Arnulf Rainer. Christus als Künstler

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 2/2010]

Arnulf Rainer, Christ-König, Foto-Übermalung 50 x 65 cm

"Seht, der Mensch!" - Worauf blicken wir, wenn jemand heute das Pilatus-Wort "Ecce homo" verwendet? Lässt sich an diese Äußerung noch etwas allgemein Verbindliches anschließen, oder sind die Schlussfolgerungen, die an das "Ecce homo" geknüpft werden, so unvereinbar widerstreitend, dass man nur ihre Vielfalt bestaunen, bzw. an ihr verzweifeln kann? Pinchas Lapide, der jüdische Theologe und Religionswissenschaftler, konstatiert eine schier unerschöpfliche Zahl christlicher Jesusbilder: "Da ist der jugendliche Hirte der altkirchlichen Katakombenkunst neben dem zarten Christkind in den Weihnachtskrippen, der siegreiche Kaiser-Gott der byzantinischen Mosaiken, gefolgt vom Weltenrichter auf den Portalen der romanischen Kathedralen, und gleich danach: der sentimentale Menschenfischer des Spätbarocks, der realistische Schmerzenmann in Dürers Gemälden, der am Kreuz thronende Christ-König der spanischen Hofmaler, der aufklärerische Popular-Jesus der Salonportraits, aber auch der kraftlos sanfte Heiland auf Tausenden von Marterln an den Kreuzwegen in ganz Europa." Welches dieser Bilder ist das richtige, welches hat Pilatus gemeint, als er sein berühmtes "Ecce homo" sprach? Und so fragt Lapide: „Was hat der Eine mit den Vielen gemeinsam? Welches der unzähligen Christusbilder ähnelt dem Mann aus Galiläa, der einst diese Erde bewohnte? Gibt es überhaupt ein Christusbild, das mit dem irdischen Nazarener zumindest in seinen wesentlichen Zügen verwandt ist?“

Georg Simmel spricht in einem Aufsatz über "Die Persönlichkeit Gottes" davon, dass der Gottesbegriff für den modernen Menschen durch so viele und heterogene historische Inhalte und Deutungsmöglichkeiten hindurchgegangen ist, dass nur ein mit gar keinem Inhalt mehr festzulegendes Gefühl übrig geblieben ist, etwas viel Allgemeineres, als es der abstrakte Begriff wäre, der etwa das Gemeinsame all jener verschiedenen Bestimmungen des Gottesbegriffes sein könnte. Dahinter steht das Problem, wie man heute in einer säkularisierten Welt überhaupt noch ein Gottes- oder auch Christusbild entwickeln kann. Zwar haben wir fast alle bestimmte Vorstellungen vom Christusbild, ausgeprägter jedenfalls als wir ein Bild Karls des Großen imaginieren könnten. Es gibt Schablonen des Wiedererkennens, Merkmale, anhand derer wir sagen, ja, das ist ein Christusbild. Aber diese Christusbilder sind in einer gewissen Hinsicht tote Bilder, sie sind erstarrte künstlerische Formen mit einer allenfalls historischen Aussagekraft. Wie können sie ihre Ausdruckskraft zurückgewinnen, wie wieder lebendig werden?

Dem österreichischen Künstler Arnulf Rainer (* 1929 bei Wien) gelingt das in einer Serie von Bildern durch Übermalung. Er verwendet Fotos von romanischen oder gotischen Christusbildern, die er durch Übermalungen scheinbar ruiniert, vor allem aber akzentuiert. Dabei geschieht mit den Bildern mehr als nur eine Überarbeitung. Arnulf Rainer hat das gesprächsweise so formuliert: Wenn durch die Bearbeitung eines Künstlers ein totes Gesicht eine Art Leben erlangt, dann kann man darin sehr wohl eine Metapher für die Auferstehung sehen. Im vorliegenden Fall hat ein gotisches Christusbild seine Auferstehung ins Leben erlebt, es wurde durch Veränderung aktualisiert. Das mag manchen befremden, der sich an bestimmte Erscheinungsformen des Christusbildes gewöhnt hat, dem sie sakrosankt erscheinen, aber es gibt nicht nur eine religiöse Kunst wie im 19. Jahrhundert, wo man eine Christusfigur oder eine Madonna detaillistisch gestaltet hat: es gibt auch ein generelles religiöses Sehen, bei dem man nur auf die Allgemeinstrukturen der Imagination abzielt. Diese 'Allgemeinstrukturen der Imagination' religiösen Sehens hebt Arnulf Rainer hervor, durch sie bekommt das Christusbild der Gotik eine unmittelbare Bedeutung im 20. Jahrhundert: Für mich ist Christus der richtige Künstler. Ein idealer Performance-Künstler. Er hat in seinem Leben nur wenige, vielleicht nur eine gemacht. Aber die ist eine Allesformulierung. Also das vollkommene Werk. Das befreiende Werk. Die Botschaft, dass die Siege sich nur aus und in den Niederlagen ergeben, die Vollkommenheit nur aus dem Kreuz - das ist doch die Philosophie des modernen Künstlers.

Bemerkenswert – gerade auch für den schulischen Kontext – ist meines Erachtens zweierlei. Zum einen gehört auch heute noch immer eine Überwindung dazu, eine derartige Übermalung vorzunehmen. Das kann man ganz praktisch an sich selbst oder auch mit den Schülerinnen und Schüler ausprobieren, indem man ein Foto eines romanischen oder gotischen Kruzifixes einmal zu übermalen versucht. Der zweite Gesichtspunkt ist, dass mit einer Übermalung noch lange keine automatische Vitalisierung des Bildgegenstandes verbunden ist, vielmehr muss man etwas davon verstehen: von Christus, von der Kunst und von der Kunst der Präsenz, der Geistesgegenwart. Auch das kann im Unterricht im Vergleich einmal ausprobiert werden.

Literatur: Rainer/Hoeps, Arnulf Rainer: Auslöschung und Inkarnation, 2004.

© Andreas Mertin

Zuletzt bearbeitet 06.07.2012