Auf der Grenze

Die Dialoge von Kunst und Kirche

von Andreas Mertin

[erscheint im Katalog "Dialoge", Wehr 2003]

In einem mehrfachen Sinne verlaufen die Gespräche, die im Bereich von Kunst und Kirche, allgemein von Kunst und Religion geführt werden, auch heutzutage noch: Auf der Grenze. Was der Theologe und Philosoph PAUL TILLICH für seine Existenz ausgesagt hat, gilt auch weiterhin: Er entdeckte, "dass der Begriff der Grenze geeignet ist, Symbol für meine ganz persönliche und geistige Entwicklung zu sein. Fast auf jedem Gebiet war es mein Schicksal, zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine endgültige Entscheidung zu treffen." Wer immer mit Kunst und Religion zu tun hat, macht diese Grenzerfahrung.

Zunächst einmal verläuft die Grenze nämlich nicht äußerlich zwischen Menschen und fest beschreibbaren Institutionen, sondern vor allem in uns selbst. Wir nehmen Phänomene der Hochkultur wie des Alltags unter ästhetischen, religiösen, ethischen, politischen, sozialen, aber natürlich auch unter anderen Aspekten wahr und setzen sie zu den jeweils anderen Wahrnehmungsformen in Beziehung. Wir müssen für uns selbst je klären, was wir ästhetisch und was wir religiös wahrnehmen und in welchen Kontexten wir das konkret tun.

Daneben gibt es dann aber auch Gespräche zwischen Menschen vor Objekten, die für die ästhetische Wahrnehmung gemacht wurden, aber eben auch religiöses Wahrnehmen anstoßen können: "Der Zweck der Kunst ist, ... Empfinden aus Freiheit hervorzubringen" (THOMAS LEHNERER). Über religiöse und ästhetische Lesarten muss jeweils intersubjektiv gestritten und verhandelt werden.

Und schließlich gibt es natürlich die Gespräche zwischen den religiösen und ästhetischen Virtuosen, jenen, die sich die eine oder andere Wahrnehmungs- und Ausdrucksform zur Profession gemacht haben. Geführt werden müsste dabei, wie es REINHARD HOEPS einmal in einem Leserbrief an die Zeitschrift "Kunst und Kirche" formuliert hat, "ein Diskurs zwischen Kunst und Theologie, in dem beide Seiten ihre Position stark machen und in dem deshalb wirklich etwas auf dem Spiel steht. Es sollte ein Gespräch sein, bei dem die Einigung nicht bereits im Vorhinein programmiert ist, ja vielleicht sogar nicht einmal angestrebt werden muss..., ja (das Gespräch) eigentlich keine Übereinstimmung zum Ziel haben (kann)." Auch diese Gespräche verlaufen "auf der Grenze", selbst da, wo sie innerhalb eines Künstlerphilosophentheologen (wie etwa bei THOMAS LEHNERER oder HERBERT FALKEN) situiert sind.

Was nun die aktuellen Entwicklungen im Gespräch von Kunst und Kirche betrifft, so ist es schwer, sie präzise zu beschreiben und einzuordnen. Man kann diese Dialoge vielleicht mit der Metapher des Labyrinths oder Netzwerks abbilden, dessen Koordinaten sich verändern, je nachdem auf welchen Punkt man blickt.

Zum einen können die letzten 20 Jahre erfreulicherweise - nicht zuletzt dank der Initiativen von PAUL GRÄB auf der evangelischen und FRIEDHELM MENNEKES auf der katholischen Seite - als diejenigen einer breiten Öffnung der Kirchen zur Kunst und zur Reflexion ästhetischer Fragen beschrieben werden. Während Ende der 60er-Jahre die autonome Kunst im Raum der Kirche noch verteidigt werden musste (das ist der Verdienst von HORST SCHWEBEL), scheint Anfang des 21. Jahrhunderts ein ökumenischer Konsens in der Begegnung mit den autonomen zeitgenössischen Künsten erreicht. Das kulturpolitische Papier des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken "Kultur als Aufgabe von Staat und Kirche" und die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland "Räume der Begegnung" bieten die argumentative Plattform, für ein offenes und solidarisches Gespräch von Kunst und Kirche. Auch die theologische und hier insbesondere die praktisch-theologische Wissenschaft hat sich den Künsten und der Ästhetik zugewandt: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Theologie treiben kann, ohne regelmäßig Literatur zu lesen oder die Tendenzen der Bildenden Kunst zur Kenntnis zu nehmen" (ALBRECHT GRÖZINGER). Und WILHELM GRÄB kann sagen: "Der religiöse Glaube ... entspringt ästhetischen Erfahrungen." So kann man geradezu von einer ästhetischen Wende, wenn nicht sogar einem 'pictural turn' der Kirche sprechen.

Es gibt jedoch auch Anzeichen dafür, dass die Gräben zwischen Kunst und Kirche keinesfalls überwunden sind, ja, dass einige sich in einem neu erwachten und meines Erachtens missverstandenen religiösen Selbstbewusstsein von der autonomen Kunst ab- und wieder der religiös inspirierten Kunst zuwenden wollen. Sie wollen erneut "das Evangelium durch Kunst sichtbar machen" und beklagen "eine gewisse Verschämtheit im Umgang mit christlichen Perspektiven und kirchlichen Interessen gegenüber Vertretern und Resultaten des Kunstbetriebs" und beobachten bei kirchlichen Kunstvermittlern "einen ernst zu nehmenden Verlust religiösen (Selbst-) Bewusstseins". So unsinnig derartige Aussagen auch sind, zeigen sie doch, dass die Motivation des offenen Gesprächs zwischen Kunst und Kirche auf der Basis ihrer Zeitgenossenschaft gründlich missverstanden wurde. Wäre das heimliche Ziel des Gesprächs aufseiten der Kirche doch nur die Heimholung der Künste und von Vertretern des Kunstbetriebs die weitere Ausstellungsmöglichkeit gewesen, wäre das Gespräch überflüssig, schal und leer gewesen. Mit religiöser wie ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung hätte es wenig zu tun gehabt. Die Verkürzung des Gesprächs auf christliche bzw. religiöse Fragen halte ich mit THEODOR W. ADORNO für Blasphemie, sie bedeutet letzten Endes in einem spezifischen Sinn "Trug für Gott" reden, denn sie unterstellt, dass Gott Freude nur am Illustrativen und damit Epigonalen hat.

Eine Kirche jedenfalls, die in Kunst und Kultur nur das Eigene sucht, verliert ihre Zeitgenossenschaft. "Gott ist ein Gott der Gegenwart: 'Denn siehe, ich bin da!' (Jes 52,6). Was für Gott selbstverständlich ist, ist für Menschen sehr schwer: in der Gegenwart ankommen. Um aber zu verstehen, was die Menschen der Gegenwart bewegt, was der gegenwärtige Stand der Dinge und was der Lauf der Zeit ist, sind Wahrnehmungen und Erfahrungen nötig, die Gegenwart noch näher qualifizieren als nur als Zeitpunkt, der sich gerade ereignet. Kunstwerke sind ein Versuch, qualifizierte Gegenwart herzustellen: Sie nehmen Atmosphären auf, ziehen Verbindungslinien in die Vergangenheit, reflektieren und gestalten sinnliche Wahrnehmungen und nehmen damit eine Qualifizierung von Gegenwart vor, die weit über eine bloße Orientierung an oberflächlicher Aktualität hinausgeht" (DIETRICH NEUHAUS). In der freien Kunst aber wird nach einem Satz KARL BARTHs, "die Problematik der Gegenwart gerade darum und darin ernst genommen, dass sie in ihrer Beschränktheit eingesehen, dass sie in der Aisthesis grundsätzlich überboten wird ... Das Wort und Gebot Gottes fordert Kunst", aber eben keine kirchliche Kunst, sondern eine Kunst "neben der Wissenschaft, neben Kirche und Staat". Wer dieser Kunst begegnet, lebt notwendig auf der Grenze. Erst in dieser Perspektive wird die Kunst wie die Kultur zu der "dem Menschen ursprünglich gegebene Verheißung dessen, was er werden soll" (KARL BARTH).


© Andreas Mertin, Hagen 2003