Kunst und Leben im Übergang

Marginalien zur Gegenwartskunst

von Andreas Mertin

aus: medien praktisch. Medienpädagogische Zeitschrift für die Praxis.
Frankfurt 1994, Heft 71, S. 9-13. 

Die Kunst hat ihren Goldgräberrausch schon in den 80er Jahre hinter sich gelassen, der "Hunger nach Bildern" (Max Faust) ist befriedigt, die Sehnsucht nach dem Schönen, Heiligen und Schrecklichen scheint gestillt. Das Kunstfieber ist gesunken, Ernüchterung ist in die heiligen Hallen der Kunst eingekehrt. Die Kunstmärkte haben ihre Erwartungen herabgeschraubt, die Zeitschriften überbieten sich nicht mehr mit Sensationsmeldungen von neuen Preisrekorden von Kunstauktionen und auch die Besucherströme in die Kathedralen der Kunst sind schmaler geworden. Selbst öffentliche Gelder fließen spärlicher, manche Kulturvermittlungsinstitution ist finanziell in großen Schwierigkeiten. In Zeiten scheinbarer ökonomischer Knappheit wird auch in einer sog. Kulturnation zuerst am Geldhahn für kulturelle Aufgaben gedreht.

Vorbei die Zeiten, in denen ein Ministerpräsident namens Lothar Späth behaupten konnte, Kultur sei eine der ganz großen Zukunftsinvestitionen konservativer Politik, und sich zudem zu der Behauptung verstieg, um ein Industrieunternehmen anzusiedeln, sei heute das kulturelle Angebot wichtiger als der Gleisanschluß. Heute ist die Option für Kunst und Kultur - nicht nur bei den Banken - von untergeordnetem Interesse. 

Dem Rausch der Sinne folgt die Selbstbesinnung. Nach dem Run auf die Kunst steht nun die Kunst selbst auf dem Prüfstand. Ein neuer Reflexionsprozeß findet statt, der auf seine eigene Art und Weise dem Kunstgeschehen, dessen gesellschaftlichem Rahmen und dem Eigenen, dem Spezifikum von Kunst nachgeht. 

Wer sich heute in der Kunstszene umblickt, trifft auf eine Fülle unterschiedlicher, häufig auch widersprüchlicher Tendenzen, die sich kaum zu einem Gesamtbild der Kunst der Gegenwart zusammenfügen lassen. Allerdings sind durchaus mainstreams feststellbar, die der Vielfalt der Erscheinungsformen charakteristische Züge geben. Zur wahrnehmbaren Vielfalt zählen die Wiederkehr des Moralismus in der Kunst, ihre außerästhetische Orientierung am Guten, die Aufnahme und Spiegelung gesellschaftlich aktueller Themen, die Rückkehr des Sensualismus, die Neuentdeckung des Körpers, die Pflege der Metaphysik der Landschaft, die meditative Zuwendung zu den audiovisuellen Elementen und nicht zuletzt die verstärkte Reflexion der Geschichte der Kunst. 

Die These, die diese Überlegungen bestimmt, lautet, daß wesentliche Tendenzen in der gegenwärtigen Entwicklung der Kunst durch eine bestimmte spannungsvolle Inbeziehungsetzung von Kunst und Leben, genauer, durch ein Morphing von Ästhetik und Moral geprägt sind. Beim Morphing zweier Bilder entsteht eine Menge von Zwischenbildern, die jeweils eine Mischung aus mehr oder weniger Bildpunkten der beiden Ausgangsbilder darstellen. Der Prozeß des Morphing ist nicht beliebig, er funktioniert nicht, wenn man einfach nur einen Bildpunkt gegen einen anderen austauscht, denn dann entstehen nur Fratzen, unsinnige Bilder oder einfache Überblendungen. Vielmehr müssen beim gelungenen Morphing beide Ausgangsbilder in ihren markanten Punkten erkennbar und identifizierbar bleiben, sonst versagt der intendierte Effekt, der in der Überraschung durch Wiedererkennung in der Verschmelzung besteht, und die ganze Mühe war umsonst. 

Auch die spannungsvolle Vermittlung von Kunst und Leben, auch das Morphing von Ästhetik und Moral folgt diesem Prozeß, beide Pole - Ästhetik und Moral - sind in der aktuellen Kunst wahrnehmbar und vielfältig miteinander vermittelt. Insofern handelt es sich auch nicht um eine Neuauflage des Streits um die engagierte Kunst, wie ihn etwa Adorno gegen Sartre ausgefochten hat, und in dem die Kunst ihre ästhetischen Motive zugunsten des Engagements zurückzustellen drohte. 

Zu beobachten ist einerseits eine verstärkt in den Vordergrund drängende Reflexion der Geschichte der Kunst im Medium des Bildes selbst. Kunstwerke übersteigern sich in Zitaten der Kunstgeschichte. Zugleich präsentieren die Kunstausstellungen nicht nur Retrospektiven und Werkausstellungen, sondern auch Inszenierungen, welche insbesondere der Besinnung auf Reichweite und Grenzen des aktuellen Kunstbegriffs dienen. Die Ausstellung "Das offene Bild" in Münster oder die Wiener Ausstellung "Die Sprache der Kunst" setzen fort, was die Postmodernen als Re-Vision der Moderne schon längst gefordert hatten. Nach den an den Werten orientierten Aufbrüchen der 70er Jahre fragt man sich nun: wer sind wir eigentlich, was wollen wir, was tun wir, welche Freiräume bleiben noch, welche Perspektiven stehen noch offen. Gefragt ist nach der aktuellen Version des "Betriebssystems Kunst" (Kunstforum). 

Auf der anderen Seite zeigt sich in der Kunstszene eine interessante Ethisierung, ja Moralisierung der Kunst, gefragt wird verstärkt nach dem Zusammenhang von Kunst und Leben, nach der Botschaft der Bilder in einer von Tod und Zerstörung geprägten Welt. Nicht nur das Thema AIDS wird zur Schwellenfrage für Kunst, Künstler und Kunstrezipienten (das Fridericianum konnte auf der documenta 9 nur betreten, wer eine Steinlinie mit Namen von an AIDS gestorbenen Künstlern überschritten hatte), auch die Umwelt, das Verhältnis zum Anderen und Fremden treten verstärkt thematisch ins Blickfeld. Zugleich mehren sich die Publikationen, die das Verhältnis von Ethik und Ästhetik reflektieren, und selbst die Theologen beider Konfessionen entdecken neue Verbindungslinien, sie sprechen von der ästhetischen Güte (Jean-Pierre Wils) oder von der Geburt der Ethik aus der Ästhetik, von der "ethischen Dimension des Ästhetischen" (Henning Luther). 

Kunst ...

Die Hinwendung zur Geschichte, zum Projekt Mnemosyne ist kein Phänomen der letzten Jahre, schon beim Aufbruch zum "Schönen, Heiligen und Schrecklichen" ging es um die Aneignung der Vergangenheit. Neu gegenüber der Hinwendung zum "Guten, Wahren und Schönen" des 19. Jahrhunderts, gegenüber der metaphysischen Aufwertung des Künstlers und der Kunstvermittlungsinstitutionen, gegenüber der Thematisierung der deutschen Vergangenheit, ist eine innerkünstlerische Reflexion auf die Geschichte der Kunst, die über die für einen Künstler seit jeher bedeutsame Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern [wie wir sie exemplarisch etwa in Picassos Aufnahme und Verarbeitung von Velazquez' "Las Meninas" finden] hinausgeht. Mit der Reflexion auf die Geschichte der Kunst verbunden ist hier die Reflexion auf das Wesen der Kunst. Nicht die Frage also, wie malte Velazquez, wie eignete er sich künstlerisch ein Sujet an, bewegt die Künstler, sondern eher die Frage "Was macht die Kunst zur Kunst?" Schon beim Iteravismus bzw. bei der "Appropriation art", also der kopierenden Aneignung anderer Kunstwerke unter dem eigenen Namen, ging es ja nicht nur um das Phänomen der Wieder-Holung von Kunst vergangener Jahre, ihrer Re-Präsentation, sondern auch darum, was das Spezifische von Kunst ist bzw. wodurch sich eine Kopie vom Original unterscheidet. 

Was ist noch original an einem Kunstwerk des Künstlers Carlo Maria Mariani, was ist sein spezifischer Beitrag zur Kunst? Mariani zitiert die ganze Welt der abendländischen Kunstgeschichte, selbst Marcel Duchamps kühner Ausbruch aus der Kunst durch sein Ready-made Fountain von 1917 wird von ihm in den Pantheon der Klassizität integriert. Wie viel Disparates der Kunstgeschichte läßt sich in einem Kunstwerk in trauter Eintracht versammeln? Die Geschichte verleibt sich alle bedeutsamen Werke ein, wie sehr sie sich auch - wie im Falle Duchamps - dagegen wehren. Bei Mariani werden alle diese Werke auf einem Bild in charakterloser Schönheit zusammengreßt, seine akademische Malerei adelt alle Bildinhalte. Zugleich medialisiert er die Geschichte, macht sie zum Bildarchiv eines fortgesetzten Reflexionsprozesses auf die eigenen Bedingungen. 

Louis Mueller arbeitet ironisch, er nimmt das postmoderne Cross the border - Close the Gap (Leslie Fiedler) wörtlich und garniert die erhabenen und puristischen Werke von Ellworth Kelly und Barnett Newman, die manchem Theologen viele erfurchtsvolle Worte abgerungen haben, mit Comicfiguren wie Bugs Bunny oder Goofy. Barnett Newmans monochrome Malerei der hohen Kultur wird in ihrer Wirkung durch die Figuren der Unterhaltungskultur schlagartig unterminiert - als historisches Vorbild für diese Vorgehensweise ist Marcel Duchamps berühmtes Bärtchen für die Mona Lisa zu nennen. Auch Mueller geht es um die Originalitätsfrage und darum, wie weit man ein anderes Werk adaptieren kann um ein neues Kunstwerk aus ihm hervorzubringen. Muellers Bilder sind keine Re-Makes, wie sie Mike Bidlo oder Elaine Sturtevant geschaffen haben, vielmehr sind sie ins Extrem getriebene Anfragen an den Kunstbetrieb, was E- und U-Kultur noch unterscheidet, wieviel Abgrenzung vom Alltag für die Kunst notwendig ist, und wieviel Anknüpfung an den Alltag, aber auch wieviel Unterhaltung sie verträgt. 

Die Werke des Postmodernen Mark Tansey stellen eine Zitaten- und Bildcollage sowohl der Kunstgeschichte wie der Geistes- und Ideengeschichte dar. Hier tummeln sich die Künstler der Avantgarde zu Beginn des Jahrhunderts mit Theoretikern wie Derrida oder Mandelbaum auf Bildern, die nach Vorlagen von Cezannes oder anderen Bahnbrechern der Moderne gestaltet sind. Auch hier geht es um das Sich-Selbst-Verstehen der Kunst, das zugleich die Selbstverständlichkeit der Kunst infrage stellt. 

Neben die explizite Reflexion auf Wesen und Geschichte der Kunst sind in den letzten Jahren Ansätze von Künstlern getreten, das Wahrnehmungsfeld von Kunst zu untersuchen. 

Michael Heizer versucht, durch seine Arbeiten einen negativen Raum zu schaffen. Wie stellt man ein Kunstwerk durch beiseiteräumen aller positiven Form her? Alle Begleitumstände des Schaffens von Heizer tragen metaphysische Implikationen, es handelt sich um eine negative Theologie des Raumes. Zunächst geht Heizer für seine Arbeit in die Wüste. Dort setzt er Zeichen, aber keine positiven Zeichen wie die Errichtung eines Denkmals oder einer Skulptur, sondern negative Zeichen. Double Negative ist ein 240.000 Tonnen displacement, 457m lang, 15m tief und 9m breit. Es handelt sich um zwei Schnitte in den Sandstein, ein negatives, aber aussagekräftiges Zeichen (in) der Leere. "In Double Negative there is the implication of an object or form that is not actually there ... The title Double Negative is a literal discription of the two cuts, but it has metaphysical implications because a double negative is impossible. There is nothing, yet there is still a sculpture" [Michael Heizer]. 

James Turell, den in kürzester Zeit alle wichtigen deutschen Museen in ihre Ausstellungsräume aufgenommen haben, geht es auch um das Ausloten des Raumes, aber das Medium, mit dem er arbeitet ist das Licht. In seinen Wahrnehmungsräumen, die häufig für die ungewohnten Augen zunächst in völliges Dunkel getaucht sind, nimmt der Betrachter mit der Zeit ein schwaches fluoreszierendes Licht war, das eine räumliche Dimension bekommt. Turell sagt, er benutze das Licht als Material, um das Empfindungsmedium zu bearbeiten. "Ich bin daran interessiert, wo das Sehen-mit-geöffneten-Augen das innere imaginative Sehen trifft". 

Erinnerung, Ironisierung, Mediatisierung, aber auch die Sensibilisierung für Wahrnehmungsprozesse sind Charakteristika der Verselbstständigung der Kunst, ihrer fortschreitenden Differenzierung und Abgrenzung von allen außerästhetischen Momenten. Diese Bewegung des Spiels mit sich selbst stößt aber auch auf Protest, auf den entschiedenen Widerstand derer, die andere Projekte der Moderne wie die Versöhnung von Kunst und Leben durch dieses Spiel gefährdet sehen. 

... und Leben ...

Aktuell wird der Ruf nach Ausdruck von Betroffenheit in und aus einer Grenzsituation immer lauter. Nicht zuletzt der Umstand, daß Künstler und damit die Künste durch die Krankheit AIDS besonders stark betroffen sind, hat eine derartige Wende in der Kunst gefördert. Gefragt wird nach einer neuen Verbindung von Kunst und Leben, hervorgehoben wird die Notwendigkeit, daß die Künstler Orientierungen und Antworten für das Gemeinwesen schaffen. Falls die Kunst das nicht leiste, drohe sie zu verschwinden. 

Dieser Einwurf ist nicht neu, er ist seit Hegels Drohung vom Ende der Kunst immer wieder aufgetreten. Er kehrt ebenso in Hans Seldmayrs "Verlust der Mitte" wieder wie in Adornos Satz, nach Auschwitz sei es unmöglich, noch eine Gedicht zu schreiben. Jeweils wird ein historisches Geschehen, sei es das Zu-sich-selbst-kommen des Geistes, der Verlust des Menschenbildes in der Kunst, der Holocaust oder auch die Krankheit AIDS, so aufgeladen, daß das im Vergleich ästhetizistisch erscheinende Moment der Kunst moralisch diskreditiert scheint. 

Angesichts der Parusieverzögerung des romantischen Projekts der Versöhnung von Kunst und Leben, der Beschreibung der Kunst als einer Form höherer Wahrheit, wird nach einer Neubestimmung von Kunst und Leben gefragt. Soweit erkennbar, geht es um die De-Zentrierung der Kunst unter Anerkenntnis ihrer faktisch eingetreten gesellschaftlichen Vergleichgültigung. Die Kunst bildet demnach keinen Fokus mehr, durch den Probleme von Moral und Ethik gebündelt werden können, stattdessen rückt das Leben selbst bzw. die Kunst des Lebens ins Zentrum des Interesses. Das Tagebuch des 1994 gestorbenen Kunstkritikers Max Faust Dies alles gibt es also: Alltag, Kunst, Aids kann als Frage nach dem Beitrag der Künste zum Projekt Menschwerdung gelesen werden. Immer wieder kreist Faust um jenen Satz, den Novalis 1798 in sein philosophisches Arbeitsbuch geschrieben hat: Mensch werden ist eine Kunst. 

Kunst, so Faust, "zeigt sich zunehmend gebunden an das ungelebte Leben. Folgenlos bleibt ihr ästhetischer Vor-Schein. Nichts da von einer gesellschaftlichen Antithesis zur Gesellschaft". Die historische Investition Kunst, die sich die Menschheit leistet, ist zu einem Abschreibungsprojekt verkommen, sie ist nur noch Kunst und kein Leben mehr. Der Vorbehalt gegenüber der Kunst im Zeitalter von Aids lautet: "Kunst wird genau durch das, was sie zur Kunst macht - das Ästhetische -, in der Gegenwart fragwürdig. Sie kann das Ästhetische kaum noch überzeugend legitimieren." Faust sieht den Verlust des gesellschaftlichen Moments der Kunst: "Die Kunst als utopisches Moment ist immer auch Lebenshilfe. Vor dem Hintergrund des Verschwindens der Kunst besitzt dies heute Züge einer Selbsttäuschung. Je deutlicher sich die Kunst verabschiedet, desto illusionärer wird das, was man auf sie projiziert". Man muß im Interesse des Lebens Teile des ästhetischen Denkens der Moderne revozieren: "Kunst läßt sich nur als ein kontextuelles Phänomen begreifen. Sie ist nicht das ganz andere. Jede ihrer Differenzen ist eine Maske. Wir schrecken davor zurück, die Kunst mit dem Alltag zusammenzudenken". Auch autonome Kunst war nie getrennt von der Wirklichkeit: "Die großen puristischen Entwürfe dieses Jahrhunderts - Kandinsky, Mondrian, Malewitsch - sind 'Visionen der Reinheit'. Ihr Traum: daß sich ihr Erleben in Leben verwandelt ... Doch ihre Reinheit provoziert eine Selbstinfragestellung. Daß Mondrians Ästhetik zur Designvorlage für die L'Oreal-Haarkosmetikserie werden konnte, ist nicht nur ein gesellschaftlicher Mißbrauch. Selbst radikale Reinheit läßt sich entfremden, weil sie offensichtlich auch Momente der Entfremdung enthält". 

Es sind die großen Errungenschaften der Moderne selbst, ihr Materialpurismus, ihre Konzentration auf sich selbst, ihre Verabschiedung jeglichen Repräsentationsgedankens, die zur Krise der Kunst führen. Zur Zeit ist Kunst im Verschwinden begriffen, Autonomie wird funktionalisierbar: "Alles, was gesagt werden kann, ist schon gesagt. Sämtliche Extreme sind erreicht. Varianten ersetzen die Innovation". Mit dem Verschwinden der Kunst werden aber auch Energien frei, die produktiv genutzt werden können. Was Faust vorschwebt, scheint eine Aufhebung der Kunst in das Projekt Menschwerdung zu sein: das Zurücktreten der Kunst in der Gegenwart soll in eine neue Konzeption von Lebens-Kunst transformiert werden. Die Kunst soll nicht mehr durch ästhetische Negativität ausgezeichnet sein, nicht neben dem Leben stehen, sondern, wie in den ästhetischen Avantgarden zu Beginn dieses Jahrhunderts, auf das Leben bezogen sein, sie soll ihre Sprengkraft im gelebten Leben erweisen. 

Es ist nicht eine singuläre Attitüde eines Kunstkritikers, die sich hier artikuliert, die Künste selbst haben von sich aus schon längst das Unbehagen an einer ästhetisch separatistischen Kunst artikuliert. Ausstellungen wie "Das Fremde - Der Gast", "Kunst und Moral", Ausstellungstitel wie "Hoffnung und Verantwortung" oder auch Hans Haackes intervenierende Installation "Germania" als Beitrag des deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig 1993 belegen das. 

... im Übergang

Wie vermittelt sich die Rückbesinnung auf die Kunst und die Geschichte der Kunst mit der Forderung einer Annäherung von Kunst und Leben und der Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Verantwortung der Kunst? Wie werden beide Pole dieser Bewegung in der aktuellen Kunst aufgenommen, ohne daß die Kunst in die Gefahr gerät, ihre selbstgewählte und mühsam errungene Autonmie zu verletzen oder in gesellschaftliche Belanglosigkeit zu flüchten? 

Die Bewegung zwischen Moralität und Ästhetik, zwischen Kritik und künstlerischer Selbstreflexion läßt sich an Hans Haackes Installation von Venedig gut beobachten. Auch er reflektiert auf seine Weise die Geschichte der Kunst: er spielt mit dem Aufbruch der Bodenplatten des Pavillons auf Caspar David Friedrichs bekanntes Werk "Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung)" an, das seinerseits schon zu seiner Zeit als Versinnbildlichung der allgemeinen Erstarrung in Deutschland verstanden werden konnte, welche das Schiff der Freiheit unter sich begräbt. Diesen Impuls greift Haacke auf und aktualisiert ihn im Blick auf die Fremdenfeindlichkeit und die politische Eiszeit in Deutschland. Andere Werke Haackes sind weniger ästhetisch vermittelt und politisch wesentlich direkter , wie etwa seine Anklage gegen die Deutsche Bank auf der documenta 8. Der Biennale-Beitrag kann dagegen als ästhetische Bearbeitung eines politischen Vorgangs verstanden werden, wobei Haacke stärker als es vielleicht seine Künstlerkollegen tun würden, den Akzent auf das Politische, die gesellschaftliche Verantwortung der Kunst legt. 

Andere Künstler und Künstlerinnen dagegen versuchen mit subtileren Mitteln das kritische Moment in ihrer Malerei wahrzunehmen und verbinden ihre gesellschaftliche Kritik sehr viel stärker mit den formalen Eigenschaften ihrer Malerei. Hier gehen Ästhetik und Moral eine eher dialektische Beziehung miteinander ein. 

Cordula Güdemann hat auf ihrem Bildzyklus Bilder aus der bewohnten Welt die "kritische Sicht auf unsere Zeit mit fortwährender Erneuerung ihrer Bildauffassung und Bildgestaltung" (Peters/Friese) verbunden. Hier begegnen sich Welthaftigkeit und äußerste ästhetische Reflexion. Ihre Arbeiten sind organisierte "Bildstörungen". Sie rücken auf überraschende, oft provozierende Weise Bruchstücke aus unserer Weltwahrnehmung in den Blick. Da treffen sich hochrangige Politiker im Affengehege, gehen Hochhausparzellen im Meer der Ödnis treibend unter, verliert sich ein Kind im Dschungel des Häuserbetons. Dazwischen eine Stehparty, auf der graue Leute ihr Spiel spielen. Zugleich ist alles nur noch in der Fensterperspektive wahrnehmbar, nur partikular, nur durch den je eigenen Bildausschnitt wird Wirklichkeit erfaßt, nur noch Blickwinkel, keine Gesamtsicht mehr. Ironische Distanzierung, in die auch der Betrachter involviert wird, ist mit der kritischen Reflexion auf die Bedingungen der Welt, in der wir leben, verbunden. Auch in diese kritische Reflexion wird der Betrachter mit hineingezogen. So gelingt ein faszinierendes Morphing von Engagement und Ästhetik. Einerseits kann man nicht von den dargestellten Inhalten dieser Kunst abstrahieren, hier zeigt sich ein emphatischer Effekt beim Betrachter, zum anderen wird man durch die Art der Malerei, der unterschiedslosen Behandlung der Sujets irritiert und auf die Reflexion der ästhetischen Machart geführt."Moral ist keine Qualität in der Malerei und Ironie ein Mittel der Literatur. Cordula Güdemann bringt es fertig, in ihrer Malerei eine Distanz herzustellen, die die riskante Spannung zwischen Moral und Ironie in die Ästhetik des Bildes überträgt" schreibt Klaus Gallwitz zu ihren Werken und bestätigt damit den hier vertretenen Effekt des Morphing von Ästhetik und Moral in der neueren Kunst. 

Hinzuweisen wäre an dieser Stelle auch auf das Werk von Bruce Naumann, und auch auf einige Arbeiten von Wolfgang Flatz. Überhaupt finden sich zahlreiche Künstler in den letzten Jahren, die bei unvermindertem ästhetischem Anspruch auch gesellschaftskritisch arbeiten. 

Bei all diesen Arbeiten bleibt das Leben nicht draußen vor, es wird in die Malerei einbezogen, aber zugleich in kritischer Distanz gemustert. Momente des Geschehens werden isoliert und neu kombiniert, die formale Gestaltung der Werke stellt Verbindungslinien und Kontraste her, die anregen und zur Reflexion anleiten. 

Natürlich kann die Frage gestellt werden, ob es angeht, komplexe gesellschaftliche oder existentielle Themen unter ästhetischer Perspektive zu verarbeiten. Oder auch, ob nicht jede Kunst durch ihren ästhetischen Charakter bereits ethische Momente enthält. Aber darum geht es bei den hier betrachteten Werken nicht. Vielmehr geht es um ein komplexes Spiel zwischen zwei Polen. Nicht Gesinnungsästhetik oder Betroffenheitskunst ist angesagt, die Werke lassen sich nicht als moralische Appelle einsetzen. Gerade weil sie konsequent das ästhetische Moment hochhalten, weil sie weder in der kritischen Betrachtung der Welt noch in der künstlerischen Materialbewältigung Kompromisse machen, repräsentieren sie einen anderen Typ von Kunst, der über das abstrakte Entweder-Oder von Kunst oder Leben hinausführt, den peinlichen Anklang an den Realismus vermeidet und Kunst und Leben dennoch verbindet.


Literatur

  • Adorno, Theodor W.: "Engagement" In: ders., Noten zur Literatur. Frankfurt 1981. S. 409-430.
  • Faust, Wolfgang Max / de Fries, Gerd: Hunger nach Bildern. Deutsche Malerei der Gegenwart, Köln 1982.
  • Faust, Wolfgang Max: Dies gibt es also - Alltag, Kunst, Aids, Stuttgart 1993.
  • Fiedler, Leslie: "Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne." (Cross the Border - Close the Gap). In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. von W. Welsch. Weinheim 1988. S. 57-74.
  • Franz, Erich (Hg.): Das offene Bild. Aspekte der Moderne in Europa nach 1945. (Ausstellung Münster/Leipzig) Stuttgart 1992.
  • Gallwitz, Klaus: "Die Bilder in den Bildern" in: Ausstellungskatalog Cordula Güdemann, Bilder aus der bewohnten Welt, Düsseldorf 1994,  S. 48f.
  • Güdemann, Cordula: Bilder aus der bewohnten Welt, Kunstmuseum Düsseldorf 1994 (Ausstellungskatalog).
  • Kunstforum international, Band 123: Kunst Geschichte Kunst.
  • Luther, Henning: "Subjektwerdung zwischen Schwere und Leichtigkeit - (auch) eine ästhetische Aufgabe?" In: Von der Schwere Gottes und der Leichtigkeit des Seins. Hg. von Dietrich Neuhaus. Arnoldshain, 1992, S. 28-50.
  • Taylor, Mark C.: Disfiguring. Art, Architecture, Religion. Chicago/London 1992.
  • Turell, James: "Licht als Material". Ein Gespräch mit Frauke Tomczak, Kunstforum international Bd. 121, S. 350-367.
  • Wils, Jean-Pierre: 'Ästhetische Güte'. Philosophisch-theologische Studien zu Mythos und Leiblichkeit im Verhältnis von Ethik und Ästhetik. München 1990.

© Andreas Mertin