Die Kultur der Freiheit setzt eine Auseinandersetzung mit Bindungen voraus!

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 1/2010]

Thomas Kroll:
Du bist protestantischer Theologe und tätig im Bereich Kunst und Kultur. Welchen Stellenwert hat für Dich Bindung, welchen Freiheit, wenn es um religiöse Sozialisation geht?

Andreas Mertin:
Es ist immer schwer, Relationen wie Bindung und Freiheit präzise zu bestimmen. Wie viel Bindung braucht man, wie viel Freiheit kann man in Anspruch nehmen und wie viel Bindung geht man ein, indem man Freiheit in Anspruch nimmt? Antworten darauf hängen immer von Zeitumständen ab. In welcher Kultur leben wir und was bedeutet in ihr Bindung und was Freiheit? Vielleicht kann man die Kultur der Authentizität als eines der Charakteristika unserer Zeit ansehen. Wir sind heute herausgefordert, uns selbst zu bestimmen.  Der Philosoph Charles Taylor beschreibt diese Mentalität in seinem Buch „Das Unbehagen an der Moderne“ so: „Jeder habe das Recht, seine eigene Lebensweise zu gestalten und sich dabei auf sein eigenes Gefühl für das wirklich Wichtige oder Wertvolle zu stützen. Man sei aufgefordert, sich selbst treu zu bleiben und nach Selbstverwirklichung zu streben. Worin diese Selbstverwirklichung besteht, müsse jeder einzelne in letzter Instanz eigenständig herausbekommen. Kein anderer könne oder solle Vorschriften über den Inhalt der Selbstverwirklichung machen.“ Das ist die Authentizitätskultur, auf die wir gerade auch im Rahmen von religiösen Bildungsprozessen stoßen. Dort lautet sie: Ich lasse mir von (m)einer Kirche nicht vorschreiben, wie ich leben soll, ich bestimme mein Leben selbst – in aller Freiheit. Aber, auch darauf weist Taylor hin, diese Haltung hat Folgen: „Sobald wir begreifen, was es heißt, sich selbst zu definieren und zu bestimmen, worin die eigene Originalität besteht, erkennen wir, dass wir ein Gefühl für das, was Bedeutung hat, im Hintergrund voraussetzen müssen.“ Er nennt dies den unentrinnbaren Horizont und fügt hinzu: „Wollte ich ... die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft, die Forderungen der Solidarität und überhaupt alles ausklammern, was ich nicht in meinem eigenen Inneren vorfinde, so würde ich alles ausschließen, worauf es möglicherweise ankommen könnte. Nur wenn ich in einer Welt lebe, in der die Geschichte, die Forderungen der Natur, die Bedürfnisse meiner Mitmenschen, die Pflichten des Staatsbürgers, der Ruf Gottes oder sonst etwas von ähnlichem Rang eine ausschlaggebende Rolle spielt, kann ich die eigene Identität in einer Weise definieren, die nicht trivial ist.“ Dass heißt, gerade eine Kultur der Freiheit – für die ich selbstverständlich eintrete – setzt eine Kenntnis und Auseinandersetzung mit Bindungen voraus, damit ich begründet Ja oder Nein zu ihnen sagen kann und mich so authentisch selbst bestimmen kann.

Ist Beliebigkeit völlig abzulehnen oder auch notwendig im Rahmen von „Wachsen“ und “Reifen“? Braucht nicht auch Kunst Beliebigkeit?

Ich glaube, dass es so etwas wie „Beliebigkeit“ im engeren Sinne gar nicht gibt. Wir leben immer in Relationen und Bindungen, die wir nur sehr begrenzt variieren können. Dass heißt, wir können uns zwar in aller Regel für etwas anderes entscheiden, als wir es bisher getan haben, aber nicht für Beliebiges. Am Beispiel der Kunst: Wäre Kunst beliebig, würden wir sie gar nicht als solche erkennen. Nur in Anknüpfung und Widerspruch an die bisherige Kunst kann sich Kunst entwickeln. Ähnliches dürfte für religiöse Identitäten gelten. Man kann sich keine beliebige religiöse Identität zulegen, sondern nur unter den angebotenen Möglichkeiten eine auswählen und diese variieren und weiter entwickeln. Das mag dann einem Außenstehenden beliebig erscheinen, folgt aber in aller Regel einer bestimmten Logik. Willkürlichkeit dagegen gibt es und sie stellt sich als der Versuch dar, sich der argumentativen Rechtfertigungsbedürftigkeit seines (religiösen) Handelns und Verhaltens zu entziehen. An die Stelle der Willkürlichkeit sollte das bewusste Probehandeln treten, dass dann aber auch über die Erfahrungen beim Probehandeln Rechenschaft gibt.

Wie  beurteilst Du den aktuellen Religionsunterricht? Wie müsste er sich im Hinblick auf die Erfahrungen von Freiheit und Bindung verändern? Was sollten seine Ziele sein?

Religionsunterricht ist bis in die Gegenwart oft verstanden worden als eine bestimmte und bestimmende Form der Religionsvermittlung. Es gab ein durch Lehrpläne vermitteltes Setting, welches den Schülerinnen und Schülern beigebracht werden sollte. Wenn wir aber davon ausgehen, dass Schülerinnen und Schüler vom ersten Schultag an immer schon in religiösen Deutungs- und Aneignungsprozessen leben, dann geht es mehr darum, diese in gemeinsamen Gesprächen zu entwickeln. Um noch einmal Taylor aufzugreifen:  Aufgabe des Unterrichtenden wäre, im Gespräch mit Jugendlichen den unentrinnbaren Horizont aller religiösen Identitätsbildung einzubringen – nicht, damit die Jugendlichen diesen übernehmen, sondern, damit die Jugendlichen für sich begründet dazu Ja oder Nein sagen und sich dazu verhalten können. Selbstverständlich geht es im Religionsunterricht auch um die elementaren Kenntnisse einer Religion (wie es im Kunstunterricht auch um die elementaren Kenntnisse aus der Kunstgeschichte geht), aber daneben muss eben auch die Fähigkeit treten, in Auseinandersetzungen mit den Bindungen (dem Horizont) eine eigene, freie Haltung zu entwickeln.


Zit. Literatur:

Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt 1995

Zuletzt bearbeitet 12.06.2010
© Andreas Mertin