Real Virtuality

Möglichkeiten und Grenzen religiösen Handelns im Internet*

von Andreas Mertin

Statement auf dem Medienworkshop '99 der EKHN

Das Verhältnis der Kirche zu den neuen Kommunikationstechnologien ist durch eine merkwürdige Ambivalenz gekennzeichnet, es schwankt zwischen Abstinenz und Emphase. Während sich die Mehrzahl der Theologinnen und Theologen äußerst reserviert verhält, stürzen sich einige wenige mit Haut und Haaren in den Datenstrom, nicht zuletzt, weil sie hier offenbar neue missionarische Möglichkeiten wittern. Auf der anderen Seite pflegen die Protagonisten der neuen Technologien einen durchaus interessierten und spielerischen, häufig problemorientierten und immer sehr individuellen Umgang mit dem Thema Religion. Die theologische Reflexion kratzt bisher nur an der Oberfläche der Phänomene. Untersucht wird bislang zumeist nur das Vorkommen von Religion im Internet. Die Analyse dringt noch kaum zum Kern vor, zur Herausforderung durch neue Sozialformen und neue Transzendenzerfahrungen im virtuellen Raum.

Die sozialen Räume des Virtuellen

Ein besonderes Interesse sollte daher den sozialen Räumen im Cyberspace gelten, den Gemeinschaften und ihrer Funktionsweise in einer virtuellen Kultur, also einer Form der Kommunikation, die nicht auf der unmittelbaren körperlichen Präsenz der Beteiligten beruht. Man kann dabei vier Epochen in der Entwicklung der virtuellen Kulturen unterscheiden.[1] Nach zwei noch nicht am Computer orientierten Phasen entstehen zwischen 1960 und 1984 die ersten Computernetze, die bereits Versuche darstellen, über den reinen Austausch technischer Informationen hinauszugehen. Das Gedankengut zu Beginn dieser dritten Epoche, der online Bulletin Board Systeme (BBS), war stark spirituell inspiriert, wie zum Beispiel die Anfänge des Computernetzes der CommuniTree-Gruppe zeigen. Orientiert am Filmzyklus "Star Wars" ging es darum, mit technologischen Mitteln Gutes zu schaffen. Die Zukunft gewinnt, wer lernt, "seinen Gefühlen zu vertrauen". Regelmäßig sollten Konferenzen zu allgemein interessierenden Fragen veranstaltet werden: "Der erste Satz in der Ankündigung der ersten Konferenz lautete: 'Wir sind wie Götter und könnten darin ganz gut werden'. Diese technospirituelle Anmaßung, angefüllt mit den Verheißungen der erlösenden Macht der Technologie und durchdrungen von dem ungezwungenen, alle fesselnden östlichen Mystizismus, der in den höheren Schichten Nordkaliforniens weit verbreitet war, charakterisierte die frühen Konferenzen. Wie man bereits vom Stil der Ankündigung vermuten kann, ging die erste Konferenz mit dem Titel 'Ursprünge' um künftige Religionen."[2] Das System ging zugrunde, als sich Jugendliche einloggten, die die spirituellen und sozialen Interessen der Initiatoren nicht teilten.

Ein anderes Netz, Habitat, war für den legendären C64 entworfen worden und entwickelte sehr schnell ein ausgeprägtes soziales Leben: "Habitat hat sich in seinem Charakter als eindeutig sozial erwiesen. Während Habitats Betatest entstanden spontan verschiedene soziale Institutionen. [So] gab es Heiratszeremonien und Scheidungen, eine Kirche (zusammen mit einem griechisch-orthodoxen Priester aus der wirklichen Welt), einen lockeren Verband von Dieben, einen gewählten Sheriff (um die Diebe zu bekämpfen), eine Zeitung mit einem ziemlich exzentrischen Herausgeber und bald auch zwei Rechtsanwälte, die ihre Schilder aufhängten, um ihre Geschäftsbereiche aufzuteilen. All das geschah mit nur 150 Menschen".[3] Die dritte Epoche der virtuellen Kulturen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmer der Netze lernen, ihre Körper im System durch Repräsentanten vertreten zu lassen. "Soziale Räume beginnen zu entstehen, die gleichzeitig natürlich, künstlich und durch Einschreibung konstituiert sind."[4] Die Entwicklung der vierten Epoche des Cyberspace hat gerade erst begonnen. Ihre sozialen und anthropologischen Folgen sind noch kaum absehbar. Aber auch hier zeichnen sich Tendenzen zu radikalen Veränderungen der Sozialformen ab.

Der Verlust der Wahrheit

Parallel zu den großen Entwicklungsschritten der virtuellen Kulturen lassen sich auch fundamentale lebensweltliche Veränderungen beobachten. So entwickeln sich Kommunikationsformen, bei denen die Unterscheidung von Geschlecht, Rasse und Religion aufgehoben ist. Die neuen Technologien eröffnen ungeahnte Möglichkeiten der Fiktion und Simulation. Legendär geworden ist Julie, eine körperbehinderte ältere Frau, die Mitte der 80er Jahre in einem New Yorker Netz intensive Beziehungen zu anderen Usern aufbaute. Erst nach einigen Jahren stellte sich heraus, dass Julie nicht existierte. Sie war die Simulation eines männlichen Psychiaters mittleren Alters gewesen.

Ebenso wie es im Zeitalter der Digitalisierung keine wahren Fotos gibt, gibt es im Netz keine Wahrheit im lebensweltlichen Sinn. Für die Ausbildung eines emphatischen Wahrheitsbegriffs sind die Subjekte auf die Alltagswelt zurückverwiesen. Sie bleibt lebensweltlich von primärer Relevanz. Daran ändern auch die neuen Medien nichts. Ihre Domäne ist die Erweiterung. Durch neue Verbindungen von Mensch und Maschine können die neuen Technologien in einem bisher ungewohnten Ausmaß Erfahrungen simulativ vermitteln, den Körper erweitern, seine Begrenzungen überwinden. Zugleich machen uns diese neuen Möglichkeiten nachhaltig auf die Konstruktivität aller von uns produzierten Bilder, Räume und Texte aufmerksam. Sie werfen damit in einer bisher ungekannten Radikalität die Frage auf nach dem Verhältnis der unterschiedlichen mehr oder weniger virtuellen Welten, nach einer Ethik und Ästhetik der pluralen Virtualität.

Vor kurzem habe ich mit Freunden das Projekt einer virtuellen Internet-Instant-Religion diskutiert, einer Religion nach den Bedürfnissen der User - sozusagen Karl Barth von den Füßen auf den Kopf gestellt. Vorgesehen war ein Religionsstifter, eine überschaubare Religionsgeschichte mit konkreten Offenbarungen, eine virtuelle religiöse Gemeinschaft und lebensbegleitende religiöse Handlungen. Also all das, was sich auch schon in William Gibsons Roman-Trilogie über den Cyberspace und inzwischen natürlich in Ansätzen auch im Internet findet. Wir haben dann von diesem Projekt Abstand genommen, weil es zum einen sehr viel Arbeit und Aufwand erfordert, und weil wir zum anderen letztlich ethische Bedenken hatten: was ist, wenn Netzteilnehmer unsere Virtualität in Realität überführen, wenn sie mittels unserer religiösen Simulationen reale Erfahrungen machen? Existiert dann diese Religion und kann man sie einfach abschalten, indem man die Website löscht? Dennoch gibt dieses nicht realisierte Projekt zu denken.

Realisierung oder Virtualisierung von Religion?

Folgt man einem populär-materialistischen Verständnis, dann ist alle "Religion" eine Form der "virtualisierten Realität", der "virtual reality". Das kommt in der Regel in der Äußerung zum Ausdruck, "Glauben sei das eine, Wissen das andere". Religion ist danach irreal, virtuell, "nicht von dieser Welt". Präziser und produktiver wäre es allerdings, Religion mit einem Wort von Bazon Brock als "real Virtuality", als realisierte Virtualität zu verstehen. Traditionelle Religion scheint mir eher real Virtuality, die Realisierung religiöser Erfahrungen, der aktuelle Trend dagegen läuft in Richtung virtual Reality, der Virtualisierung von Religion. Folgt man vom Sinn des Wortes "virtuell" (der Kraft, dem Wesen, dem Inhalt oder der Möglichkeit nach vorhanden), sind beide Interpretationen denkbar, und so provoziert das Netz die Frage, wie man selbst Religion versteht.

Aber das Entstehen virtueller Räume regt nicht nur zum Nachdenken über den Charakter des Religiösen an, es ermöglicht auch neue Transzendenzerfahrungen. Denn wenn das Internet zunehmend ein eigenes "symbolisches Universum" ausbildet, dann stellt es de facto ein eigenes Sinngebiet innerhalb der sogenannten großen Transzendenzen dar. Nach Alfred Schütz weisen die Sinngebiete der großen Transzendenzen einen vom Alltag unterschiedenen Erkenntnis- und Erlebnisstil auf, wie etwa die Phantasie-, die Traum-, die Spielwelt oder die Welt der theoretischen Kontemplation; und nun eben die Welt des Cyberspace. Dabei ist das Sinngebiet "Cyberspace" nicht individualistisch und individualisierend, sondern kommunikativ und sozial konstruiert. Es bildet nicht nur, wie wir bereits gehört haben, soziale Gemeinschaften, Utopien und Geschichten aus, sondern ermöglicht auch die Imagination anderer Erfahrungsformen.

Die simulierte Erfahrung

Jill Scott vom Multimedia-Laboratorium am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, hat so z.B. die Erinnerungen von acht Frauen aus vier Zeitzonen simuliert. Der Teilnehmer kann sich in die Körper dieser Menschen begeben, an ihren Erfahrungen, Utopien, Sorgen und Hoffnungen partizipieren: "Im Jahr 1900 glaubt Mary an die Gemeinschaft als Paradies, wo gemeinsame Arbeit zu Glück und Wohlstand führt, während Emma der Meinung ist, jegliche Art von Organisation müsste im Namen der Meinungsfreiheit und der Freiheit der Lebensgestaltung abgeschafft werden. Im Jahr 1930 zeigt Margaret eindeutig kapitalistische Züge der technischen Utopie, während Pearl, eine Dienstbotin, auf langes Leben und Gleichberechtigung ihrer Rasse hofft. In den radikalen 60er Jahren denkt Gillian, dass die Technik von einem verantwortungsbewussten sozialistischen Staat kontrolliert werden müsste, während Maria der Meinung ist, dass das organische Leben als Mutter der Unsterblichkeit in Frieden gelassen werden sollte. Heute, in den 90er Jahren, glaubt Ki, dass nur eine Mischung aus östlichem und westlichem Denken den Frieden fördern und die drohende Vereinsamung künftiger Generationen erleichtern kann. Zira ist der Meinung, dass man die Wunder der erfinderischen Technik akzeptieren sollte, aber mit Vorsicht, Sorge und Wachsamkeit über ihre Anwendungsformen und die Menschen, die sie kontrollieren."[5]

Auch wenn die technischen Voraussetzungen dazu heute erst in den Anfängen stecken, glaube ich, dass eine Vielzahl von Netzteilnehmern das Internet in diesem Sinne als Versuchsraum simulierter Existenz und der damit verknüpften Erfahrungen nutzen. Ein wenig von der Sinnlichkeit des HinduNet schnuppern, sich an den Bildern im BuddhaNet berauschen oder sich über die Textwelten der EKD-Website ärgern, ist erst der Anfang religiöser Meinungsbildung im Netz. Die Teilnahme an religiöse Zeremonien ist mangels Übertragungskapazitäten noch nicht so einfach, dürfte aber nur eine Frage der Zeit sein. Schon aber gibt es dreidimensional simulierte Gottesdiensträume, einfache Trauzeremonien und natürlich einige Friedhöfe. Ein Spaziergang durch das virtuelle Dorf Geocities zeigt eine Fülle religiöser Strukturierungen, häufig allerdings noch eher dilettantisch.

Global Village als Neues Jerusalem?

Gerade weil der Bereich des zu Erfahrenden, des Wahrzunehmenden kaum eingeschränkt ist, ist der Reiz des unbekannten Neuen, des Abenteuers, den kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich mehr so versprechen kann, ungebrochen. Die Propheten des Internet, die uns einen Himmel voller Satelliten und eine neue Erde unbegrenzter Kommunikation versprechen, setzen alles daran, ihre Vision vom himmlischen Jerusalem namens »Global Village« umzusetzen. So wirbt IBM für "Solutions for a small planet: Etwas Faszinierendes geschieht auf diesem Planeten. Entfernungen werden immer kleiner, Menschen kommen sich näher. Der Grund dafür ist denkbar einfach. Von Andorra über Sylt bis Zimbabwe entdeckt man überall auf der Welt die grenzenlosen Möglichkeiten, die das Internet bietet".[6] Und die Firma NEC ergänzt: "Riesige Zeiträume, enormer Forschungsaufwand, immenser Einsatz an Mitteln - und die Welt wird zum Dorf! Stellen Sie sich eine Welt vor, die klein genug ist, um gleichzeitig mit Kollegen aus verschiedenen Ländern eng zusammenzuarbeiten, Texte, Daten und Bilder auszutauschen und das alles vom eigenen Schreibtisch aus. Genauso sieht es in der 'multimedialen' Welt aus. Revolutionär? ... Projekte wie 'NEC Global College' zeigen, dass die räumlichen Entfernungen keine Barrieren mehr für das Erlernen und Erfahren fremder Kulturen sind. In dem Maße, wie die Welt sich verkleinert, wachsen die Möglichkeiten für die Menschheit."[7] Diese apokalyptischen Visionen sind jedoch eher Defizitanzeigen als wirkliche Utopien. Die Welt als Dorf ist eine rhetorische Formel angesichts der im Internet entstehenden "Neuen Unübersichtlichkeit", sie kündet weniger vom Neuen Jerusalem als vielmehr vom urgeschichtlichen Babel.

De-Konstruktion der Realpräsenz

Die westeuropäischen Kirchen haben - anders etwa als einige amerikanische - fast exklusiv auf die körperliche Realpräsenz ihrer Gläubigen gesetzt. Radio- wie Fernsehgottesdienste wurden von Anfang an als unzureichender Ersatz realpräsentischer Gemeinschaft beargwöhnt. Ein wichtiges Argument dabei war die Individuierung vor dem Medium. Die Fernsehgemeinde sei keine 'richtige' Gemeinde. Diese Einschätzung zeitigt jetzt Folgen - nicht nur im Blick auf die neuen Technologien. Schon seit längerem sind die nicht körperlich im Gottesdienst präsenten, aber virtuell doch vorhandenen Kirchenmitglieder aus allen Entscheidungsprozessen verbannt. Die virtuellen Kirchenmitglieder ziehen daraus ihre Konsequenzen. "Glaube und Kirche sind zwei verschiedene Paar Schuhe, wovon ich mir das eine nicht unbedingt anziehen würde", äußerte ein befragtes Kirchenmitglied. Man kann diese Entwicklung als Folge der Dominanz des Prinzips der Realpräsenz deuten, das das kommunikative Handeln der Kirche bestimmt. Wer nur dreimal im Jahr zu den kirchlichen Hoch-Zeiten erscheint, wird immer noch scheel angesehen und mit einem schlechten Gewissen bestraft. Was aber, wenn sich im Rahmen religiöser Events im Netz eben doch virtuelle Gemeinschaften bildeten, telepräsent und in Echtzeit interagierend, die zumindest die gleiche Kontinuität hätten wie eine Studentengemeinde? Die exklusive Bindung religiöser Kommunikation an die Realpräsenz der Gläubigen wird im Zeitalter universaler Kommunikation Wandlungen erfahren. Soziale Gemeinschaften werden sich verstärkt auf Vereinbarungen gründen und zunehmend temporär sein.

Das Interesse der Kirchen und der Ortsgemeinden kann sich vor diesem Hintergrund nicht darin erschöpfen, im Internet eine Website zu präsentieren, einen Pfarrer fürs Internet zu berufen und dann eine Art modernisierter Telefonseelsorge zu betreiben. Die Frage ist, ob die Kirchen die Netze nur als Fortsetzung der Wortkultur mit anderen, eben zeitgemäßeren Mitteln begreifen, oder ob sie sich auf die mit den virtuellen Welten einhergehenden qualitativen Veränderungen einlassen. Ist für sie das Internet nur ein komplexes Wissenssystem, auf dem man sich präsentieren und Informationen über Christentum, Kirchen, Theologie und Glaubensfragen verbreiten kann (das wäre immerhin etwas!), oder setzen sich die Kirchen auch mit den sich entwickelnden neuen Sozialformen auseinander? Welche Konsequenzen hat die Virtualität dieser Technologien für das Spektrum religiöser Erfahrungen und deren Vergemeinschaftungsformen?

Religiöses Handeln im Internet

Aus all diesen Gründen kann es nicht vorrangig die Aufgabe der Kirche sein, ihre Rolle in dem neuartigen Kulturraum der Datennetze "als Kulturträger, als gesellschaftliche Kraft, als sozialer Anwalt und als Missionarin" wahrzunehmen, wie dies Johannes Neukirch gefordert hat.[8] Diese Sichtweise überschätzt die Einflussmöglichkeiten der Kirche im aktuellen kulturellen Kontext und gerade auch im Blick auf die neuen Technologien. Überdies wird jeder Versuch institutioneller Einflussnahme im Netz sofort machtpolitisch gedeutet. Wer daher meint, man könne es nicht verantworten, "Menschen mit ihren religiösen Anliegen dem Zufall der Diskussionsentwicklung im jeweiligen Netz zu überlassen",[9] wähnt sich offenbar nach wie vor monopolistisch im Zentrum und glaubt, die Kirche vertrete religiöse Lebensdeutungskompetenz exklusiv. Die religiösen Diskussionen im Internet entstehen aber, weil die Menschen zur institutionalisierten Religion auf Distanz gegangen sind, weil sie nicht möchten, dass die Kirche ihnen als Missionarin oder Alleinvertreterin von Religion entgegentritt.

Die mit dem Internet entwickelte Religiosität hat ihre Spitze aber gerade darin, dass sie sich an die von der Kirche verbreitete Etikette nicht halten will, sondern die Beteiligten selbst als Produzenten von Theologie auftreten. Genau aus diesem Grunde ist es wiederum für die Kirche wichtig, sich mit den Entwicklungen des Internet zu beschäftigen, nicht um Einfluss auszuüben oder ein Marktsegment zu besetzen, sondern um teilzunehmen am Kommunikationsgeschehen einer Vergemeinschaftungsform, die die Kirche von jeher propagiert hat und die im Internet ganz unabhängig von kirchlichen Interessen realisiert wird. Für die Kirche könnte es dabei vor allem darum gehen, etwas zu lernen und sich belehren zu lassen von den Menschen, die ihre religiösen Vorstellungen lieber in virtuellen Räumen erörtern, als sich an den Veranstaltungen der Gemeinde zu beteiligen und deren religiösen Leitlinien zu folgen. Eine Theologie, die sich für diese Entwicklungen interessiert und mit ihnen ins Gespräch kommen will, muss versuchen, "dem spezifischen Eigensinn der Alltagskommunikation gerecht zu werden und gerade die darin enthaltenen, virulenten und latenten, Fragen, Widersprüche und kritischen Einsprüche gegen religiös-ideologische Gewissheiten und dogmatische Behauptungen aufzuschlüsseln suchen".[19] Für die Kirche wie für die Gemeinden geht es darum, neben den traditionellen religiösen Kommunikationsformen, Religion in einer neuen Form der Vergemeinschaftung kennenzulernen.

Natürlich sind die Möglichkeiten, die sich der einzelnen Gemeinde wie den Kirchen dabei bieten, ebenso unbegrenzt wie eingeschränkt. Unbegrenzt, weil der religiösen Kreativität wirklich so gut wie keine Schranken gesetzt sind. Eingeschränkt, weil die Teilnahme am religiösen Online-Diskurs hohen zeitlichen Aufwand bedeutet. Man kann an der Website des Judentums in Europa, "hagalil.com", sehen, wie man das Problem löst, nicht nur über Gemeinden, sondern auch über religiöses Leben, religiöse Geschichte und religiöse Lehre zu informieren.

Eine fast schon banale Folgerung ist es daher, dass das Christentum versuchen muss, im Netz nicht als Institution oder Behörde, sondern als Religion im religionswissenschaftlichen Sinn präsent zu sein. Also nicht nur der publizierte Gemeindebrief, sondern die gerade auch sinnlich plausible Darstellung, warum Menschen sich Sonntag für Sonntag virtuell oder realpräsentisch treffen sollten. Also nicht nur die beliebte Rechtfertigung der Kirchensteuer, sondern die Einladung, gemeinsam über verschiedene Formen der Lebensdeutung zu kommunizieren. In der Realität muss man allerdings feststellen, dass man dem Christentum - anders als dem Judentum, dem Hinduismus, dem Buddhismus - im Netz einfach nicht begegnet. Man stößt auf viele gelehrte theologische Worte, unzählige verquere Darstellungen, aber der Substanz christlicher Religion - Jesus Christus - begegnet man nicht. Hier ist - insbesondere im deutschsprachigen Bereich - noch viel Entwicklungsarbeit zu leisten.

Zusammenfassung

  1. Die sozialen Räume des Virtuellen
    Mit dem Internet entwickeln sich neue Sozialformen, die weit über den Austausch reiner Informationen hinausgehen und auch nicht nur eine Spiegelung realer sozialer Verhältnisse darstellen, sondern höchst komplexe auf Vereinbarung beruhende, störanfällige und hohen Fluktuationen unterworfene soziale Netze sind.
  2. Der Verlust der Wahrheit
    Traditionelle Formen von Authentizität, Wahrheit und Identität werden im Internet einer kritischen Korrektur unterworfen. Die neuen Technologien bieten ungeahnte Möglichkeiten der Fiktion und Simulation. Körper, Geschlecht, Rasse, Religion verlieren ihre bestimmende Funktion zugunsten konstruktiver und spielerischer Annäherungen an verschiedene Wirklichkeiten.
  3. Realisierung oder Virtualisierung von Religion?
    Gegenüber dem traditionellen Selbstverständnis der Religion als Realisierung von Virtualität (Gal 5, 25: Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln) zeigt sich im Internet ein Trend zur Virtualisierung von Religion im Sinne eher unverbindlicher Religiosität (Wir sind wie Götter und könnten darin ganz gut werden).
  4. Die simulierte Erfahrung
    Das Risiko des Cyberspace ist zugleich auch seine Chance: die der fast unbegrenzten Simulation von Erfahrung. Eindrücklichkeit ist dabei ein wichtiges Kriterium. Nur wer sinnliche, ansprechende Erfahrungen vermitteln kann, wer sich von der traditionellen Wortorientierung zu befreien vermag, wird auf Dauer auf Resonanz stoßen.
  5. Global Village als Neues Jerusalem?
    Dagegen sind die von den Protagonisten ausgegebenen apokalyptischen Visionen eher Defizitanzeigen als wirkliche Utopien. Die Welt als Dorf ist eine rhetorische Formel angesichts der gerade im Internet entstehenden "Neuen Unübersichtlichkeit". Niemand kann behaupten, angesichts der explosionsartigen Wucherungen des Netzes, auch nur annähernd Überblick zu behalten.
  6. De-Konstruktion der Realpräsenz
    Für die Kirchen stellt sich nicht erst mit dem Internet die Frage nach den virtuellen Kirchenmitgliedern, also jenen, die nicht realpräsentisch als Gottesdienst- oder Gemeindehausgemeinde am Kirchenleben teilnehmen. Hier kann das Internet als Testfall dienen, Gemeindeleben außerhalb etablierter Strukturen einzuüben.
  7. Religiöses Handeln im Internet
    Das Christentum kann daher seine Plausibilität im Internet nur entfalten, wenn es als sinnlich wahrnehmbare Religion - und nicht als Institution - präsent ist, wenn es sich unkonventionellen Kommunikationsformen öffnet, und auch Formen der Gemeinschaftsbildung akzeptiert, die sich exklusiv auf das Virtuelle beschränken.

Anmerkungen

  • Dieser Text basiert auf der Gemeinschaftsarbeit des Verfassers mit Jörg Herrmann: "Virtuelle Religion. Die Herausforderung der neuen Medien für Theologie und Kirche"; In: Barbara Heller (Hg.): Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, S. 117-124.
  1. Vgl. zum Folgenden Allucquere Rosanne Stone, Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben. Grenzgeschichten über virtuelle Kulturen, Kunstforum 133, S. 68-83.
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Ebd.
  5. Jill Scott, Die digitale Körperethik, Kunstforum 133, S. 172-178.
  6. Aus der Werbung der Firma IBM
  7. Aus der Werbung der Firma NEC
  8. Johannes Neukirch, Religion im Internet. Elektronische Kommunikationsformen und die Aufgaben der Kirchen, Lutherische Monatshefte 2/96, S. 22-26.
  9. Ebd.
  10. Henning Luther: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart 1992.

© Andreas Mertin