Erlesenes Gesicht

Eine Rezension

von Andreas Mertin

aus: Kunst und Kirche 1/93, S. 74

Klaas Huizing, Das erlesene Gesicht. Vorschule eine physiognomischen Theologie.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1992, 224 S., Geb. 68,- DM


"Dass Physiognomik sich als geheime Wurzel von Ästhetik, Ethik, Naturlehre, Hermeneutik, Ontologie und Religionsphänomenologie zu erkennen gibt" ist die These des Münchener Theologen Klaas Huizing in seiner "Vorschule einer physiognomischen Theologie". Das mag den befremden, für den die Physiognomik ein Lehngut aus dem Kuriositätenkabinett der Wissenschaften ist und es mag jene irritieren, für die die neuzeitliche Differenzierung der Wissenschaften die ultima ratio darstellt. Klaas Huizing unternimmt dagegen eine sich an Lavater und Herder orientierende Re-Formulierung der Physiognomik, die das bloße Gesichterlesen weit hinter sich lässt und über eine Seh-Schule der Kunst, die Schrift, das Buch, die Geschichte und ihre philosophische Zurichtung bis zur Archi-Textur der Welt vordringt. Ein enzyklopädisches Unternehmen, dessen Skizze hier vorliegt und nun weiterer Konkretion harrt.

Zunächst führt Huizing ein in die Begriffs(vor)geschichte der Physiognomie, beginnend mit der Weisheit in Israel, über Platon, Aristoteles und Goethe bis ins 20. Jahrhundert zu Georg Simmel, Rudolf Kassner und Walter Benjamin. Das sich daraus ergebende "Gesicht des Begriffs" sei in einem längeren Zitat vorgestellt: "Physiognomik als Angesichtsphänomenologie ist: die aus der komplexen Struktur von visio, intuitio und experientia bestehende unmittelbare Anschauung einer jäh sich qua Herrlichkeit ereignenden Darstellung einer Idee, der ein liebendes Gefühl korrespondiert, das sich in neuer Kraft und Lebendigkeit (Ähnlichwerden, Mimesis) entlädt zwar wird idealtypisch die Gestalt vor Ort der dichtmöglichsten Konkretion am Ehrfurcht (mysterium tremendum et fascinans) einfordernden Ausdruck des menschlichen Antlitzes erfahren, objektive Darstellungen als Epiphanien des Unsichtbaren (visage) erlauben aber auch im Medium der Natur, der Schrift und der Geschichte eine figürlich-symbolische Erfahrung, der ethische Verbindlichkeit eingestiftet ist und die alle Methode und verstandesmäßige Erkenntnis normativ ausrichtet" [47]. Physiognomik ist eine Theorie der Erfahrung.

Huizing rekonstruiert die physiognomische Lehre Lavaters: "Physiognomisch-theologische Erfahrung versteht ein Ereignis von Darstellung immer als urplötzliche Darstellung des unendlichen und unsichtbaren Gottes im Endlichen, die man, weil Gott Mensch geworden ist, ganzheitlich erleben und distanzlos verifizieren können muß. Unmittelbar weiß man worum es geht und was man zu tun hat ... Erfahrungserkenntnis ist immer Gestalterkenntnis, hier: die des im Leib des Buches inkarnierten Christus, die, erkenntnisdramatisch verknüpft, zur Imitation Christi führt." [50f] Die Bibel wird so - Imitatio Christi! - eine Schauspiellehre, der Schauspieler ein hermeneutisches Modell. Religiöse Anschauungserfahrung basiert auf dem physiognomischen Gefühl der Menschen und geschieht "idealtypisch vor Ort des Gesichts". Produktiv wird Lavaters Genealogie der Christusherrlichkeit von Huizing am Christusbild umgesetzt, beginnend mit der ostkirchlichen Ikone über das Kruzifix des Westens bis zur modernen Aufhebung der Individualität in der von Huizing sogenannten "Fratze". Vor allem die Christusbilder Rembrandts werden einer präzisen physiognomischen Wahrnehmung unterzogen.

War Lavater am Antlitz orientiert, so wird bei Herder darüber hinaus die Schrift profiliert. Der Schriftphysiognomiker Herder "entdeckt die Figur der siebengliedrigen Hieroglyphe im liber naturae, im Archipoem Moses und im menschlichen Antlitz" und nicht zuletzt auch im "Buch der Geschichte". Konnte an Lavater eine Hermeneutik des Bilder-Lesen eingeübt werden, so bei Herder eine Hermeneutik des Schrift-Bildes, exemplifiziert von Huizing anhand der Gleichnisse. Abschließend wendet sich Huizing der Archi-Textur der Welt zu: "wir wohnen in den festen Schriftzügen und schreiben im Modus des Wohnens" [172], ausgehend von den Zelten der Erzväter, den Monumenten Ägyptens, der offenen Landschaft Phöniziens, den antiken Städten, der Kathedrale im Mittelalter bis hin zu den Stadtgesichtern der Postmoderne.

Was hier nur nach-schreibend angedeutet werden kann, erweist sich als faszinierende Rekonstruktion und rekonstruierende Anwendung der Physiognomik, die ihre kreative Produktivität etwa für die bildende Kunst und die Architektur vor Augen führt, wenn auch manchmal die Fülle der - durchaus präzisen und nicht willkürlichen - Metaphern ein weißes Rauschen erzeugt, das der Sache nicht dienlich sein kann.

Abschließen will ich mit einer Frage, die sich aus dem Rezensionsmedium ergibt. Huizing betreibt seine physiognomische Seh-Schulung am Beispiel des Christusbildes. Dazu schreibt er eine physiognomische Kunstgeschichte, die nicht ohne Reiz und vor allem wirklich erhellend ist. Im 20. Jahrhunderts wird freilich, so konstatiert Huizing zutreffend, die Homogenität physiognomischer Ausdruckskraft definitiv aufgelöst. Übrig bleibt, wie am Beispiel von Francis Bacon gezeigt wird, die "karikierende und maskenhafte Karnevalisierung der Gesichter" [96], es scheint, dass "im Verzicht auf jede heimliche Gegenwart der Versöhnung im liebreizenden Blick das Sentiment des Absurden, das sich wie ein Firnis über das Bild zieht, zur gläsernen Totenglocke aller Bedeutungskraft" wird [98]. Ob dies das letzte Wort der Physiognomik sein kann, ist mir fraglich. Anderenfalls terminierte Physiognomik in Sedlmayrs "Verlust der Mitte", schriebe sie eine Verfallsgeschichte der Kunst seit 1800. Ließe sich nicht auch - analog dem Beispiel der Archi-Textur - eine Spurenlese in den Werken Barnett Newmans, Emil Schumachers oder Gotthard Graubners betreiben, die zwar nicht an der Menschengestalt, wohl aber an der Menschenkenntnis orientiert wäre?

© Andreas Mertin