Geben und Nehmen: Zum Tauschgeschäft des Lebens

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 1/2009]

Robert Rauschenberg, Black market, 1961, 152x127 cm, Mixed Media, Köln Museum Ludwig

Ein Kunstwerk in zwei Teile geteilt: der größere obere Teil ist annähernd quadratisch, der untere Teil besteht aus einem Koffer. Hervorstechendes Merkmal des oberen Teils ist ein Verkehrsschild mit der Aufschrift ONE WAY. An der Spitze des Schildes ist eine Schnur befestigt, die zum Koffer am Boden führt. Das Bild wird in der Mitte horizontal geteilt durch vier Metallklemmplatten, jeder dieser Platten ist eine Zahl zugeordnet. Über der ersten Zahl steht das Wort BOOK. Links unten findet man ein Autokennzeichen des amerikanischen Bundesstaates Ohio, daneben einzelne Farb- und Metallfragmente sowie größere Übermalungen. Zwischendurch ein Metallfragment, auf das vier abgenutzte Visitenkarten montiert sind. Vom Koffer ist nur wenig zu erkennen. Es ist ein dunkler abgenutzter Kasten, vorne ein Griff, zwischen Kofferdeckel und Kofferboden eine Kette.

Der Künstler des Werkes ist Robert Rauschenberg. Er wurde am 22. 10. 1925 in Port Arthur, Texas, geboren. Rauschenberg ist einer der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts. In seinen Combine paintings werden verschiedene Gebrauchsgegenstände oder Abfallstoffe nach den Gesetzen des Zufalls mit traditioneller Malerei kombiniert und erzielen zugleich eine Irritation des Betrachters. Indem der Künstler: „demonstriert, dass alle Materialien gleichermaßen als künstlerisches Element annehmbar sind, ... hat Rauschenberg die Möglichkeiten dessen, was Malerei sein kann, erweitert, ... hat er erfolgreich die Kluft zwischen Kunst und Leben überbrückt.“ (W. Sharp)

Auf der Rückseite des Kunstwerks gibt es eine Anweisung: „Befestige das Seil vom Gemälde am Koffer; während der Ausstellung sollte das Stempelkissen gefüllt sein, die Bleistifte sollten gespitzt sein und der Koffer geschlossen, bis ihn jemand öffnet. An einer Kordel hängt am Bild eine mehrsprachige Gebrauchsanweisung für die "Benutzung" der Arbeit durch den Zuschauer. Er soll eines der vier Objekte, die sich im offenen Kasten unter dem Bild befinden, mit einem beliebigen Ding, das er mit sich trägt (Eintrittskarte, Taschentuch usw.) umtauschen. Die Objekte in dem Kasten sind gestempelt mit den Zahlen 1, 2, 3 und 4. Entsprechende Stempel und ein Stempelkissen sind ebenfalls in dem Kasten vorhanden. Man kann Objekt 1, 2, 3 oder 4 wegnehmen und sie gegen neue Objekte umtauschen. Es wird gebeten, das neue Objekt mit der richtigen Nummer zu stempeln und es in dem Buche mit derselben Nummer ... einzuzeichnen.“ Wir erfahren dadurch etwas über die Gegenstände im Koffer, die uns zunächst verborgen geblieben waren, sowie über die Funktion der vier Klemmplatten. Im Koffer befinden sich Bleistifte, ein Stempelkissen, vier Stempel mit den Zahlen 1-4 sowie vier nicht näher bezeichnete Objekte. Unter den metallenen Deckeln der Klemmplatten finden sich Verzeichnisse der Gegenstände, die unter der betreffenden Nummer jeweils eingetauscht wurden. Die Arbeit dient also dazu, den Be­trachter aus seiner passiven Rolle zu befreien und ihn in den Entstehungsprozess des Werkes mit einzubeziehen. Durch den "Umtausch" und die entsprechenden Eintragungen wird das Werk ständig verändert. Von diesem Vorgang her hat das Werk seinen Titel: Black market = Schwarzmarkt.

Religionspädagogisch schlage ich vor, das Kunstwerk als komplexe Metapher zu begreifen, die mit den Konnotationen von Beteiligung, Austausch, Veränderung, Geben und Nehmen arbeitet. Die Fragestellung lautet: Was wäre, wenn das Kunstwerk ein Sinnbild für unser Leben wäre? Zunächst sollten die Schülerinnen und Schüler das Bild wahrnehmen und erschließen. Was lässt sich alles sehen, was ist überraschend, was reizt zur näheren Erkundung?

Vielleicht könnte man das Kunstwerk danach im Klassenraum simulieren – eine Zeichnung an der Tafel, eine Kiste am Boden. Nach der Lektüre der Anleitung könnte man den Vorgang durchspielen: also die Kiste öffnen, Dinge tauschen und auf der Liste eintragen. Was geschieht im Verlauf dieses Schwarzmarktes? Werden die Gegenstände immer billiger, werden sie wertvoller, werden sie interessanter oder trivialer? Nach dem Experiment sollte man versuchen, das Ganze unter dem Aspekt der Metapher zu deuten: Ist das Leben ein ständiges Geben und Nehmen?

Biblische Bezugsstellen könnten Jesus Sirach 4, 31 (Deine Hand sei nicht ausgestreckt, wenn es ums Nehmen geht, / und eingezogen, wenn es ums Zurückgeben geht.) und Apostelgeschichte 20, 35 sein (In jeder Hinsicht habe ich euch gezeigt, dass man sich so abmühen und der Schwachen annehmen muss, eingedenk der Worte, die Jesus, der Macht über uns hat, selbst sagte: ›Es ist ein größeres Glück, zu geben als zu empfangen.‹).

Zuletzt bearbeitet 30.01.2010
© Andreas Mertin