Religion wahrnehmen lernen

Zur Kultur der Religion (nicht nur) in Jugendwelten

von Andreas Mertin

aus: M. Wermke (Hg.), Aus gutem Grund: Religionsunterricht, Göttingen 2002, S. 52-60..

Ein Lehrstück in Religions- und Kunstgeschichte zugleich bietet der Videoclip zum Lied "Until it sleeps" der Heavy-Metal-Band Metallica, denn er schlägt eine Brücke von der Gegenwart in das ausgehende Mittelalter. Aufgegriffen wird dazu die Bilderwelt des niederländischen Malers Hieronymus Bosch (1450-1516) und zwar mit nahezu detailgetreuen Re-Inszenierungen. Der Text des Liedes – entstanden aus Anlass des Krebstodes eines nahen Verwandten eines Bandmitgliedes - fragt nach den Ängsten, die im Menschen lauern und die er wohl verspürt, jedoch nicht zu bändigen weiß. Das knüpft gut an die Bilderwelt Boschs an, denn auch er spiegelte ja die Phantasmagorien und Erfahrungswelten der mittelalterlichen Menschen. Wie geht man mit "negativen Erwartungsaffekten" (Ernst Bloch) um, wie mit aufsteigender Furcht, mit wütender Verzweiflung?

Im ausgehenden Mittelalter hat Hieronymus Bosch diesen Fragen in seinen Werken einen beeindruckend-drastischen Ausdruck gegeben. Sie sind gefüllt mit symbolisch zu deutenden Monstren und Teufeln, Hexen und Nachtmahren, aber sie sind auch Widerschein mittelalterlicher Frömmigkeit, denn sie zeigen christliche Heilsgeschichte in der Perspektive der damaligen Menschen.

Der Videoclip von Metallica zeigt uns auf seine Weise religions- wie kunstgeschichtlich vermittelte Bilder vom Sündenfall bis zur Kreuzigung in einer spannenden Neuinterpretation. Wie aber kann man diesen Videoclip lesen? Für viele Schülerinnen und Schüler ist allein die Tatsache, dass eine Heavy-Metal-Band hier mittelalterliche Tafelmalerei umsetzt, schon eine Überraschung. Um den Videoclip aber verstehen und ihn deuten zu können, muss man mehr wissen, als nur ein paar kunstgeschichtliche Fakten. Man muss um die Verbindung von Sündenfall und Kreuzigung ebenso wissen (Römer 5,18: Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt.), wie um das Ringen Jesu im Garten Gethsemane (Matthäus 26, 38f.: Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir! Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!), um zu erkennen, dass die Gruppe Metallica das Ringen eines Krebskranken mit seinem Schicksal mit der Verzweiflung Jesu in Gethsemane parallelisiert.

Religion macht Kultur verständlich

In der letzten Zeit mehren sich die Stimmen besorgter Politiker, die darauf verweisen, dass wesentliche Teile der abendländischen Kultur ohne elementare Kenntnisse der jüdisch-christlichen Erzählwelt und ihrer Geschichte nicht verstanden werden können. Wer die Erzählung vom Paradies, das Geschehen um das Kreuz nicht kennt, der kann auch einen großen Teil der Kulturgeschichte nicht lesen, denn diese besteht häufig aus direkten Auseinandersetzungen mit oder zumindest Anspielungen auf diese Geschehnisse. Religion macht Kultur verständlich.

Natürlich ist dies zunächst nur eine funktionale Bestimmung von Religion. Religion leistet anderes und mehr, als heutigen Jugendlichen die abendländische Kultur zu erschließen. Sie bearbeitet die Sinnfrage, leistet einen Beitrag zur Lebensdeutung der Jugendlichen, thematisiert m.a.W. die grundlegenden Fragen "Wer bin ich? - Wo komme ich her? Was ist der Sinn meines/des Lebens?"

Dennoch ist auch die dem gegenüber zunächst sekundäre Frage nach dem Beitrag der Religion und des Religionsunterrichts für die Erschließung der kulturellen Ressourcen der heutigen Gesellschaft nicht zu vernachlässigen. Denn noch der Religionsfernste benötigt die elementaren Überlieferungen der christlich-jüdischen Erzählwelt zum Verstehen der abendländischen Kultur. Weiterhin ist die Mehrzahl aller kulturellen Äußerungen in der ein oder anderen Weise unmittelbar mit diesem Erzählstrom verknüpft.

Wer die Werbeanzeigen der Illustrierten studiert, kann sich davon sofort überzeugen: sowohl was die Wortwahl, wie auch, was die Bildkomposition, und immer noch sehr häufig, was die Bildinhalte betrifft, baut heutige Werbung auf den Text- und Bildwelten des Christentums bzw. anderer Religionen auf. So glaube ich nicht, dass man heute z.B. Werbegrafiker werden kann, ohne sich mit christlicher Ikonografie auseinandergesetzt zu haben. Auch die Lektüre von Texten der deutschen Literaturgeschichte, das Lesen und Entschlüsseln von Bildern in den Museen funktioniert nur mit einer grundlegenden Kenntnis der Texte und Überlieferungen der biblischen Texte.

Dabei muß man gar nicht in die historische Ferne schweifen, schon der Blick auf die populär-kulturellen Produkte der Gegenwart reicht aus, um zu zeigen, wie produktiv die Auseinandersetzung mit den religiösen Erzählstoffen für die Deutung der Gegenwartskultur und damit auch der Gegenwart selber ist. Wer sie kennt, versteht die Welt besser!

"Das hat nichts mit Religion zu tun" - Jugendlicher Widerspruch

Auf der anderen Seite gilt es, das nicht zu leugnende Phänomen der Nicht-Wahrnehmung bzw. der Bestreitung religiöser Zeichenwelten durch die Jugendlichen zu bedenken. "Das hat nichts mit Religion zu tun" gehört zu den Standardsätzen heutiger Jugendlicher, wenn man mit ihnen über religiöse Zeichen in ihrer Alltagswelt sprechen möchte. Da mögen auf einem Plakat des Roten Kreuzes die Einsetzungsworte des Abendmahles "Mein Blut – Für Dich" (das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.) wiederholt werden, da mag sich ein Systemoperator in einer Anzeige im Stil der Ikonen des Hl. Nikolaus und im Tonfall der Bibel (Und es begab sich, dass Kabel New Media neue Mitarbeiter suchte, denn man war an die Börse gegangen. Und siehe, die Aktien waren gestiegen. Und siehe, das Unternehmen war gewachsen. Und so suchte eines der führenden E-Business-Unternehmen neue Kollegen für den Bereich IT, und die Standorte waren Hamburg, Berlin, Köln, München und Wien) an künftige Mitarbeiter wenden, für viele Jugendliche hat das mit Religion nichts oder doch nur wenig zu tun. Religion kann, soll, darf nicht in der eigenen Alltagskultur vorkommen, denn Religion ist eine Teil einer verkrusteten, dogmatisierten, lebensfernen Erwachsenenwelt, auf jeden Fall etwas von Gestern und nicht Gegenstand heutiger kultureller Prozesse.

Und selbst dort, wo die Jugendlichen akzeptieren, dass sie es mit religiösen Elementen zu tun haben, lesen sie sie nur als ironische Kommentierung oder als Recycling kultureller Abfallstoffe. Und das unbestritten oft zu Recht. Denn tatsächlich kommt Religion in der Gegenwartskultur auch als frei schwebendes und nicht mehr eindeutig einem Religionssystem zuzuordnendes Symbolgut vor.

Aber was bedeutet das? Es bedeutet zumindest so viel, dass man diese Zeichen und Symbole zum Verstehen der Werbebotschaft, der Liedtexte, der Videoclips oder der Kinofilme kennen muss oder man bleibt von einem Teil ihrer Botschaften und Gehalte ausgeschlossen. Und so erweist sich in einer zunehmend intertextuell strukturierten Welt die elementare Kenntnis religiöser Überlieferungen als unverzichtbar. Diese Entwicklung wird zunehmen: der von den Jugendlichen besonders geschätzte Kino-Kult-Film Matrix besteht zum Beispiel fast ausschließlich aus Zitaten und Anspielungen auf philosophische und literarische, vor allem aber auf Texte. Im Folgenden möchte ich auf einige Beispiele (nicht nur) aus der populär-kulturellen Lebenswelt der Jugendlichen hinweisen, die sich in die skizzierte Religionskultur in der Alltagskultur einzeichnen lassen.

Religionskultur in der Alltagskultur

Videoclips

Im Lied "C U when you get there" des populären Rappers Coolio werden einige konflikthafte Zuspitzungen im Leben ganz normaler Menschen beschrieben: die scheinbare Ausweglosigkeit, die zum Selbstmord führen könnte, der Konflikt zwischen Vater und Sohn, der in einer handfesten Auseinandersetzen enden könnte usw. Jedes Mal stellt sich die Frage: wie kommt man aus dieser Zwickmühle heraus? Im Videoclip wird das so bearbeitet, dass an den entscheidenden Stellen das Bild eingefroren wird und der Betrachter sich fragt, wie es nun wohl weiter geht. Coolio singt dazu "As we walk down the road of our destiny and the time comes to choose which it gonna be the wide and crooked, or the straight and narrow …" und greift damit direkt die biblische Überlieferung auf (Matthäus 7, 13f.: Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!) Der Sinn des Liedes erschließt sich letztlich nur im Rekurs auf die biblische Bezugsstelle.

Ein anderes Beispiel ist das Lied "One of us" der amerikanischen Sängerin Joan Osborne. Sie stellt die Frage, was wäre, wenn Gott aussähe wie einer von uns: "What if God was one of us / Just a slob like one of us / Just a stranger on the bus / Tryin' to make his way home?" Neben dem im Liedtext unverkennbaren Bezug auf die Sätze zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1, 26: Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei) verwendet der dazugehörige Videoclip Michelangelos Darstellung der Schöpfungsgeschichte in der Sixtinischen Kapelle. Die Produzenten des Clips übernehmen Michelangelos Werk als Vorlage, lassen das Antlitz Gottes aber frei, so dass jeder einmal für einen Augenblick Gott (gottesebenbildlich) sein kann, indem er sein Angesicht in die Darstellung Michelangelos einfügt. Man kann den Videoclip zum Lied und seine Aussage nahezu überhaupt nicht verstehen, wenn man nicht diesem Verweis nachgehen kann.

Es gibt eine Fülle weiterer Videoclips, die sich auf der Folie der biblischen Erzählwelt erschließen lassen. Nun sind die genannten Beispiele nicht zufällig aus der amerikanischen Popkultur, die noch ein nahezu ungebrochenes Verhältnis zur Religion hat. Aber auch in Deutschland gewinnt das Thema "Religion" in der Popkultur zunehmend an Aktualität, wie die Beispiele Nana oder Xavier Nadoo zeigen.

Werbung

Über das Auftauchen von Religion in der Werbung ist schon viel geschrieben und diskutiert worden. Immer wieder gibt es Proteste gegen die Ingebrauchnahme religiöser Elemente für Reklamezwecke (etwa beim Abendmahl-Motiv der Modefirma Otto Kern oder dem Beichtstuhl-Motiv der Tabakmarke West). Unbestreitbar scheint zunächst einmal die religiöse Grundierung der Werbung, auf die der amerikanische Medienkritiker Neil Postman schon vor Jahrzehnten hingewiesen hat. Nahezu jede Werbung funktioniert nämlich nach dem Schema von Sünde, Reue, Heilsweg und Heilszustand, fast jede Werbeanzeige ist eine direkte Ansprache im Stil einer Predigt. Hinzu kommt die angesprochene direkte Verwendung religiöser Motive in heutiger Werbung. Eine Werbeanzeige der Tabakfirma SAMSON kann so zum Beispiel zu einer komplexen Textur von Anspielungen auf die biblische Schöpfungsgeschichte und auf die Geschichte von Samson und dem Löwen werden. Freilich wollen auch diese kulturellen Produkte "gelesen" werden, nicht zuletzt, um sich überhaupt ein Urteil bilden zu können.

Computerspiele und Internet

Die bei Jugendlichen beliebten Computerspiele haben gar nicht so selten eine religiös-mythische Grundstruktur. Das gilt nicht nur für Spiele, die explizit religiöses Material verwenden wie etwa Diablo (bei dem es darum geht, den Teufel zu vernichten) oder Populous (wo man als Schamanin sein Volk gegen andere Völker und Schamaninnen führt). Die Struktur von Gut und Böse ist Grundlage unzähliger Spiele, der Aufbruch des jugendlichen Helden aus der Heimat ins Ungewisse mit vielen zu bestehenden Abenteuern das (mythische) Standardschema schlechthin.

Die Unentbehrlichkeit der religionspädagogischen Bearbeitung aktueller Medienkultur wird nicht zuletzt angesichts des Internets deutlich. Keinesfalls kann dieses ja als ein informierendes und Wissen vermittelndes Medium begriffen werden. Seine Herausforderung besteht ja zunehmend darin, die Fülle der Informationen daraufhin zu befragen, was sie an sachlichem Gehalt zu vermitteln haben. Wer also im Internet etwas über Religion, konkret: etwas über Buddhismus wissen will, kann die Kriterien der Beurteilung nicht dem Internet selbst entnehmen, er muß in der Schule schon etwas über Buddhismus gelernt haben, um überhaupt entscheiden zu können, ob das, worauf er nach der Eingabe des Wortes "Buddhismus" in eine Suchmaschine stößt, überhaupt eine sinnvolle und den Buddhismus korrekt beschreibende Information ist.

Kirchenraum

Und nicht zuletzt in den so genannten hochkulturellen Bereichen ist das, was der Religionsunterricht vermittelt, unentbehrlich. Wer - spätestens im Urlaub als Tourist - Kirchen besucht, ist ebenfalls auf wenigstens elementare Kenntnisse der jüdisch-christlichen Erzählwelt angewiesen. Niemand kann ohne diese Kenntnisse den religiösen Kosmos einer romanischen, gotischen, barocken, aber auch postmodernen Kirche entziffern. Die sich zunehmend in Deutschland ausbreitende Kirchenpädagogik verweist ja gerade auf dieses Defizit. Der Religionsunterricht kann hier die notwendigen Grundlagen zum Verstehen religiöser Räume legen. Was zeichnet einen religiösen Raum aus und was verbindet ihn mit den religiösen Vorstellungen seiner Erbauer? Was sagen die "Gebrauchsspuren" einer Kirche über ihre heutige Bedeutung und Wahrnehmung aus? Inwiefern sind die ästhetisch ausgezeichneten Räume der Kirche über ihre ästhetische Funktion hinaus, religiös bedeutungsvoll? Wie verbindet sich der umbaute Raum mit dem darin gefeierten Ritual? Das sind Fragen, deren Beantwortung auch für die Erschließung fremder religiöser Räume hilfreich ist.

Die Künste

Was für religiöse Räume und Kirchenräume gilt, trifft auch auf den allgemeinen Bereich der Künste zu. Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, wollte man darauf verweisen, dass der Besuch eines normalen Museums mit historischer, aber auch mit zeitgenössischer bildender Kunst ohne das Wissen um das in den Werken Dargestellte nur wenig Sinn macht. Auch wenn figurative Malerei und Skulptur heute eher abstrakten Darstellungen gewichen ist, beziehen sie sich doch häufig noch in der Form auf traditionelle Gestaltungen, etwa als Tafelbild oder als Triptychon. Aber auch im Sinne des kunsthistorischen Zitats finden wir viele Verweise auf die Religionsgeschichte. Spätestens in der Konfrontation mit Werken der Kunstgeschichte bedarf es für das Verstehen der Werke genauerer Kenntnisse des erzählerischen Materials, auf dem sie basieren. Dazu gehören auch die funktionalen Kontexte, denen viele Werke, die wir heute in Museen antreffen, ursprünglich angehörten.

Ähnliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen lassen sich ohne größere Umstände auch für andere hochkulturelle Bereiche ziehen, wie etwa die Literatur (vgl. etwa Patrick Roths Novellen), das Theater, die Oper oder die Musik. Das religiöse Sprachgut bildet auch hier weiterhin einen wichtigen Bezugspunkt für das kulturelle Schaffen in der Gegenwart.

(Religions-) Kultur im Religionsunterricht

Was leistet nun der schulische Religionsunterricht im Blick auf die vorstehend beschriebenen populär- und hochkulturellen Phänomene? Er kann zum einen – wie in der Beschreibung ja schon erkennbar wurde - das notwendige Material bereitstellen, um aktuelle wie historische kulturelle Produkte überhaupt erst "lesen" und damit auch verstehen zu können. Indem er in die Erzählwelt des Neuen und Alten Testaments, aber auch in die Geschichte der christlichen Religion und der Kirche einführt, vermittelt er jene Sprach-Bilder, die in den verschiedenen kulturellen Lebenswelten der Jugendlichen - natürlich in abgewandelter Form – weiterhin vorkommen und der Entschlüsselung und Realisierung harren.

Zum zweiten übt der Religionsunterricht die Wahrnehmung von Religion in der Kultur der Gegenwart ein. Religion fällt nicht einfach so in den Blick, ihre konkrete Wahr-Nehmung muß gelernt und eingeübt werden. Dass ein Text wie "Mein Blut - Für Dich" nicht allein etwas mit Blutspenden zu tun hat, sondern auf den großen Blutkreislauf verweist, den wir gewöhnlich unter dem Stichwort "Abendmahl" kennen und feiern, muß entdeckt und gelernt werden. In diesem Sinne stellt der Religionsunterricht Entdeckungszusammenhänge her, die dem ersten Blick der Jugendlichen vielleicht entgangen sind und die ihnen neue Lektüren ihrer Umwelt ermöglichen.

Die Welt unter einem anderen Blickwinkel betrachten zu lehren, ist dem entsprechend eine der zentralen Aufgaben des Religionsunterrichts. Und zu dieser Welt gehören eben auch die unseren Alltag durchdringenden, oftmals sogar bestimmenden kulturellen Produkte der Musik-, der Werbe-, der Medienindustrie.

Nach einem Unterrichtsversuch mit Michael Jacksons "Earthsong" notiert Johannes Kubik zu den Resultaten seiner religionspädagogischen Bemühungen: "Obwohl den Schülerinnen und Schülern das Medium Videoclip sehr vertraut ist und sie keine Schwierigkeiten mit der Rezeption haben, ist den meisten von ihnen nicht bewusst, dass Clips religiöse Botschaften transportieren. Aufgrund ihrer Fähigkeiten im Umgang mit dem Medium können sie aber, wenn es im Unterricht gefordert wird, religiöse Elemente erkennen und benennen. Über die so entdeckten religiösen Botschaften in Videoclips sind sie selber erstaunt. Insgesamt sind Schülerinnen und Schüler durch Clips überdurchschnittlich motiviert, sich mit religiösen und christlichen Themen zu beschäftigen und tun es auf recht selbstbestimmte Weise, was darin gipfeln kann, dass sie sogar selber Themen ansteuern, die nicht geplant sind." (www.rpi-loccum.de)

Kubik verweist schließlich auf den religiösen Lernprozess der Schülerinnen und Schüler: "Sie fühlen sich durch Clips auch dazu angeregt, ihre eigene Religiosität auszudrücken und durch die produktive Umsetzung sehen einige Schülerinnen und Schüler die Bibel plötzlich in einem anderen Licht: Eine Schülerin sagte, durch die Unterrichtseinheit habe sie eine völlig neue Sichtweise der Bibel gewonnen, indem sie gemerkt habe, dass sie ‘eine Quelle der Kreativität sein’ könne". Letzteres verweist aber auch schon auf den dabei parallel stattfindenden kulturellen Lernprozess. Dass die Bibel eine "Quelle der Kreativität" ist bzw. für die Schülerinnen und Schüler zu einer solchen werden kann, ist der durch einen kulturhermeneutischen, das heißt zum Verstehen der Gegenwart wie der Gegenwartskultur anleitenden Religionsunterricht angestrebte Lerneffekt. Religionsunterricht erschließt und vertieft Jugendlichen einen Teil der von ihnen täglich genutzten Medienwelt – und damit einen wichtigen Teil der Kultur.

Der Beitrag des Religionsunterrichts zum Verstehen wie zum Gestalten der Welt kann daher im Sinne der Erschließung kultureller Ressourcen kaum überschätzt werden. Bereits 1997 schrieb die Evangelische Kirche in Deutschland zur Aufgabe religiöser Bildung in der Schule: "Die Kultur, die unsere Lebenssituation prägt, verdankt sich mit ihren freiheitlichen Überzeugungen wie ihrem sozialen, diakonischen Verantwortungsbewusstsein gerade auch christlich begründeten Überzeugungen. Nur in intensiver Auseinandersetzung mit diesen Wurzeln, mit dem breiten Strom erzählter und gestalteter Lebens- und Glaubenserfahrung, lassen sich die Geschichte verstehen, heutige Erfahrungen und Problemzusammenhänge deuten und überzeugende Zukunftsperspektiven entwickeln. Auch in einer pluralen Gesellschaft ist deswegen religiöse Bildung in der Schule ein unverzichtbarer Faktor allgemeiner und individueller Bildung. Das gilt insbesondere in einer Situation, in der interkulturelle Erziehung zum Auftrag der Schule gehört." Wie sich gezeigt hat, gilt das in einem vielleicht überraschenden Maße auch für die populärkulturellen Lebensbereiche der Jugendlichen.

"Religion wahrnehmen lernen" heißt daher auch, das eigene Leben, die eigene Umwelt, die Kultur der Mitmenschen durch den Religionsunterricht besser kennen zu lernen.

Literatur

Mertin, Andreas Videoclips im Religionsunterricht. Eine praktische Anleitung zur Arbeit mit Musikvideos. Göttingen 1999.

Ders., Internet im Religionsunterricht. Göttingen 2/2000.

Kirsner/Wermke Religion im Kino, Göttingen 2000


© Andreas Mertin, Hagen 2002