Ethik und Ästhetik bei Knud. E. Loegstrup

Eine Rezension

von Andreas Mertin

[Originalbeitrag]

K. E. Loegstrup, Die ethische Forderung. Tübingen 1959; ders., "Ästhetische Erfahrung in Dichtung und bildender Kunst"; In: Gadamer/Vogler (Hg.), Neue Anthropologie Band 4: Kulturanthropologie. Stuttgart, 1973, S. 287ff.;

K. E. Loegstrup, "Der Mensch in der Perspektive des Nihilismus. Moderne Kunst, Existentialismus und Empirismus und das Problem der Moral". Lutherische Rundschau 15, 1965. S. 1-18.


In Knud E. Loegstrup Hauptwerk "Die ethische Forderung" ist ein Kapitel der Verhältnisbestimmung von Ethik und Ästhetik am Beispiel der Poesie gewidmet [213-230]. Auch bei Loegstrup kann das Ästhetische zu einem Moment des Widerständigen gegenüber den automatischen Vollzügen des Alltags werden.

Mit fünf Begriffspaaren (Aussage und Ausdruck / Schönheit und Präzision / Semantisch und expressiv / Schwärmerei und Offenheit / Erlebnis und Existenz) versucht Loegstrup, einer Klärung näher zu kommen. Jede menschliche Artikulation kann danach unterschieden werden, was gesagt wird und wie es gesagt wird [213]. In der Poesie tritt das wie in einer bestimmten, qualifizierten Form auf [215]. Die qualifizierte Form ergibt sich einesteils aus dem ästhetischen Bedürfnis [215], größtenteils jedoch aus der Tatsache, dass es "Eindrücke und Erlebnisse" gibt, "die sich nicht ungebunden ausdrücken lassen" [215]. Schönheit ist dabei ein Charakteristikum der Form, nicht des Inhalts, sie antwortet nicht auf das ästhetische Bedürfnis, sondern ist Mittel der Präzision des Ausdrucks und dient der Abwehr von Trivialität [216], eine Gegnerschaft, die sie mit der Ethik teilt [217]. Die Schönheit führt uns zugleich weg von der Aussage selbst auf die Form der Aussage, ihren Ausdrucksgehalt [217].

Das Kunstwerk zeigt sich dem Menschen in einer grundsätzlich anderen Weise als der Rest der Welt. Während dieser von der grundsätzlichen Bestimmbarkeit aller Dinge ausgeht, also auf Orientierung und Interesse basiert, und damit grundsätzlich rätsellose ist, ist die Poesie durch Offenheit charakterisiert. Offenheit meint dabei ein Verhältnis zur Dingwelt, das dem Mimesis-Begriff Adornos nahe kommt, auch wenn Loegstrup es mit dem der Adornoschen Terminologie geradezu konträren Begriff der Identifikation beschreibt: "'Identifikation' bedeutet, dass die Dinge wesentlicher zugegen und nahe sind, als wenn man sich ihnen in dem einen oder anderen Interesse nähert" [218]. Während der Leser die Kunst normalerweise als expressiv auffasst, will der Künstler nicht nur etwas von seiner Gefühlswelt offenbaren, er will seine Kunst "als Erkenntnis verstanden" wissen [222], er will das Werk nicht im Ästhetischen belassen, es soll Verbindlichkeit bekommen. Dadurch stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen "poetischem und ethischen Lebensverständnis" [223].

Die Gefahr des Ästhetischen - so Loegstrup - sei die Schwärmerei, das sich Gehen lassen im Gefühl, der Rausch [224]. Dem stehen zwei korrigierende Momente gegenüber: "die Strenge des Kunstschaffens und der Widerspruch zwischen Erlebnis und Existenz" [224]. Wahre Kunst sei dem Stimmungsrausch entgegengesetzt, weil die Künstler einer spezifischen ästhetischen Rationalität unterlägen: "In Wirklichkeit hat aber das Kunstschaffen genau so eine Strenge wie die wissenschaftliche Erkenntnis" [225]. Zugleich werde im Kunst-Erlebnis der Widerspruch zur wie auch der Existenz erfahrbar; niemand könne das Kunst-Erlebnis, das als solches flüchtig sei, dauerhaft institutionalisieren und schon daher werde dessen Differenz von der Existenz offenkundig [227]. Werde dieser Widerspruch verdrängt, so wird das Kunst-Erlebnis zur Schwärmerei. Obwohl nur momentan, sei das Erlebnis aber doch nicht illusorisch, wie es der Existentialismus im Gefolge Kierkegaards behauptet habe.

Die Leistung des Poetischen sei es, dem Lebensverständnis Daseinsnähe zu verleihen [229]. Philosophie und Dichtung seien wechselseitig aufeinander angewiesen, denn mit dem Poetischen tauche jener Widerspruch zur Existenz auf, an dem die Persönlichkeit sich bilde. Die Poesie verfremde die Welt in der wir leben so, dass sie für uns rätselhaft und damit wahrnehmbar werde. "Der Widerspruch unserer Existenz, auf den das Licht der Dichtung fällt ist dieser, dass wir mitten in der Welt, die uns umgibt, blind und taub für sie leben. Der Widerspruch der dichterischen Erfahrung zu der Existenz des einzelnen gehört mit zur Existenz des einzelnen, ganz wie der Widerspruch der Existenz mit zur dichterischen Erfahrung gehört" [230].

Loegstrup ist bemüht, das Ästhetische für das Ethische zu "retten". Nach der allgemeinen Bestimmung des Poetischen durch Klang und Rhythmus, Schönheit und Daseinsnähe, differenziert er das "ästhetische Lebensverhältnis" in zwei unterschiedliche Formen: eine, die er "Schwärmerei", esoterische Poesie nennt (was gemeinhin Ästhetizismus heißt), liefert sich ganz der durch das Kunstwerk erzeugten Stimmung aus, sie führt zur rauschhaften Verschmelzung mit der in der Kunst heraufbeschworenen Dingwelt. Die Wahrnehmung erschöpft sich in reiner Rezeptivität, der Rezipient ist ganz von der ästhetizistischen Stimmungswelt abhängig. Da so der Widerspruch der/zur Existenz nicht mehr vernehmbar ist, ist auch die ethische Forderung nicht mehr zugänglich und tritt in absoluten Gegensatz zum Kunst-Erlebnis. Unverkennbar wird so das ästhetische Stadium bei Kierkegaard nachgezeichnet. Loegstrup möchte es jedoch nicht bei der Abweisung des Ästhetischen belassen. Deshalb verweist er auf eine andere, positiv verstandene Form des ästhetischen Lebensverständnisses, welche auch für ein ethisches Lebensverständnis unverzichtbar sei und die durch Strenge, rezeptive Aktivität und das Aushalten der Spannung zwischen mimetischem Impuls und der Existenz charakterisiert sei. Sie vermittelt zum einen die notwendige Daseinsnähe, ohne in ihr aufzugehen, zum anderen wird erst durch sie der persönlichkeitsbildende Widerspruch zwischen Erlebnis und Existenz erfahrbar. Die mimetisch in der Poesie erfahrene Daseinsnähe problematisiert die Rätsellosigkeit der Existenz.

Loegstrup ist trotz aller gegenteiligen Versicherungen sowohl der Inhalts- wie der Gefühlsästhetik verbunden, er gewinnt seine Kriterien eher am Beispiel der Dramaturgie des klassischen Theaters als an der modernen Kunst. Ethische Relevanz bekommt die Kunst, weil wir im Mitvollzug des Geschehens auf der Bühne erfahren, "was die einzig richtige und natürliche Weise wäre, auf das zu reagieren, was sich um uns herum abspielt. Damit enthüllt sich zugleich unser eigenes Leben, wie wir es faktisch leben, in seiner Kälte und Gefühlsarmut. Der Zuschauer fühlt, wozu er aufgefordert wäre, wenn ihm das in seinem faktischen Dasein begegnen würde, was er ästhetisch erfährt" [Ästhetische Erfahrung, 306]. Auch der sog. 'Modernismus' in der Kunst hat dieser Konstruktion zu folgen, noch der ästhetischen Negativität muß ein positives Konstruktionsprinzip zugrunde liegen, das sich dem Sinnlosen entgegenstellt. Dabei wird die "Lebensauffassung und Weltansicht des Künstlers" [Ästhetische Erfahrung, 308] zur Klammer, mit der Thema und künstlerische Ausdrucksmittel verbunden werden: Kunst bleibt durch die Existenz, Ästhetik durch die Ethik determiniert.

Im Blick auf das Verhältnis von Ethik und Ästhetik lässt sich das sachliche Problem, dem die das Ästhetische ethisch präformierende Konstruktion Loegstrup ausgesetzt ist, mit den Worten Rüdiger Bubners so beschreiben: Man möchte "das ästhetische Erlösungsversprechen von der Prosa nüchterner Pflichten und Zwänge nutzen, aber die Kontrolle behalten. Man möchte dem Druck der Conditio humana in die Sphäre des Spiels entweichen und dennoch den Boden unter den Füßen nicht verlieren. Wer aber vorher sicher sein will, wohin die Reise geht, sollte sich auf das Experiment der ästhetischen Sublimation von Lebenswirklichkeit nicht einlassen. Ungestraft kündigt niemand der entzweienden Reflexion im Namen ihrer Überwindung durch das Medium der Kunst auf, weil die Ambivalenz alles Ästhetischen jegliches Pochen auf Eindeutigkeit sinnlos macht. Die schwärmerische Vision einer Versöhnung enthält keine Garantie gegen Fragwürdigkeiten ... Gerade darin besteht aber die Verführung einer Gratwanderung zwischen Leben und Ästhetik, dass es hier so aussieht, als dürfe man das eine tun, ohne das andere zu lassen. Freilich sieht es nur so aus, und eben dies stellt den ästhetischen Effekt dar. Die zweite Wirklichkeit neben der ersten konkurriert mit ihrem Urbild, das sie nicht vertreiben, sondern höchstens entmächtigen kann, genau in dem Maße, wie die Differenz aus dem Blick gerät. Die verschwimmende Differenz und nichts sonst vermittelt Kunstgenuss" [R. Bubner, Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen, 101]. Bubner kehrt die Argumentation um: "schwärmerisch" ist nicht die unfiltrierte Wahrnehmung des Ästhetischen, sondern ihre Einbindung in die Idee der Lebensversöhnung.

In der "Ästhetischen Theorie" kommt Adorno zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Unter den Stichworten "Wirkung, Erlebnis, 'Erschütterung'" [ÄT 362-365] setzt er sich mit der Einfühlungsästhetik und dem Erlebnis-Begriff auseinander. "Betroffenheit durch bedeutende Werke benutzt diese nicht als Auslöser für eigene, sonst verdrängte Emotionen. Sie gehört dem Augenblick an, in denen der Rezipierende sich vergisst und im Werk verschwindet: dem von Erschütterung. Er verliert den Boden unter den Füßen; die Möglichkeit der Wahrheit, welche im ästhetischen Bild sich verkörpert, wird ihm leibhaft" [ÄT 363]. M.a.W. gerade jene Momente der ästhetischen Erfahrung, die Loegstrup durch seine Aufteilung der ästhetischen Lebensauffassung in poetische Deutung und schwärmerische Poesie ausgrenzen und verwerfen möchte, bilden ihren unaufgebbaren Kern. Zwar muß sich der Akt der ästhetischen Erfahrung nicht im mimetischen Impuls erschöpfen; nachträglich kann die ästhetische Erfahrung durchaus der philosophischen Kritik unterworfen werden: nämlich, "ob die Macht des So- und nicht Andersseins, auf deren Epiphanie solche Augenblicke der Kunst es abgesehen haben, Index ihrer eigenen Wahrheit sei" [ÄT 363f]. Somit hängt alles von der Reihenfolge ab: bei Loegstrup deutet vieles darauf hin, dass ästhetische Erfahrung authentisch nur filtriert durch die ethische Forderung zustande kommt, so dass seine Konzeption vorkritisch in dem Sinn ist, dass sie der ästhetischen Erfahrung Gehalte zuspricht, die nicht ihrem autonomen Vollzug eignen, sondern aus der Fremdbestimmung in einer ethischen Systematik folgen.

© Andreas Mertin