Der Champ!

oder: Gibt es heute faschistische Ästhetik?

von Andreas Mertin

[Originalbeitrag]

Was ich im Folgenden vorlege, ist keine ausgefeilte Analyse des Fortlebens nationalsozialistischer Ästhetik in der Alltagskultur, als vielmehr nur einige begleitende Notizen zu einem Produkt der Massenkultur, das augenscheinlich ohne irgendein Moment der Reflexion oder Brechung an den ästhetischen Ausdrucksformen, die während des Nationalsozialismus in Filmen wie denen von Leni Riefenstahl ihre Zuspitzung erfuhren, anknüpfen kann. Die Notwendigkeit, sich unter dieser Perspektive mit Massenkultur beschäftigen zu müssen, schien mir lange Zeit überflüssig zu sein und das aus zwei Gründen:

  1. war mir - aus prinzipiellen Erwägungen - zweifelhaft, ob es so etwas wie eine faschistische "Ästhetik" überhaupt geben könnte. Vielmehr schien es mir sinnvoller, von einer Ästhetik im Kontext des Faschismus zu reden, so wie man von einer Ästhetik im Kontext des Bürgertums, des Feudalismus usw. reden kann. Ästhetik im strengen, formalen Sinne, wie sie sich etwa in der Kantischen Ästhetik gebildet hat, lässt m.E. keinen Spielraum für faschistische oder nationalsozialistische Tendenzen im Rahmen ihrer Erfahrung zu, sondern ist nur möglich als außerästhetische Bezugnahme. Daher schien es mir plausibler, von einer Ingebrauchnahme von Ästhetik reden, z.B. im Blick auf die Instrumentalisierung von Erhabenheitsmotiven für Pathosformeln. In diesem Falle ließe sich eher - im Sinne Benjamins - von einer Ästhetisierung als von einer entwickelten Ästhetik sprechen. Diese Unterscheidung scheint mir weiterhin im Interesse einer notwendigen Differenzierung wichtig, weil Ästhetisierung - sei es der Politik, sei es der Lebenswelten, sei es der Geschichte - im Gegensatz zur Ästhetik konstitutiv von Interessen durchdrungen ist.
  2. war ich der Überzeugung, dass - selbst wenn man die Möglichkeit einer faschistischen Ästhetik zugestehen würde - sie eine historisch überholte Erscheinungsform sei. In dieser Überlegung wurde ich bestärkt durch die Versuche der Kunstszene, ästhetische Momente aus der Zeit des Faschismus selbst zum Thema zu machen. Keiner dieser Versuche, von Anselm Kiefer über die Neuen Wilden bis Albert Oehlen, Marie-Jo Lafontaine und Günter Förg stellte - trotz aller feuilletonistischen Aufregungen - de facto eine reale, auf die Gegenwart bezogene Re-Aktualisierung faschistischer Potentiale dar. Sie blieben weit eher hilflose Analyseversuche, weit abgehoben von einer massenmedialen Basis, auf der die faschistische Ästhetisierung aufsetzte. Keines der Werke dieser Künstler arbeitete wirklich auf der Grenze, eher handelte es sich um Spielformen, gegenüber denen man - wie es etwa Saul Friedländer getan hat - mit Recht Einwände erheben konnte.

So hatte etwa Marie Jo Lafontaine auf der documenta 8 ihr Video-Kunstwerk "Die Tränen aus Stahl" gezeigt, das sie selbst durchaus in der ästhetischen Tradition Leni Riefenstahls ("Sie ist eine große Künstlerin") sehen möchte. Auf 27 Bildschirmen werden dabei drei Jünglinge an Kraftmaschinen bei der narzisstischen Selbstfeier ihre Körpers vor- und bloßgestellt (ART). Subtil unterstützt von der Begleitmusik steigert sich ihr Körperkult im Rhythmus der Maschinen bis sie selbst zu Maschinenmenschen werden. Tatsächlich aber "spielt" Lafontaine nur mit Pathosformeln und Motiven des Erhabenen, und an keiner Stelle evoziert sie Pathos und Erhabenheit wirklich. Sie verherrlicht keinesfalls die Kraftsport treibenden Männer, ganz im Gegenteil, im Rahmen der Gesamtinszenierung der Videomonitore wirken diese eher (ästhetisch) harmlos.

Ganz anders ist dies mit dem folgenden Beispiel. Denn womit ich offengestanden nicht gerechnet hatte, ist, dass es keiner transformierten und transformierenden Ästhetik bedarf, um im Kontext aktueller populärer Kultur Inszenierungsstrategien des Faschismus zur re-aktualisieren. Beispiel ist der Video-Clip "Conquest of Paradise" von Vangelis feat. Henry Maske. Das Faszinierende daran ist, dass alle Beteiligten faschistischer Tendenzen unverdächtig sind, sowohl der Musiker, wie der Boxer als auch der Künstler des Video-Clips. Es bedurfte mehrerer "Zufälle", damit dieses Produkt zustande kam. Keinesfalls handelt es sich hier um einen bewusst inszenierten Rekurs auf die nationalsozialistische Ingebrauchnahme von Ästhetik. Vielmehr sind alle Details unabhängig voneinander entstanden, waren für andere Kontexte vorgesehen. Die Musik entstand für einen Kinofilm, der Clip nicht für diese Musik. Wäre die ursprünglich vorgesehene Musik verwendet worden, hätte der Clip vermutlich nicht diese Brisanz gehabt. So ist Henry Maske lange Zeit offensichtlich - Maske-Kenner mögen mich korrigieren - unter den Klängen von Orffs Carmina burana (1935/36) in den Ring gezogen. In diesem Kontext entstanden wohl auch Aufnahmen für einen Video-Clip, die der bekannte in der Schweiz geborene und in den USA lebende Fotograf Michel Comte 1994 am Malibu-Strand machte.

Im September 1994 musste Henry Maske, der aufführungsrechtliche Probleme mit dem Orff-Stück hatte, für den Sender RTL eine Erkennungsmelodie für seinen Kampf mit Iran Barkley in Halle/ Westfallen angeben. Seine Wahl fiel auf die Titelmelodie des Films "1492 - Conquest of paradise" von Vangelis. Dieser operiert nun seit vielen Jahren mit religiös-pathetischen bis hin zu bombastischen Musikformeln. Letztes eindrucksvolles und öffentlichkeitswirksames Beispiel war die Eröffnung der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Athen 1997. 1992 hatte Vangelis die Filmmusik für den - eher mittelmäßigen - Film "1492 - The Conquest of Paradise" von Scott Ridley geschrieben. Schon einmal hatte Vangelis für Ridley gearbeitet, als er für dessen Kultklassiker "Bladerunner" die Filmmusik geliefert hatte. Das veröffentlichte Album zu "1492" hatte wenig Ähnlichkeit mit der im Film wirklich vorkommenden Musik und der Verkauf hielt sich lange Zeit im Rahmen der für Vangelis üblichen Zahlen. Das änderte sich erst, als Henry Maske diese Filmmusik zu seiner persönlichen Hymne wählte, unter deren Klängen er in den Boxring zog. Das Stück wurde als Single nachveröffentlicht und nun zog der Verkauf an und das Lied wurde monatelang die Nr. 1 in den Charts von Deutschland, Österreich, Portugal, Niederlande, Belgien und anderen Ländern. Heute ist es der größte kommerzielle Erfolg von Vangelis (über 500000 verkaufte CDs).

Brisant macht die Verknüpfung von Körperkult und epischer Musik aber erst die Kombination mit dem Bild. Es war vielleicht ein Fehler, den Video-Clip von einem Künstler produzieren zu lassen, der normalerweise mit im engeren Sinne statischen Bildern arbeitet. Der Schweizer Fotograf Michel Comte ist seit langem ein berühmter Fotograf der Mode- und Prominentenszene. In vielen Mode- und Zeitgeistzeitschriften gehobener Qualität finden sich seine Fotografien. In Interviews hat sich Comte immer engagiert links-liberal geäußert, zuletzt auch dezidiert gegen neonazistisches Gedankengut: "Die Jugendlichen wissen einfach nicht, was vor fünfzig Jahren passiert ist. Das sind heimatlose Menschen aus der Mittel- und Unterschicht, die von den Schulen fliegen und drogensüchtig werden. Die Neonazis geben ihnen ein Heim und waschen ihre Hirne. Monate später sind das Rechtsextreme ... Man darf dies auf keinen Fall unterschätzen und muss alles dafür tun, dass diese Jugendlichen wieder auf den richtigen Weg kommen".

Das hat aber nicht verhindert, dass der fertige Video-Clip als Reinszenierung faschistischer Pathosformeln angesehen werden kann. Er konnte bruchlos an jene Ästhetisierungsstrategien des Faschismus anknüpfen, die mit dem Namen Leni Riefenstahl verbunden sind. So wie in Leni Riefenstahls Film über die Olympiade 1936 sportliche Siege ... als Taten von Übermenschen erscheinen, so wird auch Henry Maske in seinem Clip als "Übermensch" in Szene gesetzt. Henry Maskes sportliche Bemühungen werden präsentiert als Sieg des Herrenmenschen, der Triumph des Willens und der Kraft über den unterlegenen Gegner. Der Video-Clip inszeniert Henry Maske als kämpferischen Teutonen, der am Strand wie im Ring schwarze Boxer besiegt. Hier wird angeknüpft an den Mythos des Kampfes zwischen Max Schmeling und Joe Louis im Jahr 1936.

Der Video-Clip dauert 4 1/2 Minuten, ist komplett in Schwarzweiß gehalten und setzt sich aus insgesamt 95 Einzelszenen zusammen. Das ist für einen Video-Clip der neunziger Jahre sehr wenig. Durchschnittlich dauert eine Szene also 2,84 sec. Insgesamt inszeniert der Clip den Sportler Henry Maske. Gezeigt werden Trainingsszenen, Ausschnitte aus einem Boxkampf, vor allem aber symbolisch/pathetisch aufgeladene Einzelszenen. Das Material, aus dem der Video-Clip optisch zusammengesetzt wird, ist relativ eingeschränkt, es dominieren Einzelszenen, die wie Standfotos wirken. 13 Szenen aus der Mitte des Clips werden am Ende noch einmal wiederholt. Wesentliches Gestaltungselement ist das Licht. Von den 95 Szenen bestehen ganze 34 aus Überblendungen in gleißendes Weiß. In der Regel wechselt sich eine "narrative", also inhaltlich bestimmte Szene mit einer derartigen Überblendung ab. Durchbrochen wird dieser Wechsel von Licht und Einzelbild durch einige Szenenblöcke, die längere inhaltliche Ausführungen machen:

  • die Szenen 39-46 (wiederholt in Szene 80-87), die Maske quasi als "Herrenmenschen" vorstellen und am stärksten die Perspektiven Leni Riefenstahls reinszenieren. Sie zeigen Maske vor allem in der Unterperspektive, zudem häufig im Gegenlicht. Insbesondere in den Szenen 42f. (83f.) wird diese Perspektive deutlich: Man blickt von ganz unten auf Maske. Dieser steht auf einem (Erd-) Ball und hat die Hände in Adoranten-Haltung erhoben (die Assoziation an Hitlers "Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" ist sicher nicht willkürlich). Das Bild wird von zwei Lichtquellen strukturiert, der Sonne links oben und eine unbestimmte zweite rechts unten. Über Maske erscheinen zwei Turnringe. Zunehmend wird das Bild von Licht überflutet. In der Überblendung erscheint Maske als eigener Übermensch (Schatten). In der nächsten Szene sieht man Maske wieder auf dem Ball am linken Bildrand, immer noch stark von unten gefilmt, diesmal mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen; Maske rückt zunehmend ins Zentrum des Bildes und die Sonne taucht am linken Bildrand auf; Maske gleitet rechts aus dem Bild, erfasst von den Sonnenstrahlen. Von ihm selbst ausgehend explodiert dann ein Lichtball ins Bild, der alles überblendet.
  • die Szenen 52-54, die Henry Maske am Strand beim siegreichen Boxtraining mit einigen schwarzen Boxern zeigen, wobei die Kamera zum Teil die Perspektive des Sparringspartners einnimmt.
  • die Szenen 58-77, die (unterbrochen von 6 Lichteinblendungen) einen siegreichen Boxkampf von Maske dokumentieren. Am Ende des Kampfes sieht man in der Bildtotale das Massenpublikum und den Boxring in der Mitte, dessen Lichter zur Lichterkrone gebündelt erscheinen. Maske wird dann in der Überblendung unter der Lichterkrone mit gesenktem Kopf gezeigt, der Sieger wartet auf das Urteil der Jury, er hebt langsam den Kopf; über ihm erscheint die Lichterkrone als Siegeskrone.

Dazwischen eine Fülle von Einzelszenen, die nicht zuletzt ästhetische Inszenierungen Arno Brekers fotografisch reinszenieren. Inhaltlich sind es der Körper und die Kraft, die triumphieren. Die religiösen Assoziationen, die Michel Comte angeblich inspiriert haben sollen (u.a. soll Maske im Clip wie Jesus über das Wasser laufen), wirken nicht so, wie beabsichtigt. Vielmehr wird vor allem die nationalsozialistische Ingebrauchnahme bzw. der Missbrauch derartiger religiöser Formeln reaktiviert. Der Herrenmensch als Erlöserfigur.

Der hier betrachtete Video-Clip ist einige Zeit später in einer zweiten Fassung ausgestrahlt worden. Ob den Produzenten die offensichtliche Nähe zu belasteten Inszenierungsstrategien zu heikel geworden war, ist dabei mehr als fraglich. Denn man hat dann zwar ganz auf die Inszenierung im Stil von Leni Riefenstahl verzichtet, allerdings um im Gegenzug den Clip vollständig an Albert Speers Lichtdomen zu orientieren. Im Computerzeitalter entwickeln diese freilich keine besondere Faszination mehr, sondern wirken eher wie schlechte Umsetzungen eines Computerspiels. Im dritten Clip, der sich mit der Person Maskes verbindet, und der zu seinem Abschied vom Boxsport aufgeführt wurde, dem ebenso erfolgreichen "Time to say goodbye" von Sarah Brightman & Andrea Bocelli, sind immer noch einige Bilder aus dem ersten Video-Clip von Maske eingebunden.

Kaum jemand außerhalb eines engeren medienwissenschaftlichen und ästhetischen Fachpublikums hat sich über das Endprodukt von Inszenierung, Musik und Pathos aufgeregt. Nur vereinzelt finden sich Hinweise auf die offensichtliche Nähe zu den Inszenierungen Leni Riefenstahls oder zu den Fackelträgern und Lichtgestalten in der Machart der mit dem Nazismus sympathisierenden Künstler, wie wir sie etwa in den Darstellungen Arno Brekers mit den Titel "Die Partei" oder "Prometheus" finden. Die Jugendlichen, die sich zum Clip äußern, verbinden ihn vor allem mit ihrer Begeisterung für den Sportler Henry Maske. Die Art der Inszenierung ist ihnen dabei zunächst anscheinend egal. Auf die Frage, warum er sich das Abspielen des Clips im Fernsehen wünsche, antwortet ein Jugendlicher: weil er Henry Maske gut finde. Nachgefragt, ob ihm denn mehr der Clip oder mehr der Boxer wichtig sei, antwortet er: der Boxer, aber der Clip gefalle ihm auch. In der Welt der Video-Clips insgesamt, insbesondere im Bereich der häufig gespielten Titel (Heavy-Rotation), kommen derartige Inszenierungen so gut wie nie vor. Eine Ausnahme bilden vielleicht die Texte der Gruppe "Rammstein", die vom Musiksender MTV nicht gespielt werden mit der Begründung, sie stünden in einer bedenklichen Tradition deutscher Geschichte. Das bezieht sich jedoch weniger auf die Bildwelten, als vielmehr auf die Lyrik, deren sexuelle Morbidität und Aggressivität sehr zugespitzt formuliert ist (ohne dass man gleich faschistische Tendenzen unterstellen müsste; eher ist es eine bestimmte Lesart schwarzer Romantik). Dagegen zeigt der Blick auf die Modefotografie, dass hier die angesprochenen Inszenierungen häufiger vorkommen. Die Stilisierung des gestählten, nackten männlichen Oberkörpers aus der Unterperspektive, die harte Zeichnung in Schwarz-Weiß, ein gewisses heroisches Pathos, das Porträt mit überzeichneter Licht-Schatten-Darstellung: all dies sind selbstverständliche Charakteristika aktueller Fotografie geworden.

Ist daher der Rekurs auf faschistische Inszenierungsstrategien, wie er in diesem Clip beobachtbar ist, eher als "Betriebsunfall", als Zufall zu werten? Oder sollten hier bewusst Grenzen des Ästhetischen ausprobiert werden? Oder gibt es genretypische Gründe dafür, dass aus der Kombination von Sujet (Boxen), pathetischer Musik und SW-Standfotografie ein derartiges Machwerk werden musste? Denkbar sind jedenfalls verschiedene Erklärungsmodelle: Für den Zufall spricht die Unabhängigkeit der Genese der einzelnen Elemente; gegen die Zufälligkeit spricht die Elaboriertheit der Video-Clips in der Branche. Keine Szene in einem Video-Clip ist wirklich zufällig. In der Regel haben deren Produzenten präzise (kunst-) historische Kenntnisse. Das spricht für eine absichtsvolle Gestaltung, vielleicht weil man die ästhetischen Strategien Leni Riefenstahls für loslösbar aus dem historischen Kontext hielt und zugleich für ästhetisch produktiv erachtete. So wie Marie-Jo Lafontaine Leni Riefenstahl für eine gute Künstlerin hält, können das natürlich auch andere tun. Vieles spricht für einen "Unfall" aus immanenter Logik und das in doppelter Hinsicht: zum einen, weil Leni Riefenstahl eine bestimmte Art der heroischen Inszenierung präfiguriert hat, die heute etwa in der Modefotografie eine bedeutende Rolle spielt, zum anderen, weil in der Branche, in der Henry Maske arbeitet, derartige Ästhetisierung von Körper und Kraft kaum zu vermeiden sind. Unabhängig von den mit dem Clip verbundenen Ansichten kann aber gesagt werden, dass aus den Äußerungen der Jugendlichen keine explizite Reaktivierung der ehemals damit verbundenen Inhalte, Kontexte und Ideologien erkennbar ist. Diese inhaltlich-ideologische Verknüpfung wird heute von - im Rahmen der gesamten Musikszene - absolut randständigen Gruppen geleistet, deren Inszenierungsstrategien man dann allerdings nur als platt und brutal bezeichnen kann. Zusammenfassend lässt sich angesichts des Clips "Conquest of Paradise" sagen, dass im Rahmen eines allgemeinen Verlustes historischer Zeichendeutungskompetenz offensichtlich die Zuordnung derartiger Bilder zum Nationalsozialismus nicht mehr realisiert wird. Die Frage, ob sie nicht dennoch unterschwellig wirken, als Verherrlichung des Kraftmenschen, des siegreichen Herrenmenschen, müsste genauer analysiert werden. Einen Grund zu größerer Besorgnis sehe ich nicht. Das liegt vor allem an der anarchischen Struktur der Kulturindustrie. Was heute noch von den Konsumenten in die Hitparaden gewählt wird - und gleichzeitig von noch viel mehr Konsumenten abgelehnt wird -, wird schon bald vom nächsten Trend abgelöst. Die Kulturindustrie selbst ist allerdings - wie das Beispiel MTV zeigt - äußerst vorsichtig, was das Überschreiten von Grenzen angeht. Wie Yves Eudes in "Le Mondes Diplomatique" überzeugend dargelegt hat, lautet die Botschaft MTVs heute: "Eine ganze Generation begeistern, um die Umwelt zu schützen und um die Missstände der Welt: Krankheit, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Analphabetentum und gesellschaftliche Apathie zu bekämpfen". In diesem Sinne ist der Clip nur ein bedenkenswerter Betriebsunfall.

© Andreas Mertin, Hagen 1997