Christus nach Grünewald

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 1/2008]

Friedemann Hahn, Christus nach Grünewald, Öl/Lwd., 1989, 140X120 cm

Kräftige, wilde, breite Pinselstriche, ein scheinbar wüstes, chaotisches Durcheinander, ein Gegeneinander, aber auch Miteinander der Farben Schwarz und Rot, Malgesten, die sich überlagern und wieder auseinander treten. Ein heller Hintergrund, vor dem sich die expressiv anmutende Pinselführung verdichtet zu Linien und Konturen und schließlich zum Bild wird. Der Blick fährt über das Bild, folgt den Strukturen, dringt durch die Farbschichten, verharrt bei Schwerpunktsetzungen und Leerstellen. Der Bildeindruck verfestigt sich zu einem Motivs, im Durcheinander wird Ordnung sichtbar. Der Betrachter erkennt im Gewirr der Linien einen menschlichen Kopf, tiefe, schwarze Augenhöhlen, einen Mund, das Kinn, vielleicht auch einen Bart sowie Andeutungen der Schultern. Der obere Teil des Kopfes ist von starken schwarzen, gegeneinander stehenden Pinselstrichen überlagert. Immer wieder durchbrechen einzelne der Pinselstriche den Gestaltaufbau, es scheint, als sei eine Gestalt nachträglich übermalt worden: den Hintergrund bildet das Gesicht mit einer blass-grau-schwarzen und eher skizzenhaften Pinselführung, darüber sind rote Striche gesetzt worden, welche wiederum von kräftigen schwarzen Strichen korrigiert werden. Dabei wirkt das Bild nur auf den ersten Blick ungestüm, die Kontrastierung von schwarzer Linienführung, die letztlich die Gestalt schafft, und den durchschießenden, durchkreuzenden, das Angesicht umrahmenden roten Farbspuren, verleiht dem Motiv zugleich einen eher verletzlichen, fragilen Ausdruck.

Der Künstler, Friedemann Hahn, ist in den 70'er-Jahren bekannt geworden durch Ölbilder berühmter Kinopaare - etwa Marilyn Monroe und Joseph Cotton, Humphrey Bogart und Lauren Bacall, Marlene Dietrich und Anna May Wong. Eine andere Werkgruppe bezieht sich auf das Werk von Vincent van Gogh. Hahn kommentiert die Handschrift des ‚Kollegen’, er re-aktualisiert sie, rettet sie vor der Verkitschung. Friedemann Hahn geht es um die Kunst des Werkes: "Im Bild selbst gibt es nur die Realität des Bildes", meint er, "nur die Realität der Malerei. Es gibt keine Materialität außer der Farbe. Es gibt keine Struktur außer der des Pinsels oder des Fingers." Die Struktur des Pinselstrichs, die schon van Goghs Bilder charakterisierte, nimmt Hahn unter die Lupe, er akzentuiert sie und macht sie von einem Mittel zu einem Thema der Bildgestaltung.

Friedemann Hahns Arbeiten können als ein "Dialog mit dem Anderen" verstanden werden. Sein Christuskopf nach Grünewald ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein "Dialog". Deutlich dürfte nun sein, was einen Teil der Vertrautheit des Bildes ausmacht. Jene unterste Bildschicht, die das Motiv setzt, zeigt nicht ein beliebiges Porträt, auch nicht jenes, das uns der Titel vorzugeben scheint, sie zeigt vielmehr ein Selbstporträt van Goghs. August Heuser schrieb dazu: "Von der Grünewaldschen Bild- und Formidee ausgehend, hat Hahn das Christusbild variiert und mit einem zentralen Bildmotiv seiner Arbeit - der Person Vincent van Gogh - kombiniert. Es ist sicher kein Zufall, dass Friedemann Hahns Van-Gogh-Bilder häufig mindestens in die Nähe von Christusbildern gerieten". Friedemann Hahn analysiert, wie Christus als van Gogh nach Grünewald aussieht, was sich verändert, was im und mit dem Bild geschieht. Ist vielleicht die Arbeit des Malers Grünewald so vertraut, dass sie schon gar nicht mehr wahrgenommen wird? Und wie reagieren Betrachter, wenn ein Künstler die zur Ikone geronnene Darstellung verfremdet, übermalt, den Pinselstrich in den Vordergrund holt? Schreien wir auf und sagen, nein, das ist nicht "Christus" und schon gar nicht "... nach Grünewald"? Die Zusammenschau der drei Alltagsmythen "Christus - Grünewald – van Gogh" irritiert unsere Wahrnehmungsweise, sie lässt fragen, was wir bisher am Christus wahrgenommen haben und was wir hätten sehen können, wenn wir ästhetische Gesichtspunkte eingebracht hätten.

Im Unterricht kann es darum gehen, anhand des Bildes (und ergänzend anhand der Arbeit ‚hommage an meister mathis“ von Günter Scharein, die in „Religion unterrichten 2/2005“ vorgestellt wurde) den Wandlungen des Christusbildes seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts nachzugehen. Es ist u.a. eine Frage danach, was wir eigentlich von der Arbeit der Künstler wahrnehmen, wenn wir ein Christusbild betrachten.

Infos:
http://www.friedemann-hahn.de/  (Homepage des Künstlers)
http://www.vggallery.com/painting/main_se.htm (Selbstporträts van Goghs)
http://de.wikipedia.org/wiki/Isenheimer_Altar (Zum Isenheimer Altar)

Zuletzt bearbeitet 30.01.2010
© Andreas Mertin