Die nackten Ikonen des Suprematismus

Reine Empfindung, zweckfreier Zustand, gegenstandslose Existenz

Ein Statement von Karin Wendt und Andreas Mertin

aus: B. Heller (Hg.): Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, S. 75-88

Einleitung

Die Reflexion der bildenden Kunst gehört nicht gerade zu den entwickelten Feldern protestantischer Theologie. Bis heute herrscht hier in der Regel entweder die Spurensuche nach religiösen Symbolen und Zeichen vor à la "Das Christusbild im 20. Jahrhundert" bzw. "Das Kreuz in der Kunst der Gegenwart" oder es wird eine Art Kulturpositivismus betrieben, welcher den Umgang mit Kunst apologetisch (d.h. im Interesse der Kirche) begründet, ohne die Künstler selbst mit ihren (religiösen und/oder ästhetischen) Reflexionen, Sinnperspektiven, Lebensdeutungen usw. ernst zu nehmen. Was uns im folgenden interessiert, sind die Reflexionen eines Künstlers aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts. Uns ist wohl bewußt, daß nach verbreiteter Ansicht die Künstlerphilosophie nicht notwendig zur Erhellung der Werke beiträgt, aber wir sind der Meinung, daß "Theoriearbeit ein konstitutiver Bestandteil künstlerischer Arbeit"(1) ist. Den pauschalen Vorbehalt gegen das "Dekret des Produzenten"(2) teilen wir nicht. Einsicht in die Theoriearbeit des Künstlers kann zugleich auch ein Beitrag zur Einsicht in die Voraussetzungen eines Werkes sein. 

Die kritischen Reflexionen von Kasimir Malewitsch (1878-1935) haben wir nicht zuletzt deshalb gewählt, weil in dem "Dreieck: van Gogh, Malewitsch, Duchamp"(3) das Schaffen von Malewitsch nur selten in das Blickfeld von Theologen fällt und die immer wieder behauptete Nähe seiner Werke und seiner Ansichten zur Religion ein ausgezeichnetes Medium der Differenzbildung abgibt.(4) Uns interessieren nicht zuletzt jene Motive und Erkenntnisse, die zum kunstimmanenten Ikonoklasmus des Suprematismus geführt haben.(5) "Was im Dreieck von Expression, Abstraktion, Zitation seit 100 Jahren zum Austrag kommt, ist eine Malerei gegen die Malerei, eine Kunst gegen die Kunst, eine Bestreitung der Bildfläche als der genuinen Vorschrift, wie zu sehen sei."(6) Welchen Einsichten folgt die Kunst zu Beginn dieses Jahrhunderts, wenn sie sich aus den Fesseln der Gegenständlichkeit löst und zur reinen Form findet? Und gibt es einen Beschreibungsmodus, welcher die Nähe zur religiösen Erfahrungswelt festhält, ohne Malewitschs Ausführungen im Nachhinein Gewalt anzutun? 

Malewitsch und der Suprematismus

'Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus in der Kunst'

1915 tritt Malewitsch mit seinen suprematistischen Bildern zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Zur Eröffnung der Letzten Futuristischen Ausstellung 0,10 in der Petrograder Dobytschina-Galerie(7) erscheint seine Schrift "Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus in der Kunst, zum neuen Realismus in der Malerei, als der absoluten Schöpfung"(8), in der er die Genese seiner dezidiert gegenstandslosen Malerei erläutert. Alle Kunstformen vor dem Suprematismus waren nach Malewitsch "Sklaven der Naturformen; sie warteten auf ihre Befreiung, um ihre eigene Sprache sprechen zu können" (134), denn "Schöpfung gibt es nur dort, wo eine Form im Bild erscheint, die sich an nichts Vorgegebenes in der Natur hält, sondern aus der malerischen Masse entsteht und die ursprünglichen Formen der Natur weder kopiert noch verändert" (136). Kubismus und Futurismus hatten bereits den Gegenstand durch simultane Perspektivierung unterschiedlicher Schauseiten flächig zergliedert bzw. ihn in Ansehung seiner zeitlichen Erscheinung sequenziert, so daß die gemalte Fläche vom Gegenstand ablösbar und die Statik des Abbildes aufgebrochen erschien. In beiden künstlerischen Verfahrensweisen bleiben die bildnerischen Mittel jedoch an die Darstellung der gegenständlichen Welt gebunden, sie konnten sich "von der Gegenständlichkeit insgesamt nicht lösen ... Die Kubo-Futuristen sammelten alle Gegenstände auf dem Marktplatz zusammen und zerschlugen sie in Stücke, aber sie verbrannten sie nicht" (136f.). "Kubismus und Futurismus haben das Bild aus Bruchstücken und Splittern der Gegenstände geschaffen - im Namen der Dissonanz und der Bewegung. Die Intuition wurde von der Energie der Gegenstände erdrückt und führt die Malerei nicht zur Eigenständigkeit" (139). Dennoch schufen beide die Grundlagen für den künstlerischen Fortschritt. "Der Futurismus strebt über die akademischen Formen zum Dynamismus der Malerei; der Kubismus durch Zerstörung der Gegenstände zur reinen Malerei. Und beide streben im Grunde zum Suprematismus der Malerei, zum Triumph über die zweckhaften Formen des schöpferischen Verstandes" (138). Die neue Kunst des Suprematismus, der Vorherrschaft der reinen Empfindung(9) gibt nun jeden dinglichen Bezug auf. Die Bilder zeigen lediglich frontal aufgetragene geometrisch umrissene Farbformen auf weiß gestrichener ungerahmter Leinwand. 

'Suprematismus - die gegenstandslose Welt'

Hatte Malewitsch 1915 versprochen, er werde "weiteres über Suprematismus ... zu gegebener Zeit sagen", so löste er dieses Versprechen einige Jahre später mit verschiedenen programmatischen Schriften ein. In komplexer und schwer zu rezipierender Sprache entwickelt Malewitsch 1922 in seiner Schrift 'Suprematismus - die gegenstandslose Welt'(10) den gedanklichen Kontext, in dem er seine Bildintentionen ansiedelt. Jede Form der Vergegenständlichung beschreibt er als den Versuch des Menschen, eine der Welt zugrundeliegende gegenstandslose, ungerichtete Erregung nutzbar zu machen. Zum einen entwickeln wir Gegenständliches durch Vorstellungen und Urteile, zum anderen materialisieren wir diese gedanklichen Konstrukte in den Dingen des technischen Lebens. Aufgabe der Kunst ist es, diese Täuschungen der gegenständlichen Welt zu entlarven und die ursprünglich gegenstandslose Erregung zu offenbaren. Für das suprematistische Bild heißt das, daß Anschauung und Deutung der bildnerischen Gegebenheiten ohne jede Instrumentalisierung durch gegenständliche Referenzen erfolgen müssen. Erst so erfolgt nicht nur die Negierung des dinglichen Bezugs, sondern die Realisierung einer genuin gegenstandslosen Bilderfahrung. Malewitschs 'Methode der Kunst' ist zugleich eine Methode aus Freiheit: "Schaffen verlangt Freiheit, Unabhängigkeit, Zwanglosigkeit. Darum kann man in der gegenständlichen Welt nicht von 'Schaffen' reden, sondern bestenfalls von 'Darstellen' oder 'Abbilden'. Der im Gegenständlichen befangene Mensch kann ... niemals schöpferisch sein ... Der wahrhaft schöpferische Mensch ist frei!" (52f.) Suprematismus "dient nichts und niemandem, da er sich in der gegenstandslosen Gleichheit oder im Null-Gewicht befindet", er ist "gegenstandslose Welt oder 'das befreite Nichts'" (85). Diese Freiheit gilt insbesondere im Blick auf "Religionen, Gebräuche und Sitten" (138): die Gegenstandslosigkeit ist "ein Prinzip, das frei ist ... von jedem Versuch, irgend etwas Gegenständliches in der Zukunft oder in Gott zu erstreben" (194). "Der Wesensinhalt des Suprematismus ist die Ganzheit gegenstandsloser, naturbedingter Erregungen ohne Ziel und irgendwelche Zweckbestimmungen" (124). "Grundlage und Ursprung des Lebens ist die Erregung, als das Reine, Unbewußte, ohne Zahl, Zeit, Raum, ohne absolute und relative Zustände" (195). "Die Erregung ist wie flüssiges Metall im Hochofen" (196). 

'Die gegenstandslose Welt'

1927 faßt Malewitsch im Bauhaus-Buch 'Die gegenstandslose Welt'(11) seine Reflexionen zusammen: "Unter Suprematismus verstehe ich die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst" (65), Suprematismus sei die prinzipielle Abwendung von allen "Erscheinungen der gegenständlichen Natur". Der bleibende Wert eines Kunstwerks liege "ausschließlich in der zum Ausdruck gebrachten Empfindung ... Alles, was die gegenständliche Struktur des Lebens und der 'Kunst' bestimmte: Ideen, Begriffe und Vorstellungen ... alles hat der Künstler verworfen, um der reinen Empfindung Gehör zu verschaffen. Die Kunst der Vergangenheit, die (zumindest nach außen hin) im Dienste der Religion und des Staates stand, soll in der reinen (unangewandten) Kunst des Suprematismus zu einem neuen Leben erwachen und eine neue Welt - eine Welt der Empfindung - aufbauen" (65). Autonomie ist eine Grundvoraussetzung suprematistischer Kunst. "Die Kunst will nicht mehr im Dienste des Staates und der Religion stehen, sie will nicht mehr die Sittengeschichte illustrieren, sie will nichts mehr von dem Gegenstande (als solchem) wissen und glaubt ohne das Ding (also ohne die 'langbewährte Lebensquelle') in sich und für sich bestehen zu können" (72). Auf diese Weise gelangt die Kunst "in eine 'Wüste', in der (es) keine 'Ebenbilder der Wirklichkeit' -, keine ideellen Vorstellungen - nichts als eine Wüste (gibt), die Wüste aber ist erfüllt vom Geiste der gegenstandslosen Empfindung, der alles durchdringt" (66). "Und so steht denn die neue gegenstandslose Kunst da als Ausdruck der reinen Empfindung, die keine praktischen Werte, keine Ideen, kein 'gelobtes Land' sucht" (76). Das gilt auch für Kunst und Gesellschaft: "Eine wirkliche, absolute Ordnung in dem Leben der Menschen mit- und untereinander wäre nur dann zu erreichen, wenn die Menschheit die Gestaltung dieser Ordnung im Sinne der unvergänglichen Werte durchführen wollte. Augenscheinlich müßte demnach das künstlerische Moment in jeder Hinsicht als das entscheidende angesehen werden: solange dies nicht der Fall ist, wird in dem Leben der Menschen untereinander statt der ersehnten Ruhe der 'absoluten Ordnung' die Unruhe der 'provisorischen Ordnungen' herrschen" (93f.). 

'Das Schwarze Quadrat'

Das grundlegende Werk des Suprematismus ist das "Schwarze Quadrat", für Malewitsch die nackte Ikone seiner Zeit.(12) Zunächst greift für den Betrachter das Wahrnehmungsschema der Inversion von Figur und Grund. Das schwarze Viereck changiert zwischen axialer Vertiefung, flächiger Verfestigung und positivem Hervortreten - es springt vor und zurück. Im gleichen Maß scheint sich die weiße Bildfläche einerseits zweidimensional zu verfestigen und andererseits in lateraler und axialer Richtung auszudehnen. Hinzu kommt, daß das schwarze Viereck dem weißen Quadrat nur annähernd punktsymmetrisch eingeschrieben ist. Tatsächlich weist es minimale Verzerrungen auf, die es im Blick auf die Bildfläche(13) leicht destabilisieren. So kommt es für den Rezipienten zusätzlich zu einer latenten Dreh- und Kippbewegung bei gleichzeitiger Entgrenzung der Bildfläche. Sukzessive Tiefen- und Drehbewegung einerseits und flächige Verfestigung der bildnerischen Elemente andererseits konterkarieren einander, so daß sich keine der Anschauungsmöglichkeiten fixieren läßt. Gerd Steinmüller hat  mit der Analyse dieses Wirkungsschemas, das für alle suprematistischen Bilder gilt(14), nachgewiesen, daß weiße Bildfläche und Farbformen "weder auf kompositorischem bzw. konstruktivem Wege miteinander vermittelt oder gar ineins gesetzt", noch "nur in rein zufälliger Weise aufeinander bezogen oder gänzlich voneinander ablösbar sind". So deutet sich ihr Konflikt als ein "Spannungsverhältnis, das eine Vielzahl von Stadien zwischen Identität und Differenz, zwischen Ordnung und Kontingenz durchläuft." Ordnungsstiftende und ordnungsauflösende künstlerische Maßnahmen erzeugen "eine Art Mechanismus, durch den das suprematistische Gemälde als ein optisches Ereignis ausgewiesen ist."(15) 

Für die Bildkonzeption suprematistischer Bilder hat dies drei Konsequenzen: 

  1. Das Bild hat keine Mimesisfunktion. Es wird nicht konstituiert durch das Merkmal der Ähnlichkeit von Bild und Abgebildetem.(16) 
  2. Das Bild hat keine Analogiefunktion. Es repräsentiert nicht in analoger Weise außerhalb des Bildes existierende Sachverhalte.(17) 
  3. Das Bild ist kein reines Bildsymbol.(18) Es ist kein Bildzeichen, etwa für eine nicht weiter reduzierbare Elementarisierung bildnerischer Mittel auf die Gegensatzpaare Schwarz-Weiß und Figur-Grund, Bildfeld-Binnenform, sondern das Ergebnis der Verdichtung einer Fülle von bezugnehmenden Bildeigenschaften.

Es steht demnach nicht der Referenz- und Zeichencharakter des Bildes zur Disposition. Das gegenstandslose Bild bildet jedoch nicht Sachverhalte ab, sondern es referiert auf solche Sachverhalte, die es als Bild erst selber schafft.(19) 

Theologische Ekstasen ...

Theologen fällt es schwer, sich mit der Theorie Malewitschs auseinanderzusetzen.(20) Eher halten sie es schon mit der überlieferten Vita eines Künstlers, vor allem, wenn dort religiöse Regungen aufzuspüren sind.(21) In der Regel aber bleibt es beim Studium religiöser Rest-Ikonographie(22). Dennoch sind nicht nur Malewitschs gegenstandslose Werke, sondern auch seine Theorie eine Herausforderung theologischer Kunsttheorie: einerseits, weil sie der Theologie das gegenständliche Material entziehen, andererseits, weil sie sich selbst häufig auf die Welt als Ganzes beziehen und damit über die Kunsterfahrung hinaus Geltungsansprüche im Blick auf die Interpretation von Welt anmelden. Diese Dialektik von Distanz und Nähe zu religiösen und religionsphilosophischen Überlegungen hat in der Auseinandersetzung mit Malewitsch zu unterschiedlichen Deutungen geführt. Drei Auslegungen, eines Theologen, eines Künstler und eines Anthropologen, möchten wir kurz vorstellen. 

Horst Schwebel: Visuelle Ekstasis als Eschatologie(23)

Der Theologe Horst Schwebel hat 1964 eine grundlegende Auseinandersetzung mit der gegenstandsfreien Kunst vorgelegt. Seine Annäherung an die gegenstandsfreie Kunst kann als Versuch beschrieben werden, zu zeigen "wie dicht abstrakte Malerei in die Nähe zur Religion rückt" (17). Die These lautet: "Im Erleben visueller Ekstasis, in welcher ein Stück Ewigkeit in der Zeit vorweggenommen wird, erfährt der Glaube eschatologische Vorwegnahme" (10). Zutreffend beschreibt Schwebel, daß die gegenstandsfreie Kunst aus jeglichem Funktionskontext entrinnen möchte. Sie kann nicht mehr als 'Darstellung von etwas' begriffen werden. Vielmehr ziele sie auf einen neuartigen Zustand: "sich von der Wirklichkeit zu befreien und ein verlorenes Paradies zu finden" (17). Es gehe um eine Form des Bilderlebens, die man "visuelle Mystik" nennen könne: "Visuelle Mystik opfert die Wirklichkeit für ein optisches Paradies" (52). Abstrakte Kunst wisse nichts von "Gottesfinsternis", sondern "von einem optischen Paradies, das Glückseligkeit gewährt" (60), Schwebel kann die abstrakte Kunst sogar als alternativen Erlösungsweg zum Evangelium bezeichnen (61). "Abstrakte Malerei als Phänomen schöpferischen Aufbruchs korrespondiert dem Aufbruch des Glaubens" (69), sie ist nicht das Neue Sein, aber dessen Vor-Form: "Die neuen Bildwelten, ihr ekstatisches Erleben sind phänomenal ... Vorformen, Vorgestalten, gleichgültig, wie sie der Künstler selbst deutet. Als Vorformen eschatologischer Hoffnung, die im Jetzt zur Erfüllung kommt, sind sie Gestalten, in denen der Glaubende sich selbst wiederfindet" (80). Summarisch lautet die dialektische conclusio: "Wo Kunst aufhört, ancilla theologiae zu sein, rückt sie dem Glauben besonders nahe. Hier, wo sie nur sich selbst darstellt, gelingt es ihr am ehesten, das Geheimnis des Neuen Seins zu erhellen" (85), denn "solche Kunst ist zweck-los, aber gerade in ihrer immanenten Zwecklosigkeit wird ihr Hinweischarakter offenbar. Sie weist über die Wirklichkeit hinaus auf ein Jenseitiges, Noch-Ausstehendes hin" (87). 

Hans Matthäus Bachmayer: Ikonoklasmus und Bilderverbot(24)

Der Künstler Hans Matthäus Bachmayer erörtert Malewitschs "rational fundierten Ikonoklasmus" (31). Auch er wählt eine religiös gefärbte Beschreibungsform. "Die rational fundierte Bildvision von Malewitsch zielt in ihrer Ab-sicht auf eine leere Unermeßlichkeit, die unverkennbar von künstlerisch-prophetischen Zügen gezeichnet ist ... Wenn sprechen heißt, sich innerhalb symbolischer und zeichenhafter Welt auszudrücken und verständlich zu machen, dann ist Malewitschs Suprematismus an einer metaphysischen Grenze angesiedelt, die die rationalistische Überschreitung in das Schweigen und das Geheimnis gewählt hat" (31). Malewitschs "Künstler-Prophetie" erinnere an Jean Pauls "Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei", doch wolle Malewitsch die Verabschiedung der Metaphysik nicht gelingen: "Unfreiwillig begründet die kontemplative Abstraktion in der Verabschiedung der Welt eine Spur der Sinnlichkeit, die das letzte Sigma ist für die Ursprünglichkeit des Unterschieds" (35). Als unmöglich erweise es sich, "die Präsenz des Nichts zu vergegenwärtigen" (35). Daher ranke sich alles, "um den Kult einer Abwesenheit, deren Symbol die Ikone ist. Das exklusive Schweigen der Malerei privilegiert hier einen reinen Begriff des Negativen, womit sich das lästige Gewimmel der Gegenstände beseitigen läßt ... Das gegenstandslose Nichts steht damit in einer langen und mächtigen Tradition, welche das Verbot ausspricht, sich von Gott ein Bild zu machen" (38). 

Dietmar Kamper: Die Rettung des Irdischen(25)

Den Anthropologen Dietmar Kamper interessiert die "Kunst als körperlicher Widerspruch gegen die [Idee der] Unsterblichkeit des Geistes" (11). Die geistesgeschichtliche Rechnung, die Kamper aufmacht, verbucht Malewitsch unter einem anderen Posten, als dies Schwebel tut. Während dieser die gegenstandsfreie Kunst auf dem Weg zum optischen Paradies sieht, versteht Kamper sie als Befreiung von jeglichem Paradiestrauma. Die mittelalterliche Tafelmalerei sei Ausdruck der "Leidenschaft für abstrakte Werte, für Gott und Gold, für Geld, Sprachmuster und Zeichen der Verweisung" (12). Die Kunst seit Giotto war das Plädoyer für die geschlossenen Mauern des himmlischen Paradieses als verlorenen Ort der Menschheit im Gegensatz zum abgewerteten Irdischen. Die traditionelle Malerei setze Idealität gegen Realität. "Das Aufwachen aus dem Traum der Verbesserung findet seit 100 Jahren statt" (13) und ist verknüpft mit den Namen van Gogh, Malewitsch und Duchamp. Es geht "um die Rettung des Irdischen" (17), um "Konstruktion und Destruktion der Welt in einem" (18), um die Fülle, die aus der Leere hervorgeht. Auch wenn diese Rettungsversuche als gescheitert betrachtet werden müssen, so haben sie doch ein neues Spiel eröffnet, ein Surplus geschaffen, das nicht mehr reduziert werden kann. Auf dem Spiel steht das Menschliche schlechthin: "Wer Geschichte nicht mehr als Wiederherstellung einer ursprünglich verlorenen Einheit deutet, wer sie nicht als angestrengte Verbindung der Folgen des Sündenfalls auffaßt, wer die historische Finalität zugleich mit den katastrophischen Anfängen preisgibt, kommt in Betracht der Unsterblichkeitsobsession auf andere Gedanken ... Dann wäre die heimliche und dumme Konkurrenz mit dem alten toten Gott endgültig zu Ende, und das Leben der Menschen auf Erden könnte beginnen" (21). Insofern der Suprematismus dies zum Bewußtsein bringt, verdient er den Namen Realismus zu Recht. 

Das gequälte Quadrat(26)

Der commen sense der hier vorgestellten Deutungsversuche scheint darin zu bestehen, daß zum Begreifen des Suprematismus religiöse bzw. religionsphilosophische Kategorien hilfreich sind. Horst Schwebel interpretiert den vom gegenstandsfreien Werk intendierten Erregungszustand als optisches Paradies, Hans Matthäus Bachmayer sieht das schwarze Quadrat als Ikone einer emphatisch beschworenen Abwesenheit und der Präsenz des Nichts, Dietmar Kamper deutet den Suprematismus als Widerruf der künstlerischen bzw. menschlichen Kompensationsversuche für das verlorene Paradies. Malewitsch selber war der Meinung, daß der Suprematismus die konventionellen Gottesvorstellungen überholen bzw. aufheben werde. Nach seiner Überzeugung hat es bisher immer nur gegenständlich-materiell verseuchte Religion gegeben und keine reine, befreite Religion. Erst der Suprematismus könne die Menschen zu einem nicht instrumentellen, nicht verdinglichten Verhältnis zu sich selbst führen. Diese Hoffnung, die der Suprematismus mit allen revolutionären Kunstbewegungen vom Anfang dieses Jahrhunderts teilt, hat sich (bisher) nicht erfüllt. Mit dem Suprematismus und der gegenstandsfreien Malerei waren die Grenzen der Kunst noch nicht erreicht.Mit der differenzierten Thematisierung der traditionellen Bildstrukturprinzipien bleibt das suprematistische Bild durch das traditionelle Bildparadigma bedingt, welches es in Frage stellt, nicht aber gänzlich entwertet.(27) 

...und religiöse Deutung

Uns interessieren im folgenden die religiösen Implikationen der von Malewitsch aufgestellten Künstlertheorie bzw. jene Punkte, an die eine Kulturtheologie nach Malewitsch anknüpfen könnte. Zunächst scheint es uns so, daß alle drei vorgestellten Deutungsversuche erkennbare Grenzen aufweisen:

  • Im Gegensatz zu Werken von Franz Marc oder Wassily Kandinsky kann beim Schwarzen Quadrat auf weißem Grund kaum von einem optischen Paradies gesprochen werden, ohne die Bilderfahrung allzusehr zu strapazieren.
  • Auch die Interpretation der "nackten Ikone des Suprematismus" als Ikone der Abwesenheit stößt auf dezidierten Widerspruch des Werks, weil es sich eben nicht im Modus des Defizits oder der Negativität, sondern als Präsentation der Grundlagen von Malerei präsentiert.
  • Und letztlich überzeugt auch die geschichtsphilosophische Verortung nicht, weil hier das Kunstwerk 'nur' Exempel philosophischer Argumentation und nicht Erfahrungsgegenstand ist, mithin außerhalb des ästhetischen Erfahrungsvollzuges in Gebrauch genommen wird.

Dennoch lassen sich einige Punkte für die theologische Auseinandersetzung benennen: die Grenzziehung im Blick auf den Anknüpfungspunkt theologischer Betrachtung, das beiden Diskursen gemeinsame konstitutive, wenn auch unterscheidbare, Interesse an Freiheit, und die sich abzeichnende Strukturanalogie von religiöser und ästhetischer Erfahrung bei gleichzeitiger Erschließung des differenzierten Bezugrahmens des jeweiligen Erfahrungsprozesses. Malewitsch reflektiert eine Malerei jenseits der Narrativität, aber nicht notwendig jenseits des Religiösen. Ob ein derartiges Verständnis seines Werks möglich und legitim ist, ist in der Kunstkritik umstritten.(28) Wie häufig, entscheidet sich der Konflikt daran, welches Verständnis von Kunst und Religion zugrundegelegt wird. Wir möchten im folgenden ebenso Differenzen wie Gemeinsamkeiten religiöser und ästhetischer Erfahrung benennen. 

Zunächst ist daran zu erinnern, welche Wege nach dem "Dreieck: van Gogh, Malewitsch, Duchamp" für eine theologische Kunsttheorie versperrt sind: dazu gehört jede Art der Anknüpfung an Figuration, wie überhaupt an jede Art der Darstellung, auch jene, die die Abstraktion selbst zum Inhalt macht und das Wahrzunehmende als Darstellung eines Gefühls interpretiert. Überholt sind jene theologischen Theorien, die den religiösen Gehalt in einer verdinglichten Form sehen, sei es in einer besonderen Form religiöser Gegenstände und Symbole, sei es in einer besonderen Form der Bildkomposition. Diese Art religiöser Rezeption von Kunst verletzt die Autonomie, sie steht im Widerspruch zu jeder freien Kunst. Das betrifft auch die radikale Malerei und theologische Theorie, die Kunst als Ausdruck religiöser Geschehnisse und Gefühle versteht.(29) 

Verbindend scheint uns dagegen das gemeinsame Interesse an der Freiheit zu sein. Thomas Lehnerer hat darauf hingewiesen, daß der mit Freiheit gemeinte Sachverhalt, nämlich "ohne bestimmten Grund zu sein", im Prinzip auch durch andere Begriffe charakterisiert werden könne, wie etwa Gott oder auch das Nichts.(30) Die Kunsttheorie Malewitschs entfaltet nicht nur eine "Methode aus Freiheit", sondern entbindet auch ein komplementäres "Empfinden aus Freiheit"(31). So ist radikale Malerei vor allem "auch ein Versprechen auf Freiheit. Selbst befreit - von allen Abbild-Verpflichtungen der Kunstgeschichte - befreit sie das Schauende Gegenüber ... und eröffnet eine Möglichkeit der Selbstbefreiung ... der Mensch als Gegenüber dieser Bilder ist auf sich selbst als selbständiges Individuum zurückgeworfen. Und das, obwohl radikale Malerei auf den ersten Blick fast entindividualisiert aussehen kann. Konzentriertes Hinsehen und intensive Beschäftigung mit dem Bild enthüllt dann allerdings seine - im Gegenteil: prononcierte - Individualität ... Radikale Malerei bedeutet eine Gegenposition zu dem Massen-Prinzip der Zerstreuung und bietet dem Einzelnen als Teil der Gemeinschaft wieder eine Chance der Selbstbesinnung"(32). Nun gilt gerade für die christliche Religion, daß sie den Freiheitsgedanken mit weitgehenden Folgen für die Moderne vertreten hat: Freiheit ist dabei "die erst in konkretem Losspruch und Zuspruch eröffnete Befreiung 'des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit'".(33) Bei Schleiermacher kann die durch Religion ermöglichte Freiheit geradezu in ästhetischen Kategorien beschrieben werden: "Was heißt Eingebung? Es ist nur der religiöse Name für Freiheit. Jede freie Handlung, die eine religiöse Tat wird, jedes Wiedergeben einer religiösen Anschauung, jeder Ausdruck eines religiösen Gefühls, der sich wirklich mitteilt, so daß auch auf andre die Anschauung des Universums übergeht, war auf Eingebung gegeben" - "Nur der Trieb anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Fesseln der Meinung und der Begierde"(34). 

Von da aus ist nun nach der Religionstheorie zu fragen. Dabei geht es nicht zuletzt um den substantiellen Gehalt dessen, was Malewitsch Empfindung/Erregung nennt. Zunächst kann nach den Äußerungen Malewitschs eine Bewegung rekonstruiert werden, welche von der Lehre, wie etwas zu empfinden sei, zur Empfindung und ihrer Intensität, von der akademischen Regel zum Erleben, von der Institution zum Individuum führt.(35) Hier finden sich Parallelen zur Religion, wie sie Schleiermacher beschrieben hat: "Das Verlassen des beschränkten Horizontes, die Überwindung eines systematisierenden Begriffs- und Ordnungsdenkens, das das Fremde ausgrenzt, die Sehnsucht ins Grenzenlose - dies sind für Schleiermacher entscheidende Kennzeichen der Religion".(36) Dann aber finden sich darüber hinaus Ähnlichkeiten in der Beschreibung dessen, was Schleiermacher den "Moment höchster Blüte der Religion" nennt: "Jener erste geheimnisvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen".(37) Man wird Malewitsch einen "Sinn und Geschmack fürs Unendliche"(38) nicht absprechen können, und vermuten dürfen, daß es eine Form von Analogie der künstlerischen Empfindung/Erregung und des religiösen Gefühls gibt. Es bedarf aber noch präziser Bestimmungen, wie die Analogie zu denken ist. An dieser Stelle müssen dazu Andeutungen genügen: 

Die Differenz dürfte sich zunächst grundsätzlich darauf beziehen, daß in und mit der Kunst Erfahrungen gemacht werden, die sich explizit auf das Werk beziehen, während die religiöse Erfahrung ihre Erfahrungsgegenstände (und dabei auch die Kunst) auf das Ganze der Welt bezieht.(39) Eine Bemerkung Thomas Lehnerers mag den gemeinten Sachverhalt verdeutlichen: "Als generativer Kern hat Kunst die gegenteilige Funktion von Religion: Kunst transformiert nicht, wie die Religion, unbestimmbare Komplexität in bestimmbare, sondern sie erzeugt in ihren Werken neue unbestimmbare Komplexität".(40) 

Die Analogie kann sich also nur auf die Struktur beider Erfahrungsformen beziehen, die von der anderer Erfahrungen abweicht. Wenn Henning Luther religiöse Erfahrung so beschreibt, daß sie jene Erfahrung bezeichnet, "in der die Selbstverständlichkeit des Alltags als fraglich erlebt und die Ahnung der Möglichkeit des Ganz Anderen wach wird", dann bezeichnet ersteres die Gemeinsamkeit mit der ästhetischen Erfahrung, während letzteres nur von der religiösen Erfahrung zu ratifizieren ist.(41) Religiöse wie ästhetische Erfahrung beziehen sich negativ auf die Welt, sie sind eine bestimmte Form der (negativen) Bezugnahme auf das, was wir schon wissen. Weder Kunst noch Religion fügen unseren Erkenntnissen ein neues "Wissen" hinzu, sie halten uns in einer Form der Schwebe, in der die Erfahrung nie zu einem Ende gelangt, sondern nur prozessual vollzogen werden kann. Dieser Prozeß der Dialektik von Identität und Differenz, von Bild und Rauschen bezeichnet eine bleibende Gemeinsamkeit von Kunst und Religion.


Anmerkungen


  1. Th. Lehnerer, Methode der Kunst, Würzburg 1994, S. 7. Lehnerer fügt hinzu: "Wo der Künstler in seiner Arbeit keine allgemeinverbindliche Rückbindung, keine 'Religion' mehr hat, da muß er versuchen, sie - durch Selbstdenken - neu zu schaffen."
  2. R. Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt 1989, S. 2.
  3. D. Kamper, "Das Dreieck: van Gogh, Malewitsch, Duchamp", in: Bachmayer/Kamper/Rötzer (Hg.), Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins: van Gogh, Malewitsch, Duchamp, München 1992,  S. 9f.
  4. Vgl. Rombold/Schwebel, Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Freiburg 1983, S. 57; H.M. Bachmayer, "Ek-stase, Implosion, Anartiste", in: Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins, a.a.O., S. 22-47, bes. S. 38
  5. Vgl. Bachmayer, ebenda, S. 31. Falsch ist der Eindruck, es habe sich dabei um Ikonoklasmus gegen Ikonen gehandelt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Malewitsch gehört zum Kreis der Entdecker und Förderer der "Kunstform Ikone". Vgl. N. Smolik, "Malewitsch - der erste postmoderne Künstler"; in: Katalog Malewitsch. Werk und Wirkung, hg. von E. Weiss, Museum Ludwig Köln 1995, S. 18-27, bes. S. 19f. Der spezifische Ikonoklasmus von Malewitsch bezieht sich auf den bürgerlichen Realismus der damaligen Zeit und gerade nicht auf die bäuerliche Ikonenverehrung. Zum verbreiteten Ikonoklasmus von Theologie und Kirche vgl. Andreas Mertin, "Der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung." In: Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Hg. Mertin/Schwebel. Frankfurt 1988. S. 146-168.
  6. D. Kamper, Die Retraumatisierung eines Phantasmas. Kunst als körperlicher Widerspruch gegen die Unsterblichkeit des Geistes; in: Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins, a.a.O., S. 11-21, hier S. 21.
  7. Zu Datierung und Rezeptionsgeschichte siehe G. Steinmüller, Die suprematistischen Bilder von Kasimir Malewitsch: Malerei über Malerei. Bergisch-Gladbach/Köln 1991.
  8. K.Malewitsch, Vom Kubismus zum Suprematismus in der Kunst, zum neuen Realismus in der Malerei als der absoluten Schöpfung (1915), in: Sieg über die Sonne: Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20.Jahrhunderts, Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 15, Berlin 1983, S.134-141.
  9. K.Malewitsch, Die gegenstandslose Welt (1927), in: Neue Bauhausbücher, hrsg. von F. Kupferberg, Mainz/Berlin 1965, S.65.
  10. K. Malewitsch, Suprematismus - die gegenstandslose Welt (1922), hrsg. von W. Haftmann,  Köln 1962.
  11. a.a.O.
  12. Das Schwarze Quadrat taucht erstmals 1913 auf als Bühnendekoration für die futuristische Oper "Sieg über die Sonne" von Alexeij Krutschonych  auf; vgl. z.B. J. Kowtun, 'Sieg über die Sonne': Materialien", in: Sieg über die Sonne, a.a.O. Das erste suprematistische Gemälde "Schwarzes Quadrat, Öl/Leinwand, 79,5 x 79,5 cm, Moskau, Tretjakow Galerie" datiert in das Jahr 1915; vgl. G.Steinmüller, a.a.O., S.267, A 45.1.
  13. Auf diesen anschaulichen Befund macht besonders G. Steinmüller aufmerksam. Mit V. Schlowski gebraucht er die Formulierung eines 'tanzenden' Quadrats; vgl. G.Steinmüller, a.a.O., S.71-75.
  14. Die beschriebene Wirkstruktur hat Geltung für die Ein-Element-Gemälde, für die einfacheren und komplexeren, sowie für die mehrfarbigen Gemälde, und unter umgekehrten Vorzeichen auch für die Weiß-auf-Weiß-Gemälde; G.Steinmüller, a.a.O., S. 71-125. Als Abschluß suprematistischer Malerei kann das "weiße Quadrat" gelten, bei dem die Farb- und Formkontraste nur noch minimale Differenzen aufweisen, so daß eine minimale Spannung evoziert wird. Es kennzeichnet mit Steinmüller die 'Mündung' suprematistischer Malerei, jene Stelle, "wo Energie sich zum letzten Mal 'färbt'." Steinmüller, Individuum eines kollektiven Systems. Zur suprematistischen Farbkonzeption von Kasimir Malewitsch, in: Diagonal, Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule Siegen, Jg. 1992, Heft 2, S.95. Zur Verwendung gegenständlicher Formen unter 'gegenstandslosen Voraussetzungen' in Malewitschs post-suprematistischer Malerei siehe ders., Jenseits der Gegenstandslosigkeit - Zu Kasimir Malewitschs post-suprematistischer Malerei; in: Diagonal., Jg. 1993, Heft 2, S. 151-166.
  15. G.Steinmüller, Die suprematistischen Bilder, S.124. Steinmüller versteht das suprematistische Bild "als Meta-Bild, als ein sich in Formen und Farbe vollziehender Diskurs über Bildlichkeit." Dieser Diskurs vollzieht sich bereits auf der Herstellungsebene: Die Rekonstruktion des Bildaufbaus zeigt, daß sowohl die handwerkliche als auch die systematisierende Handlung des Bildproduzenten bewußt am Bild sichtbar bleiben, so daß das suprematistische Bild zugleich als stoffliches 'Artefakt' als auch als ein künstlerisches 'System' ansprechbar ist; Steinmüller, S. 124-125.
  16. Das ideale Bild (eikon) als gestaltete Nachahmung (mimesis) der Wirklichkeit zeichnet sich im Kontext der antiken Kunst durch die Relation der Ähnlichkeit zwischen Bild und Abgebildetem aus; vgl.Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg. von J. Ritter Basel/Stuttgart 1971, Sp. 913. Die Auffassung, daß Bilder das Sichtbare abbilden, wird erst im 20. Jahrhundert grundsätzlich in Frage gestellt; vgl. W. Hofmann, Von der Nachahmung zur Erfindung der Wirklichkeit, Köln 1970. Zur Diskussion um die Notwendigkeit des Ähnlichkeitsbegriffes für eine Bildtheorie s. die Aufsatzsammlung in Journal of Aethetics and Criticism 39 (1981).
  17. Es gibt durchaus ungegenständliche Bilder, die Analogie-Funktion haben. So setzen Kandinsky und Mondrian im Rahmen eines traditionellen Kompositionsverständnisses die Bildfläche weiterhin als Projektionsebene einer illusionierten Ganzheit ein, so daß die medialen Bedingungen des Bildes gerade nicht konstitutiver Teil eines anschaulichen Konfliktes werden. Die innerhalb der Bildgrenzen abgeschlossene farbliche und formale Ordnung des Bildes referiert dann in bildanaloger Weise etwa auf Ordnungen kosmischer Art oder versteht sich als bildanaloge Darstellung von Harmonien klanglicher Art; vgl. G. Steinmüller, Die suprematistischen Bilder, a.a.O., S. 81-87 und M. Imdahl, Bildautonomie und Wirklichkeit. Zur theoretischen Begründung moderner Malerei, Mittenwald 1981. Die dezidierte Analogielosigkeit der suprematistischen Bildkonzeption findet im Rahmen der Nachkriegskunst eine gültige Realisierung in den Arbeiten des Konkreten Günter Fruhtrunk; vgl. E. Franz, Ständiges Werden, in: Ausst.Kat. Günter Fruhtrunk - Retrospektive, München u.a. 1993 und K. Wendt, Günter Fruhtrunk. Studien zum Bild, Münster 1995.
  18. G.Steinmüller, Individuum eines kollektiven Systems, a.a.O.,  S.86/87.
  19. Hier bietet sich der Begriff der Exemplifikation an als signifikante Weise der Referenz ungegenständlicher Bilder; vgl. N. Goodman,  Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M. 1989, S.53). Ungegenständliche Bilder bilden nicht in denotativer Weise anstelle von Konkretem nun Abstrakta ab, so daß man weiterhin ikonologisch argumentieren könnte (vgl. etwa B. Brock, Zur Ikonographie der gegenstandslosen Kunst, in: Ikonographia. Einleitung zum Lesen von Bildern, hrsg. von B.Brock und A.Preiß, München 1990, S.316-24), sondern sie intendieren eine grundlegende Umkehrung der Bezugsrichtung, nämlich die Bezugnahme vom Bild auf  Wirklichkeit.
  20. Vgl. etwa H. Schwebel, Autonome Kunst im Raum der Kirche, Hamburg 1968 (insbes. S. 23-26); einleitend aber schon S. 10: "Statt sich vom Kunstwerk leiten zu lassen, befragt man den Künstler, beschreibt seine 'Erlebnisse', folgt seinen Spekulationen, ohne zu berücksichtigen, daß er primär malt und keine akademischen Abhandlungen schreibt". Wenige Zeilen später argumentiert Schwebel allerdings selbst mit den Erlebnissen von Kandinsky und Marc.
  21. Vgl. Schwebel/Rombold, Das Christusbild in der Kunst des 20. Jahrhunderts, a.a.O., S. 58. Zitiert wird dort V. Marcadé mit dem Bericht vom Tode des Künstlers, wonach dieser mit ausgebreiteten Armen bestattet werden wollte, "damit sein Körper die Form eines Kreuzes einnähme". Was immer das mit Malewitschs Kunst und seinem Beitrag zum Christusbild des 20. Jahrhunderts zu tun haben soll, es ist und bleibt in dieser Form des konstruierten Rückbezugs auf sein künstlerisches Werk eine intellektuelle Leichenfledderei.
  22. Ebenda, wo auf eine Zeichnung zu Golgatha und - subtil verklausuliert - auf das schwarze Kreuz vor rotem Oval verwiesen wird.
  23. H. Schwebel, Autonome Kunst im Raum der Kirche, a.a.O. Schwebel bezieht sich freilich in erster Linie auf Kandinsky und Marc. Der einzige inhaltliche Anklang an Malewitsch (S. 12) ist eher abwehrender Natur. Ansonsten wird er summarisch unter den "konstruktiven Bildtyp" (S. 32) gerechnet.
  24. H.M. Bachmayer, Ek-stase, Implosion, Anartiste, a.a.O.
  25. D. Kamper, Die Retraumatisierung eines Phantasmas, a.a.O.
  26. "Das gequälte Quadrat" ist der Titel einer Inszenierung von P. Weibel und zugleich einer Ausgabe des Kunstforums (Nr. 105, Jan./Febr. 1990), in der u.a. den Folgen Malewitschs nachgegangen wird.
  27. Vgl. Steinmüller, Die suprematistischen Bilder, a.a.O., S. 122. Andere Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts haben diese Grenzziehung z.B. durch den Verzicht auf innerbildlich motivial lesbare Formen, durch die Sprengung des Rahmengevierts oder die Zerstörung der Leinwand zu überwinden gesucht. Vgl. dazu E. Franz (Hg.), Das offene Bild. Aspekte der Moderne in Europa nach 1945. Stuttgart 1992.
  28. Vgl. die Diskussion über religiöse Implikationen radikaler Malerei in: Kunstforum 88, März/April 1987 (Malerei - Radikale Malerei). Während S. Bann in dem Aufsatz "Brice Marden - Vom Materiellen zum Immateriellen" für eine unaufgebbare Verbindung von Kunst und Religion eintritt, hält H. Staten im Aufsatz "Joseph Marioni - Malerei jenseits von Narrativität" dies für eine metaphysische Belastung, die zu einer Verunreinigung der radikalen Malerei führe.
  29. Vgl. etwa Schleiermachers Vorstellung, Kunst sei eine in Form gebrachte Gefühlsdarstellung. Vgl. dazu Th. Lehnerer, Methode der Kunst, a.a.O., S. 130.
  30. Vgl. ebenda, S. 57
  31. ebenda, S. 97
  32. Armin Haase, Die Farbe denkt, Kunstforum 88, 1987, S. 88, 86
  33. O. Bayer, Marcuses Kritik an Luthers Freiheitsbegriff, in: ders., Umstrittene Freiheit. Theologisch-philosophische Kontroversen, Tübingen 1981, S. 25.
  34. F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion, Hamburg 1958, S. 66, 37. Es ist nicht zufällig so, daß letztere Beschreibung der Religion durch Schleiermacher zugleich auch eine Beschreibung der ästhetischen Urteilskraft sein könnte.
  35. Diese Bewegung skizziert Malewitsch nicht nur für die Kunst, sondern auch für den religiösen Bereich. Vgl. K. Malewitsch, Die gegenstandslose Welt (1927), a.a.O., S. 86.
  36. H. Luther, Grenze als Thema und Problem der Praktischen Theologie, in: ders, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, S. 45-60, hier S. 54.
  37. F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 41.
  38. F.D.E. Schleiermacher, ebenda, S. 39
  39. In Schleiermachers III. Rede "Über die Bildung zur Religion" wird die 'Nachzeitigkeit' der religiösen Bezugnahme klar dargelegt. Dort heißt es: "Drei verschiedene Richtungen des Sinnes kennt jeder aus seinem eignen Bewußtsein, die eine nach innen zu auf das Ich selbst, die andre nach außen auf das Unbestimmte der Weltanschauung, und eine dritte die beides verbindet, indem der Sinn in ein stetes hin und her Schweben zwischen beiden versetzt nur in der unbedingten Annahme ihrer innigsten Vereinigung Ruhe findet; dies ist die Richtung auf das in sich Vollendete, auf die Kunst und ihre Werke. Nur Eine unter ihnen kann die herrschende Tendenz eines Menschen sein, aber von Jeder aus gibt es einen Weg zur Religion ... [Ich wünschte,] daß ich eben so klar anschauen könnte, wie der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion, wie trotz der Ruhe in welche das Gemüt durch jeden einzelnen Genuß versenkt wird, es sich dennoch getrieben fühlt die Fortschreitungen zu machen, die es zum Universum führen können ... Ja, wenn es wahr ist, daß es schnelle Bekehrungen gibt, Veranlassungen durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit; so glaube ich, daß mehr als irgend etwas anders der Anblick großer und erhabner Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann"; F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion, a.a.O., S. 92ff.  Auch wenn Schleiermacher im weiteren seiner Hoffnung Ausdruck gibt, daß Kunst und Religion sich künftig vereinigen mögen, so ist doch im vorliegenden Zitat ihre Differenz klar betont. Grundsätzlich wird man jedoch Schleiermachers Ansatz im Rahmen einer Theorie der Gefühlsdarstellung verorten müssen: "Das religiöse Gefühl ist als ein Gefühl neben anderen zugleich des unmittelbare Bewußtsein des Begründetseins der empirischen Subjektivität überhaupt. Die Kunst aber ist die genuine Weise, das Gefühlsbewußtsein - mithin auch das religiöse Gefühl - im Medium äußerer Darstellung der Mitteilung zugänglich zu machen"; Th. Lehnerer, Einleitung zu F.D.E. Schleiermacher, Ästhetik. Über den Begriff der Kunst, Hamburg 1984, S. IX. Diese Auffassung der Kunst als "Darstellung von etwas" läßt sich, wie nicht zuletzt am Beispiel Malewitschs deutlich wird, im Zuge der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts nicht mehr halten.
  40. Th. Lehnerer, Methode der Kunst, a.a.O., S. 152
  41. H. Luther, Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags; in: ders., Religion und Alltag, a.a.O., S. 239-156, hier S. 246. Für die Differenzwahrnehmung bezieht sich Luther konsequenterweise auf die ästhetische Erfahrung; ebenda (Anm. 44).

© Karin Wendt / Andreas Mertin