Ai Weiwei: Template  

Oder: Das Verhältnis von Kunst und Natur, Ordnung und Chaos

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 2/2007]

Verfolgt man die aktuelle documenta XII, so kann man den Eindruck haben, dass zum ersten Mal die Natur als künstlerische Gestalterin ins Bewusstsein der Öffentlichkeit tritt. War es zunächst das nicht blühen wollende Mohnfeld vor dem Fridericianum, dann der vor sich hin dümpelnde Reisanbau vor der Gemäldegalerie Wilhelmshöhe, der zudem noch das Schloss zu unterspülen drohte, so war es schließlich der Wettersturm, der eines der zentralen Kunstwerke dieser documenta zum Einsturz brachte. Ai Weiweis den Aue-Pa­vil­lon überragende Arbeit „Template“ (Schablone) überstand nur ganze vier Tage der documenta, bevor ein Orkan das fragile Werk hinwegfegte. Nun kann man sich fragen, ob der Einsturz des Werkes nicht von vorne herein beabsichtigt war, ob also das scheinbare Chaos nicht Ergebnis einer geordneten Strategie war. Dem Vernehmen nach hätte das Kunstwerk schon etwas stärkere Windböen kaum überstanden. Der spektakuläre Fall des Tores zum Himmel war also absehbar. Zutrauen würde man den Künstler Ai Weiwei das jedenfalls.

Ai Weiwei ist einer der führenden Konzeptkünstler der Volksrepublik China. Er ist auch als Kurator und Designer von Architektur bekannt. Von 1981 bis 1993 lebte er in den USA, vor allem in New York, und beschäftigte sich in dieser Zeit vor allem mit Performance-Kunst und Konzeptkunst. 1993 kehrte er wieder nach Peking zurück, wo er auch heute lebt. An der documenta 12 ist Ai Weiwei mit mehreren Kunstwerken beteiligt, etwa mit der Einladung von 1001 Chinesen in die documenta-Stadt Kassel, mit 1001 alten chinesischen Holzstühlen und eben mit dem zwölf Meter hohe Turm „Template“ aus Holztüren und Fenstern von im Zuge des Bau-Booms in China zerstörten Häusern der Ming- und Qing-Dynastie.

Nun ist die Assoziationenkette äußerst reich, die sich mit dem Kunstwerk „Template“ verbindet. Denken kann man an die Vernichtung traditioneller Kulturwerte im Zeichen des scheinbar unaufhaltsamen globalen Fortschritts, an die dadurch notwendig werdende Bewahrung menschlicher Schöpfungen oder auch an den interessanten Kulturaustausch, der stattfindet, wenn Kulturgüter aus anderen Teilen dieser Erde nach Deutschland importiert werden. Hellmuth Karasek assoziierte in der Berliner Morgenpost den schiefen Turm von Pisa, plausibler wäre aber der Turmbau zu Babel gewesen, der als Symbol menschlicher Fortschrittsideologie und menschlicher Kulturleistung zugleich einschlägig ist. Nach dem Orkan legt sich aber auch die Verknüpfung mit den Gottesreden aus dem Wettersturm nahe, die vom Verhältnis von Chaos und Ordnung handeln (Hiob 38, 4-11. 22-30. 34-38).

Ich schlage für den Religionsunterricht jedoch vor, neben die Erörterung des ursprünglichen Kunstwerks von Ai WeiWei (und seinen kulturellen Implikationen) auch das Ergebnis des Wettersturms von Kassel zu betrachten und es in Beziehung zu setzen mit dem berühmten Kunstwerk „Das Eismeer“ des Romantikers Caspar David Friedrich (Die verunglückte Hoffnung. 1823/24, Öl auf Leinwand, 96,7 × 126,9 cm. Kunsthalle Hamburg) sowie mit einem Zitat von Immanuel Kant:

„… am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einher ziehend, … Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, … machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“

Während im 18. Jahrhundert das Erhabene nur noch einen angenehmen Schauer auslösen sollte, verliert der Betrachter bei Caspar David Friedrich und in der Konfrontation mit dem Kunstwerk von Ai Weiwei diese Sicherheit angesichts der Gewalt einer Natur, wie sie im Eismeer aber auch im Wettersturm deutlich wird. Statt schaurig-schöner Erhabenheitsinszenierungen entstehen eindringliche Dokumente kaum ertragbarer Grenzerfahrungen. Das Meeresufer / die Karlsaue wird zur Bühne der metaphysischen Angst. Zumindest dem Verfasser, der beim Einsturz des Kunstwerks von Ai Weiwei sich im unmittelbar daneben gelegenen Aue-Pavillon befand, ging es so.

Zuletzt bearbeitet 10.11.2008
© Andreas Mertin