Alle Werbung ist (nur) ein Gleichnis

Alte und neue religiöse Erzählungen aus der Warenwelt
Zur Arbeit mit Werbung im Religionsunterricht

von Andreas Mertin

aus: Schönberger Hefte 1/1996, S. 23-32

Werbung im Religionsunterricht?

Werbung pflegt im Rahmen des Religionsunterrichts in der Regel unter ideologiekritischen Gesichtspunkten thematisiert zu werden. Die Frage lautet: Wer manipuliert wen mit welchem Interesse wie? Werbung ist demnach, wie Yorick Spiegel schreibt, eine 'Ausbeutung der Sinnbilder'. Diese die Werbeindustrie ausschließlich kritisch betrachtende Haltung durchzieht fast alle Auseinandersetzungen zum Thema und sie hat gewiß auch ihre Berechtigung. Freilich ist sie nicht folgenlos im Blick auf die Rezipienten der Werbung, die Konsumenten. Diese erscheinen als Verführte, als Opfer, als Manipulierte, die aus diesem Status befreit, d.h. aufgeklärt werden müssen. Nun ist in der Philosophiegeschichte seit Jahrhunderten deutlich, daß diese Figur der Aufklärung notwendig selbst eine Asymmetrie in der Beziehung zwischen Aufklärer und Aufzuklärenden, zwischen Wissenden und noch nicht Wissenden und deshalb Verführbaren herstellt. Man selbst weiß Bescheid oder meint Bescheid zu wissen, betrachtet sich als tendenziell unbetroffen und klärt nun andere, die nicht bzw. noch nicht Bescheid wissen, über ihre Irrtümer und ihr Manipuliertsein auf.

Ich möchte diese Figur der Aufklärung hier nicht vertreten, zum einen, weil mir die Konsumenten durchaus in der Lage zu sein scheinen, die Manipulationsmechanismen der Werbung zu durchschauen und zu thematisieren. Zum anderen, weil ich mir nicht den Blick dafür verstellen lassen möchte, ob die Werbung nicht selbst als als kulturell belangvolles Material zu betrachten ist. Das jedenfalls möchte ich im folgenden tun, auch wenn ich mir an einigen Punkten erlaube, Anschlußfragen zu stellen, die sich kritisch mit den religiösen Implikationen des untersuchten Materials auseinandersetzen, etwa beim Werbe-Clip der Telekom, aber hier geht es gerade darum, die sachlichen Gehalte des untersuchten Materials zu untersuchen.

Zudem möchte ich nicht in die verbreitete Klage über die mißbrauchte Sprache der Religion einstimmen, weil man dann in die Situation gerät, die institutionalisierte Religion als Alleinvertreter mit Exklusivrechten für bestimmte Formulierungen, Stoffe und Sujets anzusehen. Dafür gibt es keinen Grund. Die Religion wird nicht mißbraucht oder ausgebeutet, nur weil Chivas Regal die deutsche Übertragung von 3. Mose 19,18 oder von Matthäus 22,39 umformuliert: Liebe deine Gäste wie dich selbst.

Wenn ich eine Anzeige sehe, in der Religion vorkommt, auf Religiöses angespielt wird, in der Themen und Mythen des Christentums angesprochen werden, oder auch eine Werbung, die sich kritisch mit Religion auseinandersetzt, empfinde ich das als selbstverständlichen Bestandteil meiner Lebenswelt. Religion ist und bleibt ein wichtiges Element der alltäglichen Kommunikation, wenn auch die Sprache sich von der der institutionalisierten Religion, also der Kirchen, zunehmend abkoppelt. Mich würde es nur wundern, wenn Religion in der Werbung überhaupt nicht mehr vor käme, weil das zugleich bedeuten würde, daß sie in der Lebenswelt der Menschen keine Bedeutung mehr hätte, daß also Werbung, Kunst, Nationalismus, Medien und all die anderen sinnproduzierenden Diskurse, Religion tatsächlich ersetzen könnten.

Das Material für diese Spurensuche findet sich überall, an Plakatwänden, in Tageszeitungen, Illustrierten und Zeitgeistzeitschriften. Ich bevorzuge eine großformatige Zeitschrift, die ihre Leser regelmäßig die beste Anzeige des Monats wählen läßt und die randvoll mit Werbung ist. Aber prinzipiell ist fast jedes Printmedium geeignet. Nicht zu vergessen ist die Werbung im Fernsehen, auch hier findet sich eine Fülle an Material, das häufig mit der Werbung in den Zeitschriften abgestimmt ist. Und schließlich sollte man auch an die großformatigen Werbetafeln denken, die die Gesichter unserer Städte prägen, an denen wir Tag für Tag vorübergehen, und die sich in unser Gedächtnis einprägen, ohne daß wir sie noch besonders wahrnähmen.

Auch wenn wir von Werbung umzingelt sind, gibt es nur selten gute Anzeigen, die Mehrzahl ist weder sinnlich noch thematisch ansprechend. Oft findet man gerade eine interessante, innovative, kreative und kulturell belangvolle Werbung in einer ganzen Zeitschrift. Häufig geht man auch leer aus. Wie bei Predigten, Unterrichtsentwürfen, Fernsehspielfilmen, Video-Clips und dergleichen gibt es gute Produkte nur selten.

Das Themenspektrum der Werbung richtet sich nach den angestrebten Wirkungen. Natürlich arbeitet Werbung mit allem, was zur Erreichung ihrer Ziele hilfreich erscheinen. Dabei treten vor allem Erotik, Sexualität, Lebensgefühl, Genuß, Action, also die Erlebnisparadigmen in den Vordergrund. Lifestil heißt das allgemeine Thema. Zunehmend werden auch gesellschaftspolitische Fragen thematisiert: Rassismus, Ökologie, Gerechtigkeit, Frieden usw. Ich habe mich bei den vorgestellten Beispielen im wesentlichen auf Religion im weitesten Sinne konzentriert, von mythologischen Themen und direkten Anspielungen auf biblische Themata, über Spiritualität und die Existentialien des memento mori bis zu den Themen Gewalt und Gleichgültigkeit, Familie und religiöse Symbole.

Die Arbeit an Werbe-Anzeigen folgt den gleichen Kriterien, wie Arbeit an biblischen Texten, an Kunstwerken oder Video-Clips. Es ist eine Kombination von Exegese und Hermeneutik. Und dabei sind Theologen in der günstigen Lage, solides Handwerkszeug mitzubringen. Offensichtlich ist es die Religion, hier die Theologie und noch genauer die Exegese, die Wissenschaft von der Auslegung der Heiligen Schrift, die so profane Phänomene wie Werbespots erst wirklich erkennen und verstehen läßt, schrieb der Theologe Horst Albrecht, der mit seinem Buch Die Religion der Massenmedien eine umfassende Studie zum Thema geschrieben hat.

Wenn es strukturelle Analogien zwischen Religion und Werbung, genauer zwischen der Sprache der Werbung und der Sprache der Religion gibt, dann lohnt der Blick auf dieses zeitgeistnahe und wohl auch geistesgegenwärtige Medium. Werbespots im Fernsehen, so schreibt der Medienkritiker Neil Postman, sind eine Form von religiöser Literatur. Wenn man sich ernsthaft mit ihnen beschäftigt, gerät man auf das Feld der Hermeneutik, jenes Zweigs der Theologie, der sich mit der Auslegung und Erklärung der Heiligen Schrift befaßt ... Mögen sich Heiden, Ketzer und Ungläubige anderen Dingen zuwenden ... Die Mehrzahl der wichtigen Werbespots im Fernsehen nimmt jedoch die Gestalt eines religiösen, auf einer kohärenten Theologie errichteten Gleichnissses an. Wie alle religiösen Gleichnisse entfalten sie eine Vorstellung von Sünde, geben Hinweise auf den Weg zur Erlösung und eröffnen einen Ausblick auf das Himmelreich. Damit wird vielleicht auch deutlich, wozu Werbung im Religionsunterricht analysiert werden kann.


Einige Beispiele

Die von mir ausgesuchten Beispiele konzentrieren sich auf das Vorkommen von Religion und für die Religion relevanter Themen in der Werbung sowie auf einige Anzeigen, die zu religiösen Kommentaren Anlaß geben.

Otto Kern: Kleidung

Die Werbung von Otto Kern arbeitet seit Jahren mit religiöser Symbolik und ihrer kreativen Umsetzung für den Zeitgeist. Otto Kern. The magic of fashion ist mehr als nur Programm. Die Magie (des Christentums) hat es Kern angetan.

So präsentiert Kern 1992 eine Anzeige mit einem Doppelbild. Auf der linken Seite sieht man eine junge Frau im Mantel vor einem Grottenkreuz mit Marienstatue knien, die Hände flehend zum Gebet gefaltet. Ihr Blick geht genau dort hin, wo an sich der Korpus Christi hängen müßte. Auf der rechten Seite lehnt diese junge Frau an ein Treppengeländer und betrachtet einen kleinen Puppensäugling, den sie im rechten Arm hält. Das Interpretationsangebot ist bewußt mehrdeutig gehalten, aber die mariologische Komponente sticht hervor.

Auf den Anzeigen aus dem Jahr 1993 steht die Auseinandersetzung mit dem Rassismus im Vordergrund. Ganz global wird dazu in Schwarz-Weiß gearbeitet. Kern präsentiert eine Anzeigenserie mit der deutschen Olympiasiegerin Heike Henkel und dem farbigen Top-Modell Naomi Campell. Wieder handelt es sich um Doppelbilder. So sieht man etwa Heike Henkel auf der linken Seite liegend vor einer schwarzen Pferdesilhouette vor einem hellen Himmel, auf der rechten Seite Naomi Campell vor einer weißen Pferdesilhouette vor einem dunklen Himmel. Eine andere Anzeige aus dieser Serie bezieht sich auf die Bibel. Rechts vor dunklem Hintergrund Heike Henkel im dunklen Kleid mit sieben Kindern in dunkler Kleidung. Alle Kinder tragen eine brennende Kerze. Links Naomi Campell im weißen Kleid vor hellerem Hintergrund. Um sie herum sieben Kinder mit weißen Umhängen, die Schiefertafeln hochhalten, auf denen Liebe, Hoffnung, Glaube steht. Die Anknüpfung an 1. Korinther 13, 13 ist augenfällig.

Den Höhepunkt, was die allgemeine Aufmerksamkeit betrifft, erreicht Kern mit seinen Serie biblischer Motive, u.a. mit Daniel in der Löwengrube. Vier Motive zeigen dabei das Abendmahl, zwei daraus wurden veröffentlicht, eins offiziell inkriminiert. Dieses zeigt einen jungen Mann inmitten von zwölf jungen Frauen an einem Tisch sitzend. Die Inszenierung ist übernommen von Leonardo da Vincis berühmten Abendmahl in Mailand. Alle Beteiligten tragen blaue Jeans und sind 'oben ohne'. Der Text zur Anzeige variiert, zunächst lautete er: Wir wünschen mit Jesus, daß die Frauen die Männer respektieren lernen, in der späteren Fassung: Wir wünschen mit Jesus, daß die Männer die Frauen respektieren lernen. Die zweite Variante der Anzeige zeigt die gleiche Konstellation mit umgekehrten Geschlechterverhältnissen, die beiden nicht veröffentlichten sind jeweils mit nur einem Geschlecht besetzt. Die Aufregung um die veröffentlichten Bilder war gewaltig. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs stellte einen Antrag auf Verbot des Gesamtkatalogs wegen der Nutzung biblischer Sujets zu Werbezwecken, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Zwischenzeitlich hat Otto Kern mit seinem Fotografen Heinz Wackerbarth auf die m.E. in nichts begründeten Inkriminierungen reagiert. In Anknüpfung an den sog. 'Hosenmaler' Daniele da Volterra, der im Auftrag von Papst Pius IV. die nackten Figuren Michelangelos übermalte, veröffentlichte Kern zunächst übermalte Versionen des Abendmahls, bei denen die beanstandeten Stellen mit primitivem Strich überdeckt wurden und zudem die Figuren mit altväterlichen Vollbärten versehen wurden. Und schließlich veröffentlichen sie noch eine Anzeige mit dem Titel 'Steinzeit', auf der der Künstler Wolfgang Petrovsky ein kunstvolles Steinarrangement mit Fragmenten der Kernschen Abendmahlsdarstellung in der barbusigen Version zeigt.

Wie kann man mit diesem Material arbeiten? Zunächst kann gefragt werden, warum Otto Kern überhaupt mit religiös-mythologischen Motiven arbeitet. Was macht die Jungfrau Maria, das Abendmahl, Daniel in der Löwengrube so interessant, daß mit ihnen geworben werden kann? Denn selbst wenn man unterstellt, es ginge darum, eine bestimmte Atmosphäre, eine bestimmte Assoziation herzustellen, bieten sich doch andere als gerade diese Motive an. Auch bei Benetton kommen Kreuze oder Nonnen vor, aber dann wechselt das Sujet. Warum also Kerns Treue zur Religion? Wenn Otto Kern, der sich als gläubiger Katholik bekennt, Aufnahmen von sich und seiner Familie im ikonografischen Stil der Heiligen Familie auf der Flucht machen läßt, dann ist das mehr als eine persönliche Marotte. Fragen muß man aber auch, was andere zum Protest gegen religiöse Motive in der Werbung veranlaßt. Jedes religiös angehauchte Lied der volkstümlichen Hitparade ist ungleich obszöner als das, was Otto Kern macht. Das soziale Engagement gegen Rassismus wiederum liegt im Trend der Zeit, viele Firmen und Werbeagenturen haben gegen die Anschläge gegen Ausländer in der BRD protestiert. Zur Ästhetisierung der Lebenswelten gehört nicht nur das Eintreten für ein gutes Leben, sondern auch für ein gutes Leben für alle, unbeschadet ihrer Hautfarbe und ihrer Herkunft. Dies ist in der Werbebranche common sense, Werbung hat ethische Implikationen.

C&A: Kleidung

Die Firma C&A macht seit einiger Zeit eine mehrfach durch Preise ausgezeichnete Fernseh- und Kino-Werbung für ihre Produkte. Jedesmal geht es um mythische, spirituelle oder religiöse Themen, jedesmal singt eine populäre Musikgruppe. In den Printmedien wird der Werbeclip wie ein richtiger Film angekündigt: C&A Young Collection zeigt eine German Answer Production und dann folgen die Darsteller, der Kameramann und der Regisseur. Ein Zettel verkündet: Jetzt wieder im Kino und auf MTV.

'Indian sprits' hieß eine sehr erfolgreiche Werbung, die eigentlich nur als Film richtig verständlich ist. Der Clip erzählt die Story zweier junger Menschen, einem Jungen und einem Mädchen. Der junge Mann arbeitet in einer Universitätsbibliothek, die junge Frau in einem Hamburger-Restaurant. Beide werden im folgenden durch hilfreiche Geister, die nur für die beiden jeweils sichtbar sind (indian spirits) aus ihrem Alltagstrott herausgerufen und zueinander geführt. Diese Begegnung findet mitten in der Natur statt, ihr Kontext erinnert Taufe und Trauung in einem. Erwacht aus ihrem 'Tagtraum' finden sie sich an alter Stelle, aber nicht unverwandelt wieder. Der Ausbruch, der Exodus aus dem Hier und Jetzt, aus der Hektik des Alltags ist jederzeit möglich. (Einen ausführlichen Kommentar zu diesem Clip bietet Michael Rose, 'Suchet, so werdet ihr finden'. Mit einem Werbespot der Religion auf der Spur; in: Orientierung. Berichte und Analysen aus der Evangelischen Akademie Nordelbien, 1994.)

Die Werbung mit dem Titel Power erzählt ebenfalls eine Geschichte. Ein junges Paar bricht in ein Eisenbahndepot ein und entführt eine dort stillgelegte Dampflokomotive mit Tender. Mit dieser Lokomotive machen sie sich auf den Weg durch eine wüste Landschaft. Im Rahmen ihrer Reise stoßen immer mehr Menschen zu ihnen: ein junge Frau mit Kind, ein Wissenschaftler, ein alter Mann mit Rollstuhl, junge Leute mit einem Buick, ein Motorradfahrer usw. Sie alle scheinen eher ethnisch oder sozial zu den Randgruppen der Gesellschaft zu gehören. Mit einem Mal scheint der Weg zuende zu sein, eine Absperrung verbietet die Weiterfahrt und droht Gefahr an. Die kleine Gruppe läßt sich nicht abschrecken, zieht sich aber vorsichtshalber ins Innere der Lokomotive zurück. Sie geraten in einen Tunnel dessen Ausgang zugemauert ist. Alle Perspektive ist verstellt, die Zukunft sieht schwarz aus. Aber dann bricht die Lokomotive spektakulär durch die Mauer und fährt weiter über eine Brücke wie auf einem Gemälde von Dali der Zukunft entgegen, gefolgt von einem radelnden Harlekin. Der Titelsong lautet Like a believer und stammt von Marla Glen, deren Konterfei im Wechsel zur erzählten Geschichte auf der Leinwand auftaucht. Erinnerungen an die biblische Exodus-Geschichte sind nicht unangebracht. Der Clip versammelt viele Assoziationen und Anspielungen, denen man in der Analyse nachgehen müßte. Das beginnt mit dem Liedtext, geht über die Falschfarben des Clips und die künstlerischen Assoziationen (z.B. an Edward Hopper, von dem mindestens ein Bildmotiv aufgenommen ist, aber auch Salvador Dali), bis hin zu den religionsgeschichtlichen Anspielungen (Exodus) und gesellschaftlich-psychoanalytischen Mythologien, die hier verarbeitet werden (Lokomotive, Tunnel, Durchbruch, Brücke, Rollstuhl). Die Sehnsucht, aus- und durchzubrechen, auch wenn alle Auswege versperrt zu sein scheinen, gehört zu den virulenten Motiven aller jungen Generationen seit den 60'er Jahren.

Der Umgang mit der Werbung von C&A hängt davon ab, ob die entsprechenden Video-Clips vorliegen. Ohne sie wird die Auseinandersetzung nicht so gewinnbringend sein. Diskutiert werden sollte, auf welche Erfahrungen, Sehnsüchte, Hoffnungen und Utopien hier angespielt wird. Die Tagträume, von Don Quixote bis zu den Indian spirits, die hier mit Macht geträumt werden, sind nur eine Kehrseite unserer hektischen Alltagswelt. Die Werbung verspricht/verheißt ebenso einen Ausbruch, eine Alternative mitten in der utopielosen Gegenwart, wie sie bekennt, bei jenen zu sein, die sich mit dem Bestehenden nicht abfinden.

René Lezard: Kleidung

Kann man mit zwei Totenschädeln, einer zerquetschten Fliege oder einer Ratte Werbung für exklusive Mode machen, ohne diese Mode auch nur annähernd zu zeigen? Die Werbung für die Produkte der Firma René Lezard zeigt, daß dies gut möglich ist. Früher hob sich deren Werbung kaum von der ihrer Konkurrenzprodukte ab. Unter dem Motto Mode.Bewusst.Sein ging man relativ konventionell mit dem eigenen Produkt hausieren. Das änderte sich mit dem Wechsel der Werbeagentur. Diese setzte auf Exklusivität und unterschrieb den Firmennamen mit den Worten leider teuer! Daß es sich dennoch lohnt, diese Produkte zu kaufen, suchte die Werbung damit plausibel zu machen, daß sie auf witzige Weise Situationen beschwor, in denen sich der Konsument sagen sollte: ach, hätte ich mir doch lieber diese Kleidung von Lezard gegönnt.

Ein gutes Beispiel für diese Art der Werbung sind die beiden aufeinander gestapelten Totenschädel, ein klassisches Motiv des memento mori. Die beiden Schädel sind fast in Originalgröße abgebildet, dem einen fehlen alle Zähne, der andere ist noch 'intakt'. Traditionell wäre die 'Botschaft' dieses Bildes: Einst war ich schön über alle Frauen - Doch durch den Tod ward ich so. Mein Fleisch war sehr schön, frisch und zart, nun ist es ganz zur Asche geworden. Mein Leib war gar reizend und gar schmuck. Ich pflegte mich in Seide zu kleiden, nun aber muß ich mit Fug ganz nackt sein. Eingehüllt war ich in Grauwerk und feinen Buntpelz, in großem Palast wohnte ich zu meiner Lust - nun hause ich in diesem kleinen Sarg. Die Ästhetik der letzten Dinge wird in der Anzeige jedoch umgekehrt zum Motiv des Carpe diem. Der Text zu den Totenschädeln lautet Man kann sich gleich etwas Schönes gönnen. Oder man kann es aufschieben, aufschieben, aufschieben, aufschieben ...

Aufgegriffen wird das gleiche Motiv in der nächsten Anzeige. Der Blick fällt zunächst auf die Reste einer Fliege auf der rechten Seite, die ansonsten leer ist. Der Blick nach links zeigt, daß es der Betrachter war, der diese Fliege mit der Zeitung zerquetscht hat. Der Text dazu lautet: Das Leben kann so plötzlich enden, genießen Sie jeden Tag. Diese Anzeige ist in der Art der Gestaltung kaum noch zu überbieten; man muß sich bewußt machen, wie groß die Distanz zwischen der getöteten Fliege und der Kleidung von Lezard ist, um der Dramatik dieser Gestaltung nachzukommen.

Das dritte Beispiel stammt aus dem Bereich religiöser Vorstellungen, diesmal eher östlicher Provenienz. Der Blick fällt zunächst auf eine Ratte in der rechten unteren Ecke der ansonsten leeren Seite. Wieder findet sich der aufklärende Kommentar auf der linken Seite: Ziehen Sie sich immer gut an. Denn jeder wird so wiedergeboren, wie er gelebt hat. Und wer möchte schon als Ratte wiedergeboren werden, nur weil er keine Kleidung von Lezard getragen hat?

Auch das nächste Motiv stammt aus dem Fundus östlicher Religiosität. Man sieht auf der linken Seite eine Gruppe von kahlgeschorenen Mönchen mit Gebetsutensilien. Vier der fünf Mönche sind eher konventionell weiß gekleidet, der fünfte trägt dunkle Kleidung von Lezard. Der Text dazu: Es fällt nicht jedem leicht, auf alles zu verzichten. Der Effekt beim Betrachter, der in der Regel natürlich kein Mönch ist, soll wohl die Einsicht/das Bekenntnis sein: mir auch nicht. Und damit ist die beabsichtigte Nähe zum Produkt hergestellt.

Die Anzeigen von Lezard lassen sich zum Thema Rückgriff auf Existentialien und religiöse Motive in der Werbung oder einzeln als Aufhänger und Einstiegsmedien einsetzen. Ob carpe diem, Wiedergeburt oder zeitgenössisches Outfit von religiösen Mandatsträgern, wegen ihrer überraschenden Momente sind die Anzeigen in hohem Grad gesprächsanregend. Sie nutzen den Überraschungseffekt, um den Konsumenten zur materiellen Selbstvergewisserung anzuregen.

Puritano: Schuhe

Alle Anzeigen der Firma Puritano sind 'engagiert', d.h. sie thematisieren einen politischen oder gesellschaftlichen Konflikt und stellen zugleich klar, daß ein Puritano-Träger auf der richtigen Seite steht: engagiert, demokratisch, links.

Die erste Anzeige experimentiert noch mit der Form, aber die allgemeine Struktur ist bereits erkennbar. Rechts unten ein kahlgeschorener Kopf, darüber eine Uhr, die kurz nach 12 anzeigt. Darüber ein Schuh und eine fallende Bombe. Im Zentrum eine ausgemergelte Gestalt, die Hände vor dem Kopf verschränkt, links darüber eine Figur im Halbdunkel. Links unten eine ausgestreckte Hand, über die so etwas wie eine Handgranate eingeblendet ist. Alle Elemente des Bildes sind durch Striche verbunden, einige treffen sich in der Herzgegend der Zentralfigur. Zwei in Form und Inhalt unterschiedliche Texte sind abgedruckt. Der kleingedruckte lautet: Sie wählen ihre Freunde nach der Farbskala aus - Schicken die eigene Katze in das Labor - Lassen unsere Würde täglich platzen. Der zentrale Text dekretiert: Wenn Du es im Kopf bist, trägst Du es an den Füßen. Nicht nur das Bild, auch der Text verbleibt im Schwarz-Weiß, auch er lebt von der klaren Kontrastierung: Sie tun dies und Du tust das. Dieses Motiv wird nun in weiteren Beispielen variiert.

Auf der nächsten Anzeige bestimmen zwei Bildelemente den Blick: ein Schuh und ein nackter Frauenkörper mit vor den Augen verschränkten Händen. Von der Mitte des Bildes bis über den unteren Rand der Text: man sagt, die im dunkeln siehst du nicht. ich sage, sie werden uns noch kennenlernen. Brechtzitat und Stammtischdrohung werden so verfremdet, daß sie alles in eine eigentümliche Ambivalenz versetzen. Dazu gehört auch der Anklang an das biblische 'Ich aber sage Euch'.

Die nächste Anzeige ist präzis und klar: vor den Bildern der Erdkugel mit dem sich erweiternden Ozonloch der sich von links oben bis zur Bildmitte erstreckende Text: das loch in ihrem himmel entsteht durch das loch in ihrem kopf. Rechts unten ein Schuh mit Modellnummer. Auch hier ist die Verantwortlichkeit für die ökologische Misere klar verteilt: sie sind es, die durch falsches Bewußtsein die Welt zugrunde richten.

Beim nächsten Beispiel geht es um Rassismus und um die Asylfrage. Neben dem Schuh sieht man eine erhobene Hand über der das Wort halt steht. Darunter der Satz: er ist schwarz und kommt aus dem Ausland. Auch dies kein affirmativer Satz, auch hier wird die korrekte Haltung der Betrachter vorausgesetzt.

Sehr drastisch und eindeutig geht es auch bei der letzten Anzeige zu. Neben dem Schuh rechts unten sie man einen kahlgeschorenen Kopf einer Frau mit niedergeschlagenen Augen und einer Dornenkrone. Vor ihrer linken Wange ein nackter Fuß. In Anklang an den Liedtitel 'this boots are made for walking' lautet der Bildtitel im unteren Drittel der Anzeige: dieser schuh gibt ihnen kein recht andere zu treten.

Alle Anzeigen handeln ganz allgemein von Gut und Böse, sie alle appellieren daran, sich auf die gute Seite zu schlagen, ja, sie setzen für Puritano-Konsumenten voraus, daß diese auf der guten Seite stehen: Wenn Du es im Kopf bist, trägst Du es an den Füßen. Darin sind die Anzeigen gut religiös: der Kampf der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis ist ein Stoff, der nicht nur die Gemeinschaft in Qumran fasziniert hat. Die Frage bleibt: Kann man mit Moral Werbung machen?

MTV: Fernsehen

Wie macht man für einen Fernseh-Sender Reklame, wie verschafft man einem Fernsehkanal ein unverwechselbares Image? Natürlich geht das so, daß man auf bestimmte besonders beliebte Sendungen verweist oder auf Prominente Schauspieler und Talkmaster, die im Programm vertreten sind. Aber damit wird nur sehr spezifisch Werbung gemacht. Aber wie vermittelt man ein Lebensgefühl, wie es ein Sender verkörpert, der insbesondere Video-Clips ausstrahlt und sich von ähnlichen Sendern abgrenzen muß. Wie vermittelt man ein Identitätsgefühl?

Der Musiksender MTV hat in dieser Hinsicht eine erfolgreiche und preisgekrönte Werbeanzeige geschaltet. Man blättert in seiner Zeitung, schlägt eine Seite um und schaut auf einen kahlgeschorenen, selbstbewußt blickenden jungen Mann im Pelzmantel, mit dem obligaten Ohrring und einer Halskette. Mitten auf der Seite prangt das Wort EGOIST, ein dickes Etikett zur Auszeichnung des Abgebildeten. In der linken unteren Ecke ein Logo: willkommen zuhause MTV. So macht man Werbung für einen jugendlichen Musiksender. Aber damit nicht genug. Wer eine Seite weiter blättert, blickt auf ein junges Mädchen mit längeren Haaren, einen Ring durch den Bauchnabel, die Hände cool im Hosenbund. Sie blickt lässig wie ihr Pendant in die Kamera. Und wieder mitten auf der Seite das passende Etikett: MISTSTÜCK. Die Anzeigen gehören zu einer ganzen Serie: der RÜPEL, der SCHLAPPSCHWANZ, die NERVENSÄGE, die EINGEBILDETE KUH, die HYSTERISCHE ZIEGE. Und für alle gilt: willkommen zuhause MTV. Offensichtlich wird hier die Wahrheit ausgesprochen: daß MTV ein Stück Heimat ist, daß es zur Identität der 90'er Jahre gehört.

Was macht die Faszination dieser Werbekampagne aus? Warum stiften diese 'Häftlings'-Fotos Identität? Kann ein Fernseh-Sender Heimat sein? Kann man sich auf den gezeigten Werken finden. Unverkennbar ist, daß die Bilderserie auch ein Stück christlicher Botschaft aufgegriffen hat: die unbedingre Annahme des Sünders. Das ist der Sinn von diesem Bildzyklus: Wer und wie du auch bist, bei uns wirst du angenommen und bei uns findest du deinen dir zustehenden Platz.

VIVA: Fernsehen

Ebenso lapidar ist die Werbung für die Konkurrenz, den deutschsprachigen Musiksender VIVA. Ausgangspunkt sind Präsente, die die Fans des Senders eingesandt haben.

Der Betrachter sieht eine klar strukturierte Anzeige. Ein Becher, eine Zahnbürste, ein Slogan. Nichts Spektakuläres, sieht man einmal von der Buntheit des mit einem Brief beschriebenen Bechers und der Zahnbürste ab. Natürlich ist die Interpretation der Anzeige mehrdeutig. Man kann darauf verweisen, daß es sich hier offensichtlich um Fan-Artikel handelt. Man kann darauf verweisen, daß VIVA das tägliche Leben ebenso kontinuierlich begleitet wie das Zähneputzen dreimal am Tag, oder daß der Musiksender einen von Zähneputzen zu Zähneputzen begleitet, also vom Aufstehen bis zum nächtlichen zu Bett gehen. Wäre da nicht dieser dreiteilige Satz: VIVA liebt dich. Ich kenne nur einen Satz, der vergleichbar wäre und das ist jener, der entweder trivial-verkitscht mit einem Fisch-Symbol auf manchen Autos zu finden ist: Jesus liebt dich oder das biblische Gott liebt dich. Mit diesen Sätzen sind wir gar nicht so weit von den Ritualien des Alltags entfernt, haben doch noch unsere Eltern und deren Vorfahren die täglichen Speisen ebenso rituell mit Gebeten begleitet wie wir heute mit Zähneputzen. Und so entpuppt sich eine einfache Anzeige mit Zahnbürste und -becher als ... ja, was eigentlich? Blasphemie möchte man der Anzeige gar nicht unterstellen, eher schon handelt es sich um eine treffende Werbung für ein Funktionaläquivalent von Religion: Musik-Sender sind ein moderner Kontingenzbewältigungsmechanismus.

Vermutlich wird die Brisanz der Anzeige zunächst nicht auffallen. Schritt für Schritt kann man sich der Bedeutung der Aussage nähern: Kann eine Institution lieben? Wo finden sich analoge Formulierungen: nicht Ich liebe dich, sondern Xliebtdich? Was ist der Unterschied zum Aufkleber Jesus liebt dich?

Apollinaris: Mineralwasser

Vor welchen Herausforderungen Werbung steht und an welcher Stelle dabei die Religion eingesetzt wird, hat Horst Albrecht in seinem Buch Die Religion der Massenmedien beschrieben. Er zitiert zunächst Jacques Séguéla, einen Werbefachmann und ehemaligen Berater des verstorbenen französischen Präsidenten Mitterand, zum Thema Werbung und Mineralwasser: Es gibt wohl kaum einen schwierigeren Markt als Mineralwasser ... Wenn es schon kaum möglich ist, objektiv Geschmacksunterschiede zwischen verschiedenen Biermarken und Zigaretten festzustellen, so ist das bei Mineralwasser gänzlich unmöglich. Alles, was man über ein Mineralwasser sagen kann, ist mehr oder weniger profan. Oder kennen Sie ein Mineralwasser, das nicht gesund, reich an Mineralien, erfrischend oder durstlöschend wäre? (Jacques Séguéla). Genau an dieser Stelle hat Religion in der Werbung ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie sorgt für die Legitimation von Werbung, für Gründe, wo es eigentlich keinen Grund gibt. Solche irrealen Begründungen schaffen die realen Märkte für den Überfluß. Und Albrecht verweist auf ein weiteres Zitat von Séguéla: Die Werbung der neunziger Jahre wird die der Spiritualität, des Mystizismus und einer neuen Religiosität.

Überprüfen läßt sich das an der Werbung der Firma Apollinaris. Diese hat schon früher versucht, ihr Produkt exklusiv aufzuwerten: Apollinaris - Das Getränk der Götter und Könige, präsentiert vor der Sphinx und der Cheopspyramide. Die aktuelle Werbung konzentriert sich auf einen Werbe-Clip, der von Anzeigen in den Zeitschriften begleitet wird. Im Clip sieht man eine junge Frau, die aus Quellwasser schöpft, einen Speer in die Weite wirft und sich dann laufend auf den Weg macht, um einmal die Erde zu umrunden. Sie durchläuft Steppen und Städte und kommt schließlich wieder an einer Quelle an. Von ihrem Speer ist noch nichts zu sehen, sie hat ihn 'überrundet', er trifft erst kurz später ein. So erfrischt und stärkt das Wasser Out of the deep mit dem Namen Apollinaris.

Vielleicht kann man mit den Zitaten von Jaques Séguéla und Horst Albrecht in das Thema Religion in der Werbung einsteigen. Wie macht man Werbung für Mineralwasser? Kann sich überhaupt jemand vorstellen, daß die Werbung von Apollinaris funktioniert? Können Religion, Mystizismus, Sagen und Legenden zur Attraktivität eines Produkts beitragen?

Telekom: Telekommunikation

1992 erhalten zwei junge Nachwuchsfilmer einen Oscar für den Trickfilm 'Balance'. Die beiden studieren damals an der HBK Kassel. Der Werbespot der Telekom, den wir nun näher betrachten, stammt aus ihrer Werkstatt und gehört zu den Folgeaufträgen, die eine derartige Preisverleihung mit sich zieht.

Zu sehen ist eine lange Schlange von Tierpaaren vor der Arche, die von zwei Löwen bewacht wird. Menschen sind in diesem Clip nicht zu sehen. Geduldig bzw. ungeduldig warten all die Tiere auf den Einlaß in das Leben rettende Gefährt. In gut englischer Manier drängelt sich niemand vor, sondern alle bleiben schön in der Schlange ... bis auf zwei Pinguine, die dreist einfach an der Schlange vorbei nach vorne marschieren. Das stößt auf zunehmenden Unwillen der wartenden Tiere, bis die beiden Pinguine auf die Löwen stoßen. Und dort erklären die beiden, warum sie ihrer Ansicht nach an der Schlange vorbeigehen konnten: sie hatten telefonisch gebucht. Die Anzeige ist witzig und erfüllt für den Auftraggeber sicher ihren Zweck: auf die Funktionalität der Telekommunikation aufmerksam zu machen.

Im Blick auf die jüdisch-christliche Religion ist dieser Gebrauch biblischer Stoffe aber fatal. Unter der Hand, so vermute ich, schleicht sich der Gedanke ein, auch zum Reich Gottes und mit Gott selbst ließe sich eine privilegierte Zugangslösung aushandeln. Demnach gäbe es zwei Wege zum Heil: den den die Mehrzahl geht und jenen, der einer privilegierten Gruppe vorbehalten ist. Genau diese Vorstellung - damals diskutiert am Verhältnis von Laien und Mönchen - war einer der zentralen Kritikpunkte der Reformationszeit.

Im Unterrichtsgespräch geht es um die Frage: wie verhält sich die Aussage des Werbe-Clips zur reformatorischen Lehre? Gibt es einen privilegierten Zugang zum Reich Gottes? Wie sieht die Gerechtigkeit Gottes aus?

Renault PKW

Das Paradies gehört zu den bevorzugten Themen, die die Werbung aufgreift. Dabei kommt das Paradies jedoch unter bestimmten Voraussetzungen zur Sprache. Dazu ein Hinweis.

So zeigt z.B. die Werbung für den Renault Clio, was an der Präsentation des Paradieses interessiert. Denn im Prinzip geht es nicht um das biblisch oder religiös tradierte Paradies, oder ein Paradies überhaupt, vielmehr geht es darum, das Paradies hier und jetzt ohne die Aufgabe des Lebens, das wir jetzt führen, zu bekommen. Und genau das ist es, was die Werbung verspricht. Das Paradies läßt sich umstandslos mit Fortschritt verbinden. Am Clip für den Clio von Renault läßt sich das gut zeigen. Zunächst wird alles auf die Verführungsszene im Paradies konzentriert, aber das ist nur der Köder für den Konsumenten. Der Renault Clio ist eine Verführung, eine Einladung zum Anbeissen. Versprochen wird aber darüber hinaus, daß man mit diesem Apfel ohne Umwege zur Skyline der Metropolen des ausgehenden 20 Jahrhunderts gelangen kann und jederzeit auch wieder zurück. Die perfekte Synthese von Utopie und Fortschritt. Dazu paßt dann auch, daß manchmal der Besuch des Paradieses sich auf den Besuch eines Nachtclubs namens Paradise an der nächsten Ausfahrt der Autobahn reduziert. Die Freuden des Nachtclublebens als Paradiessurrogatextrakt. So weit die Verheißungen der Renault-Werbung.

Nur im Werbe-Clip wird die vorausgesetzte Dialektik von Natur und Fortschritt klar vor Augen geführt. Die Anzeigen verdeutlichen nur im Hinweis auf den Nachtclub jenes Bild vom Paradies, das hier angestrebt ist. Letztlich geht es nicht um eine Paradiesvorstellung, geschweige denn um die biblische, das Grundparadigma ist vielmehr das des Schlaraffenlandes, das Genieße dein Leben! Offen für Verführungen, Erlebnis, Luxus, Action, bietet Renault Autos zum Leben, auch wenn man deswegen immer öfter die Luft anhalten muß. Wirkliche Paradiese sind nicht gefragt.

West Zigaretten West

Die Werbung der Zigarettenmarke West, die vor allem mit schrägen Typen Reklame macht, fiel mitten in die Zeit der Diskussion um das sog. Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes und könnte deshalb in eine Diskussion um das Kruzifix-Urteil einbezogen werden. Interessant sind die Urteilsschemata, mit denen das eine (das Urteil) wie das andere (die Werbung) abgelehnt werden.

Das Plakat zeigt einen Rocker, der in seinen Händen einen Rosenkranz und ein Kruzifix hält. Daneben der Werbe-Slogan Test it der Firma West. Alle Anzeigen dieser Art leben von ihrer Paradoxie, d.h. ein Rocker dieser Art existiert eigentlich nicht, er gehört zum gleichen Exotismus, der auch alle anderen Typen dieser Werbung auszeichnet. Die Botschaft lautet: gäbe es den schrägen Typen, der Motorrad, Lederbekleidung, Kruzifix und Rosenkranz umstandslos miteinander vereinbaren kann, dann würde er sich, bei so viel Verständnis für Differenzen, auch auf West-Zigaretten einlassen. Der Lübecker Pfarrer, der verfremdend in das Plakat eingriff und aus Test it das seiner Meinung nach bessere Test him machte, hat m.E. wohl kaum begriffen, was er da tat. Zum einen ist die Botschaft des Bildes ja, daß für den Rocker diese Aufforderung zu spät kommt, er trägt bereits das Symbol mit sich, durch das man ihn als Christen identifizieren kann. Zum anderen ist es doch eine gravierende theologische Frage, ob Gott einfach per Strich zum Substitut für Rauschmittel gemacht werden sollte. Auch wenn dies einmal ein verbreiteter Ansatz der Jesus People war, bleibt es theologisch fragwürdig. Jesus ist weder eine Alternativdroge noch eine Probepackung.

Man muß über dieses Plakat diskutieren: was löst es aus, wie verläuft der Wahrnehmungsprozeß, was ist seine primäre, was seine sekundäre Botschaft. Aber es sollte auch gefragt werden, warum die Kirche sich aufregt, wenn das Kreuz als kulturelles Symbol (des Abendlandes) in der Werbung wahrgenommen wird.

© Andreas Mertin


Anhang: Texte zum Thema

Die folgenden Texte setzen sich mit dem Thema Werbung bzw. Werbung und Religion auseinander. Sie sind als Materialvorschläge für den Unterricht gedacht. Der erste Text ist ein amüsanter therapeutischer Vorschlag von Umberto Eco im Blick auf den Umgang mit allzu penetranter Werbung. Der zweite Text ist schon etwas älter (1971) und kann dazu dienen, die damals prognostizierte Entwicklung der Werbung zu überprüfen. Der dritte Text geht der 'religiösen Struktur' der Werbung nach, er kann auf wirklich überraschende, einsichtige und kritisch zu betrachtende Parallelen aufmerksam machen.


Umberto Eco, Kauft nicht diesen Whisky!; in: ders., Streichholzbriefe, 1990, S. 11-14.

Ich bin nicht der Ansicht, daß Werbung an sich etwas Schlechtes ist, auch kein infames Komplott der multinationalen Konzerne. Die Händler im alten Piräus, zur Zeit des Perikles, schrien lauthals auf der Straße, daß ihr Samos-Wein besser als andere sei. Wenn jemand produziert, um zu verkaufen, sieht er sich gehalten, sein Produkt anzupreisen ('Äpfel, schöne Äpfel!'). Die Technik ändert sich mit den Zeiten: Solange man nur auf der Straße schreien konnte, schrie man auf der Straße; wenn man sein Produkt in den Zeitungen und im Fernsehen anpreisen kann, tut man es eben dort. Verwerflich sind nur die bewußten Lügner, jene mithin, die behaupten, das Produkt X enthalte die Substanz Y, während chemisch davon keine Rede sein kann. ... Unterscheiden wir also zwischen einer Werbung, die unsere Freiheit respektiert, und einer, die sich uns schamlos aufdrängt. Die Werbung in den Zeitungen ... macht sich exzessiv breit, aber man kann sie, wenn man die Zeitung liest, überspringen. Später, wenn man sich's anders überlegt hat und wissen will, welche Autos oder Schuhe gerade im Handel sind, geht man hin und blättert die Zeitungen der vergangenen Woche durch. Respektlos und aufdringlich ist dagegen die Werbung im Fernsehen, die mitten in einen Film hineinplatzt, wenn er gerade am spannendsten ist, und jene, die mich zwingt, eine halbe Stunde im Kino abzusitzen, um zu erfahren, daß ich das tolle Möbelhaus Wisent in fünf Autominuten erreichen kann. Deswegen gehe ich nicht mehr ins Kino. Aber ich schaffe es nicht, auf das Fernsehen zu verzichten. Darum pflege ich, da ich mich schon nicht wehren kann, mich zu rächen. Wenn mein Film durch den Hinweis unterbrochen wird, daß die Zahnpasta Blix ein Zeug namens Tetrafluoren enthält, kaufe ich mir das nächste Mal, wenn ich Zahnpasta brauche, ein anderes Fabrikat. ... Und wenn das nun alle täten? Jawohl, liebe Leser, Freunde, Römer, Landsleute, hört mir zu! Fangt alle an, die Fabrikate aufzulisten, die euch am besten im Gedächtnis haften. Es sind diejenigen, die euch am meisten gestört haben, als ihr gerade sehen wolltet, wie der Held die Heldin küßt oder wie der mysteriöse Würger sein letztes Verbrechen begeht. Prägt euch die Fabrikate gut ein und kauft sie nicht. Erinnert ihr euch aus mysteriösen Gründen, daß Brigg's Whisky ein 'blend' aus feinsten uralten Scotch-Sorten ist? Es ist das Zeichen, daß Brigg's euch genau in dem Augenblick gestört hat, als die Siebente Kavallerieschwadron eintraf, um Fort Apache zu befreien. Kauft euch einen anderen Whisky, einer taugt soviel wie der andere. Machen wir's alle so.


Die beiden folgenden Texte entnehme ich dem Buch:
Horst Albrecht, Die Religion in den Massenmedien, Stuttgart 1993.


Norbert Schneider, Werbung. Der verkleidete Messias; in: K.-W. Bühler (Hg.), Wunde Punkte. Stichworte gegen Weltanschauungsmärchen, Witten 1971, S. 19-25, hier S. 19, 22.

In der Tat: Religion ist gut fürs Geschäft, so aufreizend gut, daß dies Erfolgsrezept längst auch außerhalb von Kirche und Religion seinen Wert beweist. Längst hat die Religion ihren festen Platz im Instrumentarium der kühlen Rechner, der Umsatzexperten, der Marktforscher. Einen festen Platz allerdings, der nicht im hellen Licht des Diskutierbaren liegt. Das Erfolgsrezept wirkt nur als Geschäftsgeheimnis. Nur die getarnte, verschleierte, vielfach und immer wieder anders maskierte Religion spielt die erwarteten Gewinne ein. Eine dieser Masken ist die Werbung, genauer: die Sprache der Werbung. Sie enthält in wachsendem Umfang Elemente religiöser Sprache, und zwar nicht mehr nur, wie schon bisher, wenn kirchliche Feste - 'Stille Nacht auch für den Magen' - ins Haus stehen, sondern frei von kirchlichen oder allgemein religiösen Terminen und Perioden. Frei für jedes Geschäft ... Der direkte Anschluß an biblische Texte ist allerdings noch selten. Er ist zu leicht durchschaubar, und das vermindert die Wirkung. Die Maske ist besser, wenn Religion nicht im Detail steckt, sondern in der Tendenz. Ideal ist nicht die Parallele, sondern die kaum bewußte Assoziation, Sprache, die Vorstellungen und Einstellungen aufnimmt.


Leo Spitzer, Amerikanische Werbung als Volkskunst verstanden; in: P. Nusser, Anzeigenwerbung. München 1975, S. 180-205, hier S. 192ff.

Es gibt keinen Zweifel, daß die moderne Werbung in hohem Maße die Rolle eines Lehrers der Moral übernommen hat, der durch einen Appell an die Vernunft seiner Schüler auf das Gute aufmerksam macht, wie Sokrates davon überzeugt, daß der Mensch das Gute nur erkennen muß, damit er ihm nachgehe - obgleich man ihn, da er einmal mit den Schwächen der menschlichen Natur behaftet ist, ununterbrochen an seine Überlegenheit erinnern muß, damit er nicht wieder in die Gleichgültigkeit zurückfalle. Der Werbefachmann muß wie der Prediger 'den Bedarf nach dem Besseren schaffen'. Dieser Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen und an seine Bereitschaft, seine Lage zu verbessern (hier natürlich seine materielle Lage), sofern sie gebührend und regelmäßig geweckt wird, ist in der Werbung allenthalben offenkundig ... Es ist nicht verkehrt, in jeder Reklame eine Predigt zu spüren: Der Werbende ist einer, der das materielle Gute predigt, voll des Vertrauens in die ewig mögliche Vermehrung der materiellen Wohlfahrt und in die ewig mögliche Selbstvervollkommnung des Menschen in seiner vernünftigen Verfolgung dieses Ziels. Und gemäß der Tradition des protestantischen Sektierertums predigt jeder Werbemann sein eigenes Evangelium ... In seinen Predigten muß der Werbende immer den einzelnen Hörer ansprechen, genau wie der evangelische Pastor versucht, seine Glaubenswahrheit jedem einzelnen Mitglied seiner Gemeinde aufzudrängen ... Wenn der Pastor versichert: 'Christus hat den Tod erlitten für dich, für die Erlösung deiner Seele von der Sünde', so stellt er die göttliche Vermittlung in ihrer Wirkung auf jedes Individuum dar, und sein 'du' wird von jedem seiner Hörer aufgefaßt als ein persönliches 'für mich' ... In einer säkularisierten und profan gewordenen Zivilisation, wo menschliche Tätigkeit mit dem Ziel der materiellen Wohlfahrt nicht vermieden, sondern als ein Segen Gottes akzeptiert wird, konnte der mystische Ton des pastoralen 'für dich' sich leicht verdünnen: auch das materielle Wohlergehen könnte ja als etwas 'für dich' oder 'für mich' von Gott Gewolltes betrachtet werden. Es ist nur ein kleiner Schritt von der optimistischen Predigt über die grenzenlosen, die paradiesischen Möglichkeiten der göttlichen Güte, die der Mensch bloß bereitwillig annehmen muß, zu der optimistischen Predigt irdischen Wohlseins, das der Mensch gleichfalls bloß bereitwillig genießen muß.


© Andreas Mertin