm durch einseitige Instrumentalisierung, kirchliche Zensurmaßnahmen und dadurch bedingt gegenseitiges Misstrauen und Angst vor Vereinnahmung charakterisiert. Damit ist aber auch ein hoher Anspruch an den Dialog gestellt, dem allerdings nicht alle Beiträge des Buches genügen, wenngleich von der Mehrzahl produktive und nachdenkenswerte Anstöße ausgehen.

So versucht Frits Tillmans eine Antwort auf die Frage zu geben, wo die theologische Hermeneutik des Films anzusetzen habe. "Das Spezifische einer theologischen Betrachtung ist das in einer Glaubenstradition wurzelnde 'Vorverständnis'" [87]. Dieses komme allerdings erst in der narrativen Rekonstruktion des Films zur Geltung. Während der Film im Kino "die Totalität des Blickes und des Gehörs beansprucht" [85], die ZuhörerInnen derartig fesselt, dass sie alles um sich herum vergessen, nicht mehr im Kino, sondern im Film sind [84], zerstört die theologische Interpretation diese Unmittelbarkeit: "Sie erfährt sich als destruktiv und stützt sich auf eine Erinnerung, die sich von der Filmvorführung distanziert und vor und nach der Vorführung im Glaubenserlebnis selbst wurzelt. Die theologische Argumentation, als Analyse und Interpretation, zerstört das Objekt und zerstückelt die Wirklichkeit in einzelne Teile ... Es ist die konstruktive Zerstörung, die eine neue Interpretation ermöglicht" [86]. Diese neue Interpretation führt das Material des Films "in den Heimathafen der Glaubenstradition": "Für die Theologie ist das mediale Produkt, der Film, immer eine Spur in der Richtung des Möglichen, das durch die Glaubenstradition schon angedeutet wird, entweder in der Weise der Wiedererkennung, oder in der Weise der Kritik ... das bedeutet nicht eine Reduktion des Analyseergebnisses auf die schon bekannte Glaubenstradition, sondern den Versuch, etwas, das die Tradition selbst auch nur mit Hilfe der Analogie zeigen kann, zu erhellen. Mehr noch, es scheint durch das Ergebnis der Analyse theologisch eine Erneuerung der Tradition möglich zu sein, durch die das Alte in neuer Weise erglänzt und an Bedeutung gewinnt" [72].

Freilich ist der Textbegriff, der hier auf die Film-Bilder appliziert wird (und der der Applikation der Theologie auf den Film analog ist), nicht unproblematisch. Er unterstellt, dass Bilder sich in Sprache überführen lassen, eine Überlegung, die nicht zwingend ist. Stattdessen müsste auch gefragt werden nach der unüberbrückbaren Differenz zwischen Sprache und Film, nach dem, was in der Verbalisierung nicht aufgeht. Zum anderen ist das Verhalten, das der Film auslöst, komplexer, als dass es sich mit dem Akt der Identifikation zureichend beschreiben ließe. Filme sind intertextuell, sie bauen Mechanismen der Verfremdung, der Distanzerzeugung, der Reflexion auf den Produktionsprozess wie auf die Lebenswelt der ZuschauerInnen in den Handlungsablauf ein, die diese nachvollziehen müssen, um dem Film folgen zu können. Auch die Beziehung von filmischer Darstellung und narrativer Rekonstruktion muss weiter untersucht werden, es wäre zu fragen, was die theologische Interpretation des plots noch mit dem spezifischem Ausdrucksmedium "Film" zu tun hat.

In einem zweiten Beitrag zum Mediengespräch behandelt Tillmans die Frage, wie audiovisuelle Medien so in Glaubensgespräche eingebaut werden können, "dass sie mit den Lebenserfahrungen der Menschen in Erfahrung gebracht werden" [131]. Thematisiert werden der "Funke", der von der Aussage des Films auf Weltanschauung, Religion und Spiritualität überspringt und die Reaktion, die der Film bei den ZuschauerInnen in religiöser Hinsicht auslöst. "Die Gesprächspartner in der Gruppe lernen ein Medienprodukt besser kennen und schätzen, und sie können - durch die vertiefte gegenseitige Wahrnehmung - auch besser ihre eigenen Reaktionen und die dahinter stehenden Auffassungen und Gefühle kennen lernen" [144f.].

Johan G. Hahn stellt ein komplexes Modell der analytischen Erschließung von Fernsehbildern vor, das die Wahrnehmung in kleinste modulare Einheiten zerlegt und so bewusst und der Interpretation zugänglich macht. Die multifaktorielle Wahrnehmung des Films wird in phänomenologische, dramatologische (Form), ikonologische (Inhalt) sowie narratologische (Funktion) Perspektiven zergliedert und wieder synthetisiert, so dass von einer regelrechten Film-Exegese gesprochen werden kann. Orientierungspunkte für die Erschließung dieser Perspektiven bieten dabei das Theater, die bildende Kunst und die Literatur. Ergänzt werden die Analysen noch um symboltheoretische und mythentheoretische Überlegungen. Allerdings ist vieles nur andeutungsweise entfaltet, so dass zu wünschen wäre, dass das zugrundeliegende Buch von Hahn Het zout in de pap: levensbeschouwing en televisie bald auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Dennoch sind seinem Beitrag für jedes Filmgespräch und jede Erarbeitung von Filmen und Fernsehbildern grundlegende und unentbehrliche Hinweise zu entnehmen.

Der zweite Teil des Buches [161-343] beschäftigt sich mit dem filmischen Oeuvre von Wim Wenders. Er vermittelt exemplarisch Einsichten in das theologisch orientierte Mediengespräch mit dem zeitgenössischen deutschen Film. Hervorzuheben sind insbesondere Peter Hasenbergs einleitende Reflexionen über Religion und Spiritualität im deutschen Film der letzten beiden Jahrzehnte, sowie die Untersuchungen von Johan G. Hahn zur Rolle der "wilderness" und Frits Tillmans zur Spiegelmetapher in Wim Wenders Paris, Texas. Diese beiden Beiträge lassen sich als Konkretion des jeweils im Theorieteil entfalteten Ansatzes lesen.

Alles in allem ist Hinter den Augen ein eigenes Bild eine mit Gewinn lesbare Aufsatzsammlung, die sowohl Einblicke in das (katholische) Filmgespräch der Gegenwart vermittelt, als auch exemplarische Anstöße zur Filmerschließung für die pastorale Praxis bietet. Jeder, der sich mit dem Werk Wim Wenders auseinander setzen will, findet zudem im zweiten Teil des Buches reichlich Anregungen.

© Andreas Mertin