Thom Barth: Ein-Bruch im Leib Christi

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 1/2007]

2002 hat sich der Künstler Thom Barth (*1951) im Rahmen der kirchlichen documenta-Begleitausstellung „Der freie Blick. Künstlerische Interventionen in den religiösen Raum“ auf eine ganz besondere Art und Weise dem „Corpus Christi“ genähert. Er hat den Raum der Kirche körperhaft interpretiert, hat sich unter dem Titel „RED LOOM: 8. Himmel – 7. Stellung“ an der Symbolik der Christusanthropomorphie des Kirchenbaus abgearbeitet.

Wer sich während der Documenta11 der Kirche näherte, stieß neben einem grünen Baugerüst, das zur Renovierung der Kirchtürme angebracht war, auch auf ein Ge­rüst mit roten Folien, das auf dem Vorplatz der Kirche stand und auf etwa vier bis sechs Meter Höhe direkt an eines der großen Kirchenfenster heranführte. Wer das Gerüst betrat, stellte zunächst fest, dass die ro­ten Folien mit einer Fülle unterschiedlicher Alltagsmotive be­druckt waren – von Werbefotos über Kunstdrucke bis zu Kalendermotiven ein komplexes Zeichen- und Verweissystem. Der Blick von innen nach außen wurde so rosarot eingefärbt, zugleich war er immer durch alltägliche Motive gebrochen bzw. fokussiert. Wer die Treppenstufen innerhalb des Kunstwerks auf die zweite Ebene hinaufstieg, stellte fest, dass das Gerüst keinesfalls vor dem Kirchenfenster endete, sondern durch es hindurch in das Kircheninnere – sozusagen in den Leib Chri­s­ti – führte.

Das Kirchenfenster – das ja in der Bautradition des Mittelalters eine besondere theologische Bedeutung hat­te und um das zwischen verschiedenen kirchlichen Richtun­gen wie den eher triumphalen Kluniazensern und den reduzierten Zisterziensern heftig gestritten wurde - ist zur Hälfte ausgebaut worden, so dass eine Öffnung, ja eine Wunde in der Kirchenwand entstanden ist, durch die der Besucher mittels des Gerüststeges das Kirchenschiff betreten kann. Eingehüllt in die rote Farbigkeit der Folien und des Bodens schwebt er in etwa fünf Meter Höhe über dem Kirchenboden.

In der Kirche selbst wurde das Objekt aus der ganz „nor­malen“ Perspektive eines Besuchers als ein über den Köpfen schwebender roter Keil im Kirchenschiff wahrgenom­men, keineswegs bedrohlich, aber doch ziemlich ungewohnt und daher kommentarbedürftig. Es war ein Einbruch in das Raumgefüge, ein roter Solitär, der in den hohen hellen Kirchenraum ragte. Man kann diesen Einbruch ins Kirchenschiff unterschiedlich deuten und erfahren. Relativ abstrakt blieb die Erfahrung, wenn man die Realität der Verletzung und der eintretenden Veränderung der Perspektive nicht wahrnimmt. Zeige Deine Wunde, was schon Josef Beuys 1974 zu einer räumlich verdichteten Metapher ausgearbeitet hat, galt hier verschärft.

Kunsthistorisch gibt es keine wirklichen Vor-Bilder für diese Installation. So gab es zwar Bilder, auf denen Figuren im Raum in architektonischer Disproportionalität skizziert wurden, wie wir es bei Jan van Eycks „Madonna in der Kirche“ finden, wo Maria mit dem Kind nahezu das gesamte Kirchenschiff ausfüllt. Die ganz reale Wunde aber, die Thom Barth der Kirchenmauer zufügte, verweist auf mehr als nur eine zeichenhafte Durchbrechung der räumlichen Struktur einer Kirche. Theologisch wird man daher auf Johannes 19, 34 („sondern einer der Soldaten stieß mit dem Speer in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus“) und Johannes 20, 24ff. („... reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“) Bezug nehmen können, die vom menschlichen Wunsch nach der nachprüfbaren Leiblichkeit des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu zeugen. Thom Barths moderner Ein-Bruch in den Leib Christi wiederholt einen Gestus, der seit langem in die Geschichte des Christentums eingeschrieben ist. Denn seit dem 14. Jahrhundert lässt sich in der kirchlichen Baugeschichte nachweisen, dass die Architekten den Grundriss der Kirchen mit dem Körper Christi identifizierten (in der berühmten Ebstorfer Weltkarte ist dieses Prinzip auf die gesamte bekannte Welt übertragen).

Religionspädagogisch kann man diesen Einbruch in den Leib Christi daher als Verletzung und Bestätigung religiöser Regeln deuten. Indem die schützenden Mauern der Kirche durchbrochen wurden, wurde der Raum der Kirche zu­gleich in seiner ursprünglichen Bedeutung (als Leib Christi) neu erfahren. Für die Schülerinnen und Schüler geht es zunächst darum, zunächst die Möglichkeit der Deutung christlicher Kirchen als Leib Christi zu vergegenwärtigen, um dann den Ein-Bruch durch den Künstler als Bewusstmachung dieser Erfahrung begreifen zu können.

Zuletzt bearbeitet 10.11.2008
© Andreas Mertin