GOTT - MENSCH  - MEDIEN

Die Deutung des Leids in der Mediengesellschaft

von Andreas Mertin

[Ästhetik & Kommunikation, Heft 4/2005]

Die Wiederkehr der Theodizeefrage am Beispiel von Naturkatastrophen

Als am 26. Dezember 2004 ein Erdbeben im Indischen Ozean mit der Magnitude 9.0 auf der Richterskala einen Tsunami auslöste, verursachte dieser durch seine Flutwellen verheerende Schäden in Küstenregionen am Golf von Bengalen und in Südasien. Die Flutwelle drang mehrere tausend Kilometer bis nach Ost- und Südostafrika vor. Allein in Indonesien sind vermutlich 180.000 Todesopfer zu beklagen. Werden alle Toten in den Anrainerstaaten zusammengerechnet, hat das Erdbeben fast eine viertel Million Tote gefordert. Unzählige Menschen wurden verletzt, Millionen Einheimische sind rund um den Indischen Ozean obdachlos geworden. Genaue Zahlen wird es nie geben, da aufgrund der akuten Seuchengefahr viele Opfer rasch in Massengräbern beerdigt wurden.

In der uns bekannten Geschichte der Naturkatastrophen ist dies unbestreitbar eine der größeren Katastrophen, größer jedenfalls als das Erdbeben von Lissabon, das 1755 mit 60.000 Toten die bekannte europäische Theodizee-Debatte auslöste. Allein im 20. Jahrhundert gibt es jedoch mindestens vier zum Teil noch weitaus größere Naturkatastrophen mit bis zu 1,5 Millionen Toten: So etwa die Überschwemmung des Jangtse im August 1931 mit etwa 1,4 Millionen Toten, eine dreijährige Dürreperiode in Indien zwischen 1965-67 mit 1,5 Millionen Toten, Wirbelstürme und Flutwellen in Bengalen im November 1970 mit 300.000 Toten und schließlich 1976 ein Erdbeben in Tanfsam (China) mit vermutlich über 650.000 Toten.

Als nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 die optimistische Leibniz'sche Lösung der Theodizee (nach der wir in der besten aller Welten leben) für viele Menschen an Plausibilität einbüßte, war es nur noch ein kleiner Schritt, anstatt Gottes Güte gleich Gottes Existenz zu verneinen. Und auch nach der Flutkatastrophe 2004 wurde schnell die Gottesfrage gestellt, auch wenn Herbert Schnädelbach darin nur ein kurzlebiges Rauschen im Blätterwald zu sehen vermag.

Naturkatastrophen, darauf hat Immanuel Kant in seiner Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" hingewiesen, ziehen immer auch moralische, religiöse und philosophische Fragen nach sich: "Die Hypothese: alle Übel in der Welt im allgemeinen als Strafen für begangene Übertretungen anzusehen, … liegt vermutlich der menschlichen Vernunft sehr nahe, welche geneigt ist, den Lauf der Natur an die Gesetze der Moralität anzuknüpfen, und die daraus den Gedanken sehr natürlich hervorbringt: dass wir zuvor bessere Menschen zu werden suchen sollen, ehe wir verlangen können, von den Übeln des Lebens befreit zu werden, oder sie durch überwiegendes Wohl zu vergüten." Und das gilt offenbar nicht nur für die Zeit vor der Aufklärung oder das 18., sondern auch noch für das säkularisierte und scheinbar aufgeklärte 21. Jahrhundert.

Was früher vor allem eine Herausforderung für Theologen und Philosophen - angefangen von Leibniz, Herder, Kant, über Hegel und Kierkegaard bis zu Bloch - war, wird heute in einer durch und durch mediatisierten Gesellschaft von den Massenmedien populärkulturell durchbuchstabiert. Der Kommunikationswissenschafter Jo Reichertz begründet dies im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk mit einer neuen Aufgabenverteilung in der Öffentlichkeit. Wofür früher die Kirchen zuständig gewesen seien, spiele sich heute in Zeitungen und im Fernsehen ab. "Medien ordnen ein, deuten, machen Probleme verständlich. Sagen uns, was wir tun sollen, wenn wir uns nach einer Katastrophe wie dieser nicht sicher sind, wie wir uns verhalten sollen. Und schließlich organisieren Medien Hilfe in Form von Spendenaktionen."

Der Theologe Günter Thomas hat dementsprechend in seinem Buch zur religiösen Funktion des Fernsehens auf die allgemeine ordnungsstiftende Bedeutung der Massenmedien verwiesen. Im Kontext von Katastrophen übernehmen Medien inzwischen Funktionen, die früher von der Religion ausgeübt wurden. Auf die Tsunami-Katastrophe des letzten Jahres reagierten daher auch die großen Printmedien in Deutschland schnell mit verschiedenen Stellungnahmen, vorrangig tatsächlich mit dem massenmedial inszenierten Aufruf zu Spenden und Hilfsleistungen, dann aber auch mit der Erörterung der Sinnfrage.

Der SPIEGEL

Der SPIEGEL, ansonsten eher Spezialist religions- und vor allem kirchenkritischer Feiertagsausgaben, macht es sich insofern erstaunlich einfach, als er den amtierenden Ratsvorsitzenden der EKD, den Berliner Bischof Wolfgang Huber, zu einem Essay unter dem Titel "Wie konnte Gott das zulassen?" animierte. Der dazugehörige Teaser lautete:

"Ausgerechnet am zweiten Weihnachtstag schlug die Natur mit unbändiger Gewalt zu. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, schreibt in SPIEGEL ONLINE, warum die Katastrophe in Südostasien nicht die Allmacht Gottes, wohl aber die Allmachtsvorstellungen des modernen Menschen in Frage stellt."

Nun enthält schon diese knappe Ankündigung mehrere Merkwürdigkeiten, die dennoch für den Stil des SPIEGEL relativ charakteristisch sind: Zum einen der mythisch-magische Rekurs auf den Weihnachtstag - so als ob an jedem anderen Tage das Ereignis nicht ebenso so schrecklich gewesen wäre und als ob Gott verpflichtet sei, wenigstens an Weihnachten für eine von Katastrophen freie Welt zu sorgen. Dann die personalisierte Rede von der "zuschlagenden Natur", die doch eine Art Subjekthaftigkeit der Natur unterstellt, welche etwa wegen des Raubbaus an ihr sich rächt, indem sie 300.000 Menschen tötet. Und schließlich der Rekurs auf die Allmacht Gottes, der doch in dieser zugespitzten Fragestellung zumindest voraufklärerisch ist. Ganz offensichtlich bleibt auch nach dem Geltungsschwund der neuzeitlichen Metaphysik Naturkatastrophen und das durch sie bedingte menschliche Leiden ein Skandalon für rationales und moralisches Denken, weshalb massenmedial weiterhin Zuflucht zu den traditionellen Fragestellungen der Theodizee gesucht wird.

Mich interessiert weniger die Argumentation von Bischof Huber als vielmehr die ungeheure Resonanz, die sie unter den im Internet aktiven SPIEGEL-Lesern ausgelöst hat. Denn auf den Essay von Huber gab es im Internet-Diskussionsforum des SPIEGEL unter der knappen Überschrift "Gibt es Gott?" von Januar bis August 2005 sage und schreibe 12.700 Beiträge und Statements. Es gibt so gut wie keinen anderen Diskussionsstrang im SPIEGEL-Forum, der so viele Leser-Reaktionen enthält. Begreift man derartige Internet-Foren als Agora, als virtuellen Platz, an dem über gesellschaftliche, kulturelle und damit auch über religiöse Fragen gestritten wird, so zeigt sich, dass im Blick auf die Frage des durch Naturkatastrophen verursachten Leidens erheblicher Diskussionsbedarf besteht. Erwartungsgemäß ist das Niveau der Diskussion äußerst wechselhaft - von simplen Hasstiraden auf Gott, die Religion und vor allem die Kirchen und ihre Vertreter über komplexe religionsphilosophische Äußerungen bis hin zu ebenso simplen religiösen Apologien findet sich nahezu alles.

Es scheint, als ob die SPIEGEL-Leser, zu deren favorisierten Beschäftigungen und kulturellem Selbstverständnis sicher auch die Kritik der Religion und der Kirche gehört, nur darauf gewartet hätten, anlässlich dieser Natur-Katastrophe ihre Meinung über die Religion und ihre gesellschaftliche (Nicht-) Funktion los zu werden. Die Diskussion dreht sich dabei selten um das konkrete Geschehen vor Ort, sondern in der Regel ganz allgemein um die Deutung des Leids in einer modernen Gesellschaft und die Gültigkeit verschiedener religiöser Tropen zur Bewältigung dieses Leids. "Abgesehen davon" - so schreibt einer im Forum -, "dass Gottglaube aus Sicht der allermeisten jungen Menschen etwas Archaisches ist, mit dem sie nichts anfangen können, verhindert die mediale Vielfalt heutzutage die geistige 'Einkerkerung', die für das langfristige Funktionieren einer auf dem Prinzip des Glaubens basierenden Werteordnung notwendig ist." Interessanterweise sind viele der Äußerungen eigentlich nur lebensweltliche Umformungen ursprünglich komplexerer philosophischer Bearbeitungen, sozusagen Sedimente kulturgeschichtlicher Überlieferungen. Äußerungen wie "Katastrophen wie diese beweisen jedoch die Launenhaftigkeit Gottes oder seine Nicht Existenz" oder "Wenn es einen Gott gibt, dann ist es sicher ein spielendes, sadistisches Kind. Nein Leute, freundet Euch endlich mit dem Nichts an und werdet erwachsen" unterscheiden sich kaum von entsprechenden Argumentationen des 19. Jahrhunderts. Wenn es eine Art Common sense im Forum gibt, dann die religionsphilosophische Einsicht, "dass Gott ein Konstrukt ist, um mit der Unbegreiflichkeit der eigenen Existenz besser zurecht zu kommen." Überhaupt keinen Konsens gibt es aber über die Frage, wie man das bewerten soll.

BILD-Zeitung

In Deutschlands größtem Boulevard-Blatt, dass sich angesichts der Tsunami-Katastrophe zunächst mit buchstäblich besinnungsloser parteipolitischer Polemik versucht hatte (Man erinnert sich vielleicht: Die grünen Gutmenschen als einflusslose und gescheiterte Gesprächspartner Gottes: "Mit wem verhandeln Sie da drüben, dass - klatsch - plötzlich 150 000 Menschen sterben? Es zeigt sich also, dass Sie als Grüne nichts zu sagen haben."), in der BILD-Zeitung also, macht ihr früherer Chefredakteur Claus Jacobi am 8. Januar unter der Überschrift "Wo war Gott?" tatsächlich einen - wie ich vermute ernst gemeinten - Versuch einer Theodizee im Bildzeitungsstil. Zunächst referiert Jacobi mit wenigen Worten die Geschichte der Theodizee, beginnend mit Epikur über Augustins Erbsündenlehre bis hin zur Aufklärung. Erst mit letzterer, so Jacobi, verschoben sich die Perspektiven: "Je verheerender die Unglücke, je gebildeter und eingebildeter die Menschen wurden, um so mehr Zweibeiner trauten sich Urteile zu." Zu den von Jacobi dabei namentlich genannten eingebildeten Zweibeinern gehören dann Voltaire, Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Wolfgang Borchert und Dorothee Sölle, weil sie alle Zweifel an der Möglichkeit einer Theodizee, also der "Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen der Welt gegen jene erhebt" (Immanuel Kant) geäußert hatten. Zweifel am Sinn der Welt und der Existenz Gottes sind aber nach Jacobi auch durch die größten Katastrophen und menschlichen Verbrechen wie etwa Auschwitz nicht angebracht: Denn "der Kern des Dilemmas (ist) nicht Gott, sondern die Anmaßung der Menschen, ihn mit ihren Maßstäben zu messen." Jacobis Vorschlag an die Bildzeitungsleser: Versucht angesichts dieser Katastrophe erst gar nicht darüber nachzudenken! Oder mit seinen eigenen Worten:

"Aber wenn es denn einen Schöpfer des Universums gibt, dann entziehen sich seine Dimensionen zwangsläufig den Kategorien des Denkens und der Sprache von winzigen Wesen, die auf einem von Milliarden Himmelskörpern hausen. Unsere Phantasie, unser Verstand und unsere Vokabeln vermögen Gott nicht einzufangen. Gott bleibt immer Sache des Glaubens, nicht der Logik. Wo war er, als die Flutwelle kam? Ein Mensch kann diese Frage nicht beantworten. 'Gott wäre etwas gar Erbärmliches, wenn er sich in einem Menschenkopf begreifen ließe', tröstet der weise Christian Morgenstern."

Und damit endet Jacobis Artikel. Was aber ist die massenmediale Botschaft, die Jacobi über BILD angesichts der Katastrophe zu kommunizieren sucht? Dass das Problem der Theodizee schon Jahrtausende alt ist? Dass noch niemand eine befriedigende Antwort gefunden hat? Dass auch Philosophen nicht weiter wissen? Und dass sich deshalb auch die BILD-Leser nicht den Kopf zerbrechen müssen? Jacobis Beitrag ist jedenfalls ein entschiedenes Plädoyer zum Nicht-Denken, die Zumutung, angesichts des Leidens den Kopf in den Sand zu stecken. Whatever is, is right.

"Medien ordnen ein, deuten, machen Probleme verständlich. Sagen uns, was wir tun sollen, wenn wir uns nach einer Katastrophe wie dieser nicht sicher sind, wie wir uns verhalten sollen" hatte Jo Reichertz zur Funktion der Massenmedien in dieser Situation gesagt. Medien wie die BILD-Zeitung haben laut Reichertz einen Appell an ihr Publikum gerichtet: Die Weltgemeinschaft muss zusammenrücken, ethisch-moralisch handeln und sich an ihre Werte erinnern. Bei der BILD-Zeitung ist nicht viel mehr als eine Trivialisierung von Philipper 4,7 (Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu!) herausgekommen.

DIE ZEIT

In der Wochenzeitschrift DIE ZEIT hat sich im Januar 2005 Jörg Lau in der Rubrik "Leben" und der Unterrubrik "Besinnung" unter der doppeldeutigen Überschrift "Höhere Gewalt" des Themas angenommen. Seine Fragestellung: "Nach dem Tsunami und den Terroranschlägen der letzten Jahre ist eine uralte Menschheitsfrage wiedergekehrt: Sind wir dem Schicksal gegenüber ohnmächtig?" Seine Ausführungen kommen der Komplexität des Themas in der gesamten medialen Rezeption vielleicht noch am nächsten, sind aber auch von einer merkwürdigen Ambivalenz getragen. Lau schreibt zunächst:

"Gelernt zu haben, diese beiden Reihen auseinander zu halten - also das natürliche Übel vom menschengemachten Bösen zu scheiden -, war einst der Stolz des aufgeklärten Zeitalters. Die Welt wurde dadurch weniger unheimlich, und Gott wurde von der Verantwortung für das Böse entlastet. Man konnte von nun an weiter an ihn glauben und ihn mit lästigen Nachfragen über Hungersnöte und Erdbeben verschonen. Katastrophen wurden gewissermaßen moralisch entleert, indem man sie durch wissenschaftliche Erklärungen naturalisierte. Sie waren nun keine Strafen eines rätselhaften, zürnenden Gottes mehr, sondern Fälle für die Statistik - bedauerliche Ereignisse, die nach technischen Lösungen riefen und allenfalls nach einer Haltung humaner Resignation, falls es keine Lösung gab. Es kam nicht mehr darauf an, sie zu deuten, sondern das Leben auf sie einzurichten in der richtigen Mischung aus technischem Pragmatismus, menschlicher Solidarität und philosophischem Stoizismus. Zu dieser patenten Bewältigungsstrategie, die von den führenden Denkern der Epoche nach dem Lissabonner Erdbeben von 1755 entwickelt wurde, haben wir bis heute keine gute Alternative."

Tatsächlich entspricht diese Beschreibung dem, was auch jeder aufgeklärte Theologe und natürlich jeder säkulare Mensch in der Gegenwart im Blick auf Naturkatastrophen und die Theodizeefrage sagen würde. Aber dann fügt Lau dieser ziemlich präzisen Beschreibung noch hinzu: "Allerdings funktioniert ihre Beruhigungswirkung angesichts der neuesten Gefahren immer schlechter". Und so wechselt er ausgerechnet am Beispiel der Naturkatastrophe vom Dezember 2004 von der Theodizee zur Anthropodizee:

"Und selbst der Tsunami, dessen Ursprung sich geologisch erklären lässt, entfaltet seinen ganzen Schrecken erst aufgrund eines bestimmten Siedlungs- und Reiseverhaltens in der globalisierten Welt. Auch wenn man ihn, wie die meisten Menschen, als ein im Kern sinnloses und zufälliges Ereignis sieht: Seine Auswirkungen werfen doch ein Licht darauf, wie wir die Welt eingerichtet haben. Es ist geradezu, als würde die gleichmacherische Brutalität dieser Naturkatastrophe, die das Fischerdorf und das exklusive Strand-Ressort zugleich auslöscht, die Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit der Weltgesellschaft mit all ihren moralischen Paradoxien umso schärfer hervortreten lassen."

Die Formulierung "wie wir die Welt eingerichtet haben" deutet letztlich auf eine unterstellte Mit-Verantwortlichkeit des Menschen für die Katastrophe oder doch zumindest für ihre eingetretenen Folgen.

Dementsprechend kritisierte Jo Reichertz die sich darin vollziehende symbolische Überhöhung der Flut. Der Zuschauer, so meint er, habe zu Unrecht das Gefühl bekommen, dass es sich um ein Ereignis jenseits des Normalen handle und dass dies etwas mit Schuld zu tun habe. Einer Schuld an einem teilweise nicht vorhandenen Frühwarnsystem für Tsunamis, einer Schuld aber auch an der Armut vor Ort. Schließlich sei sogar das Gefühl geweckt worden, dass es sich bei der Katastrophe um eine Strafe für unrechtes Tun des Westens gehandelt habe.

Warum aber ist die angezielte Beruhigungswirkung der aufklärerischen Beantwortung der Theodizeefrage immer schlechter zu erreichen? Was leistet Religion funktional, was für die sich als religiös distanziert Verstehenden eben eine Leerstelle bleibt? Ernst Bloch hat in seiner Schrift „Atheismus im Christentum“ die nicht erledigten Fragen benannt:

"Ein fühlloses Universum bleibt, ein mit den menschlichen Zweckreihen noch weithin unvermitteltes; ist auch nicht Anklage die uns gebliebene Reaktion, so mindestens riesiges Fragen, riesig negative Verwunderung … Hiobs Fragen sind derart mit seinem Auszug aus dem scheinbaren Gerechtigkeits-Jachwe nicht ganz beantwortet. Sie bleiben transportiert, transformiert, auch vor starrmachendem Gewittersturm, auch vorm Schweigen der Welt ganz ohne Jachwe. Die einfachste Lösung der Theodizee ist also nicht nur die: que dieu n'existe pas; denn dann tauchen die Fragen an den für uns ganz fühllosen, finster-gesprenkelten Weltgang selber auf und die schwierige Materie, die sich in ihm bewegt. Die einfachste Art ist die, dass es in der Welt immer wieder einen Auszug gibt, der aus dem jeweiligen Status herausführt, und eine Hoffnung, die sich mit der Empörung verbindet, ja die in den konkret gegebenen Möglichkeiten eines neuen Seins fundiert ist."

Die massenmediale Deutung des Leids in der Naturkatastrophe

Wenn das, wofür früher die Kirchen zuständig gewesen sind, sich heute in Zeitungen und im Fernsehen abspielt, was sagt dann der Umgang der großen Printmedien mit dem durch die Katastrophe ausgelösten Leid? Zunächst ergibt sich im Blick auf die Deutung kein einheitliches Bild. Bemerkenswert aber ist, wie stark die Printmedien dazu neigen, die konventionellen religiösen, philosophischen und religionsphilosophischen Antworten zu repetieren, ohne eigene oder gar neue Schlussfolgerungen aus der überlieferten Diskussion zu ziehen. Der SPIEGEL zieht gleich einen Theologen zu Rate, die BILD-Zeitung rät zum Verzicht auf Erklärungen zugunsten der Souveränität Gottes und die ZEIT räumt zumindest die Möglichkeit eines Mitverschuldens des Menschen ein und substituiert so zum teil die Theodizee durch die Anthropodizee. Ingesamt werfen alle aber mehr Fragen auf, als dass sie zur Deutung des Geschehens befähigen. Anfangs hatte ich den Verdacht, dass es auch massenmedial so etwas wie eine Abfolge von Theodizee, Anthropodizee und Mediodizee gibt, also eine historische Abfolge von der Anklage und Verteidigung Gottes über die Anklage und Verteidigung der Menschen hin zur Anklage und Verteidigung der Medien, entsprechend der Beschreibung Jochen Hörischs von einer Abfolge der Konversionsmedien Hostie, Münze und CD-ROM.

"Abendmahl, Geld und elektronische Medien sind die aufeinanderfolgenden und einander überformenden, mittlerweile vergleichsweise friedlich koexistierenden Leitmedien unserer Kultur. Gemeinsam ist ihnen vieles und in erster Linie, dass sie systematisch die Logik des Seins und die des Sinns beziehungsweise der Zeichen aufeinander beziehen. Abendmahl, Geld und elektronische Medien ermöglichen Zugänge zu der knappen Ressource Sinn." (Hörisch 2001: 211)

Trotzdem lässt sich meines Erachtens zeigen, dass nicht jedes Thema sich in eine Abfolge einander überformender Leitmedien einarbeiten lässt. Die massenmediale Bearbeitung der Frage des Leids, geschieht in der Regel durch Einordnung in den traditionellen Rahmen, in der inhaltlichen Rückbindung des letzten Leitmediums an das erste Leitmedium. Ganz offensichtlich gilt, dass menschliches Leiden ein Skandalon auch für die Neuen Medien bleibt. Kritisch ist daher gegen die These von der neuen Aufgabenverteilung zwischen Religion und Neuen Medien einzuwenden, dass die Medien vielleicht bestimmte appellative Funktionen der Kirche übernommen haben, ihre Botschaft und Antworten im Blick auf das Leid aber zumindest aktuell noch die traditionellen sind. Insoweit erweisen sich die Neuen Medien tatsächlich (nur) als Konversion der alten.

Literatur

  • Kant, Immanuel. 1793. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kant-Werke Bd. 8, S. 728, Anm. 26
  • Hörisch, Jochen. 2001. Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien , Frankfurt: Eichborn
  • Thomas, Günter. 1998. Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens. Frankfurt: Suhrkamp
  • Huber, Wolfgang. 2004. Wie konnte Gott das zulassen? http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,335111,00.html (30.12.2004)
  • Reichertz, Jo. 2004. Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk (www.ard.de/kultur/sonstiges/-/id=171948/nid=171948/did=237614/3uz6n1/index.html)
  • Schnädelbach, Herbert. 2005. Wiederkehr der Religion. DIE ZEIT 33

Zuletzt bearbeitet 28.12.2005
© Andreas Mertin