Für den religiösen Menschen, so schreibt der Religionswissenschaftler Mircea Eliade in seinem Buch 'Das Heilige und das Profane', ist die Welt nicht einheitlich; sie weist Brüche und Risse auf, sie enthält Teile, die von den übrigen grundsätzlich verschieden sind: "'Komm nicht näher heran!' sprach der Herr zu Mose, 'Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden' (Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. 'starken', bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind." Als Beispiele für bedeutungsvolle Räume nennt Eliade den Kirchenbau und den Hausbau ("eine Wohnstatt bauen heißt immer, das Werk der Götter nachzuahmen"). So entstehen Orte, die vom Einbruch des Heiligen in die Welt zeugen. Dabei kann man den heiligen Ort nicht frei wählen, sondern nur suchen und finden. Erst durch diesen heiligen Ort entsteht so etwas wie ein geordneter Kosmos. Was Eliade hier beschreibt, ist seiner eigenen Überzeugung nach aber bereits ein Teil unserer Vergangenheit. Für den modernen Menschen gibt es keine heiligen Räume mehr. Wie Menschen früher Räume als religiöse erfahren haben unterscheidet sich grundlegend von der Raumerfahrung in der Moderne.
Diese These hat zunächst vieles für sich. Wer das Verhalten heutiger Menschen in kirchlichen Räumen beobachtet, kann feststellen, dass sie kaum noch in der Lage sind, religiöse Räume von profanen Räumen zu unterscheiden, also etwa zwischen Kirche und Museum zu differenzieren. Wenn ein Kennzeichen des religiösen Menschen sein Bedürfnis ist, sich dort aufzuhalten, "wo die Möglichkeit besteht, mit den Göttern zu kommunizieren; also dort wo man den Göttern am nächsten ist", dann sind die heutigen Menschen davon um Welten entfernt. Zu fragen ist daher nach dem Ausdruck von Religion und Religiosität in der gegenwärtigen Kultur, zu fragen ist, wer wann wozu sagt: dies ist ein religiöser Raum - und dies ist keiner.
Zunehmend muß sich die Theologie damit beschäftigen, dass es 'die' christliche Religion nicht mehr gibt, dass die akademische Theologie an Verbindlichkeit verliert, ja, dass der einzelne Gläubige zum Produzenten seiner eigenen Theologie geworden ist. Der Praktische Theologe Henning Luther kommt zu dem Ergebnis: "Die theologische Auslegung der offiziellen Religion erfasst nicht länger die vielfältige Deutungspraxis der subjektiven Frömmigkeit". Was einzelne Menschen und Gruppierungen glauben, hat sich in der Gegenwart eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Ausdrucksräumen geschaffen. Religion lebt nicht nur in der Institution Kirche, sondern ganz individuell und doch in gesellschaftlich bedeutsamen Größenordnungen z.B. in populären literarischen Stoffen (z.B. in Romanen von Rosamunde Pilcher) oder in Produkten der populären Musik (z.B. in Liedern von Madonna) fort.
Dennoch gibt es unbestreitbar Anzeichen dafür, dass für viele Menschen der heilige, der 'starke' Raum im Sinne Eliades weiter oder wieder eine besondere Bedeutung hat. Für sie ist der Gottesdienstraum ein Ort, der als deutlich von der Hektik, Banalität und Rücksichtslosigkeit des Alltags getrennter Raum erfahren und bewusst auch so gewollt wird. Im Gottesdienstraum sollen die Gesetze des Alltags nicht mehr gelten. Folgt man dem Soziologen Hans Georg Soeffner, ist es geradezu ein Charakteristikum kirchlicher Gebäude, sich gegenüber dem 'profanum' abzugrenzen: "So verschieden kirchliche Gebäude gestaltet sind, sie alle - sofern sie bewusst als 'Kirchen' entworfen wurden - zeigen demjenigen, der in sie hineingeht, an, dass er bei seinem Eintritt die Schwelle vom Sinnbezirk des Alltags und dessen pragmatischen Zwängen überschritten und sich in einen anderen 'Sinnhorizont' hineinbegeben hat."
Ein Beispiel dafür ist die Bedeutung des Raums in der Asylfrage. Hier wird der Gottesdienstraum als religiöser Schutzraum verstanden. Das macht aber nur Sinn, wenn er ein "heiliger Ort" ist, an dem die Regeln des Alltags zumindest zeitweise nicht mehr gelten. Die Vermutung, dass der Raum der Kirche Schutz bieten könne gegen das staatliche Gewaltmonopol, basiert auf der - vermutlich berechtigten - Hoffnung, selbst der moderne Staat und seine Vollzugsorgane scheuten sich, einen heiligen Ort zu verletzen, indem sie dort Amtshandlungen vornehmen. Man vertraut darauf, dass Kirchen im Bewußtsein der Menschen immer noch als heilige Orte präsent ist.
Etwas ähnliches lässt sich bei der jüngst erfolgten Ablehnung der Techno-Partys in verschiedenen Großstadtkirchen beobachten. Auch hier wird mit der Integrität des heiligen Raumes argumentiert. Nicht nur die Regenbogen-Presse mit ihren reißerischen Berichten von einer 'Entweihung' des Gottesraumes, sondern auch einige Kirchenvertreter demonstrieren ein Raumverständnis, das deutlich von der Vorstellung des heiligen Ortes geprägt ist. Die Forderung, dass Kirchengebäude im Rahmen einer Techno-Nacht mehr sein müssten als nur 'Hülle', lässt danach fragen, was sie denn sonst sein sollen. Auch kirchliche Räume sind zunächst einmal schlicht 'Hülle', es sei denn, man schriebe ihnen neuerdings im Protestantismus eine "eigenständige Bedeutung" zu. Aber selbst dann ist doch zu fragen: welche? Und was ist im Rahmen der "eigenständigen Bedeutung" dieses Raumes erlaubt und was nicht? Und wer entscheidet darüber? Konkret gefragt: Ist ein Bach-Konzert, für das der genießende Besucher in der Kirche ebenso seinen Obolus entrichten muß wie bei einer Techno-Party, etwa ortsgemäßer, religiöser, vielleicht sogar christlicher? Darf es Musik und Tanz in der Kirche nur mit dem obligatorischen s.d.g. (soli deo gloria) geben?
Oder geht es den Kritikern gar nicht um einen Dialog mit einem kulturellen Gegenwartsphänomen, sondern um die Kontrolle des Raumes? Reproduziert sich hier der alte Priestergedanke, der den Gottesdienstraum als Wohnung Gottes versteht, die Gottesdienstbesucher als dessen Gäste und das Kirchenregiment als einen den Hausherrn vertretenden Geschäftsführer? In dieser Perspektive gäbe es dann 'legitime' und 'illegitime' Umgangsformen mit dem Raum. Über Legitimität und Illegitimität entscheidet das Kirchenregiment. Diese Vorstellung lässt sich aber nicht halten. Schon Calvin schreibt zur Bedeutung der Kirchengebäude: "Dann müssen wir uns aber hüten, sie nicht etwa, wie man das vor einigen Jahrhunderten angefangen hat, für Gottes eigentliche Wohnstätten zu halten, in denen er sein Ohr näher zu uns kommen ließe; auch sollen wir ihnen nicht irgendeine verborgene Heiligkeit andichten, die unser Gebet bei Gott geheiligter machte".
Was macht das Besondere kirchlicher Räume aus, wenn sie weder heilige Räume noch beliebige Kommunikationsorte sind? Glaubt man den Beobachtungen von Soziologen, so werden kirchliche Räume heute weniger von Gemeinden als vielmehr von religiösen Individualisten bevölkert. Nach Hans-Georg Soeffner sind sie nur zu Konzertsälen geworden für das Auftreten von "Ensembles von Individualisten und letztlich religiösen Solisten, die sich selbst feiern." Trifft diese Einschätzung zu, und sie formuliert ja nichts anderes, als dass die Menschen heute die eigene Erfahrung zum Ausgangspunkt religiöser Reflexion nehmen, dann sind nicht erst die Techno-Partys in den Kirchen, sondern schon der kirchliche Alltag durch und durch von der Privatisierung der Religion gekennzeichnet.
Vielleicht kommt den Kirchenräumen als religiösen Räumen heute die Aufgabe zu, die notwendigen Gespräche zwischen den individualisierten Menschen über die jeweils eigene Auffassung der (christlichen) Religion zu ermöglichen. Notwendig sind "Besinnungs-, Meditations- und Feierstätten" über die Grenzen des Gruppendenkens hinaus, um, wie es Henning Luther formuliert hat, "zu verhindern, dass zwischen den vielfältigen subjektiven Zugängen zur Religion keine Verständigung mehr möglich ist".
Wenn es keinen Sinn mehr macht, von 'dem' Gläubigen auszugehen, wenn innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes so viele religiöse Einstellungen wie Menschen zusammenkommen, dann gehört es vielleicht zu den kommenden Aufgaben der Kirche, religiöse Räume bereitzustellen, in denen die Menschen ihre je eigene Auffassung des christlichen Glaubens, ihre besondere Prägung von Frömmigkeit und Religiosität artikulieren, inszenieren, ausdrücken, tanzen, wiederfinden, re-inszenieren, meditieren, praktisch leben und vergegenwärtigen können. Aufgabe wäre es zudem, dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Gruppierungen miteinander ins Gespräch kommen können. Zu diesen Gruppierungen zählen etwa junge Menschen mit dem Interesse an körperlich-sinnlichem Ausdruck, Menschen mit hohem ethischem Anspruch auf soziale Veränderung, die große Gruppe der von der Kirche kaum angesprochenen 25-50jährigen mit hohem kulturellem Anspruchsniveau und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung, Menschen mit dem Interesse an Sinnvergewisserung, Kranke mit dem Wunsch nach Zuspruch und Tröstung. Gegenstand des Gespräches muß dabei auch sein, ob es Überzeugungen gibt, die die Differenzen zwischen den einzelnen religiösen Einstellungen zu überbrücken vermögen. Gegenüber anderen öffentlichen Gebäuden, die alle Nutzer gleich machen, und solchen, die Menschen in Klassen aufteilen, müsste der religiöse Raum die Individualität des einzelnen achten und ihn zugleich in die Lage versetzen, sich mit Menschen zu versammeln, die eine andere religiöse Prägung haben. Auf den Kirchenraum als religiösem Raum käme die Aufgabe zu, den unterschiedlichen Gruppierungen ein Zuhause, eine Artikulationsmöglichkeit oder einen Anknüpfungspunkt zu bieten.
Nach dem Praktischen Theologen Rainer Volp geht es darum, das Spannungsfeld des Kirchenraums auszunutzen. Kirchenräume leben von der Spanne zwischen Intimität und Öffentlichkeitscharakter; zwischen intimem Wohnhaus und öffentlichem Forum; zwischen individueller Meditation und gemeinschaftlichem Austausch. Es geht um die spannungsvolle Arbeit an der Kunst, Gott zu feiern.
Der Kirchenraum könnte so verstanden werden als profaner religiöser Raum. Dieser Raum dient dem Gebet, dem Anhören der heiligen Schriften, der Feier und dem Diskurs bis hin zum Beratschlagen der sich daraus für die Gemeinschaft ergebenden gesellschaftlichen Konsequenzen. Im Blick auf das Asyl könnten religiöse Räume genutzt werden als Zeichen dafür, dass Religion nicht folgenlos bleibt, im Blick auf die Techno-Partys wären sie ein Freiraum für die Begegnung sonst sprachlos einander gegenüberstehender Kulturen, im Blick auf Film, Kunst, Literatur und Alltagskultur ein Raum-Angebot, säkulare, profane Erfahrungen im religiösen Kontext neu durchzubuchstabieren.
Ein Kunstwerk des im letzten Jahr verstorbenen Künstlers und Theologen Thomas Lehnerer im Bremer Museum Weserburg trägt den Titel: "Die Religion gehört der Kirche nicht". Das ist wahr. Aber Kirchen als religiöse Räume sind Angebote, Religion zu leben, über Religion und Religiosität zu sprechen und neue Ausdrucksformen auszuprobieren.
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