Was ist dieser Mensch?

Zur Balkenholfigur in Kassel

von Andreas Mertin

[religion unterrichten 2/2012]

Stephan Balkenhol, Turmfigur, Kassel St. Elisabeth, 2012

Der Künstler Stephan Balkenhol, 1957 geboren, gehört zu den weltweit bedeutenden Bildhauern. In jeder größeren Stadt trifft man auf eine seiner Skulpturen: Sei es, dass vor dem Dom in Salzburg eine riesige goldene Kugel steht auf der ein Mann balanciert; sei es, dass am Martini-Anleger in der Hansestadt Bremen ein Mann ruhig auf die Weser schaut, so ruhig, dass scheinbar eine  Möwe auf seiner Schulter Platz genommen hat; sei es, dass mitten in der Fußgängerzone in München plötzlich der Blick nach oben auf einen Stahlbalken stößt auf dem ein Mann mit ausgebreiteten Armen zu gehen scheint; sei es, dass im Hamburger Tierpark Hagenbeck ein Mann sich an den Hals einer Giraffe klammert. Aber es sind nicht nur menschliche Figuren, die Balkenhol als Künstler vor die Augen der Öffentlichkeit stellt, es können auch andere Wesen sein, wie etwa 57 individuelle Pinguine im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt. Der Variantionsreichtum ist groß, aber auch der Wiedererkennungswert.

Schwieriger ist es schon mit der Deutung der Arbeiten. So signifikant sie sind, so offen sind sie für die subjektiven Annäherungen der Betrachter. „Meine Skulpturen erzählen keine Geschichten. In ihnen versteckt sich etwas Geheimnisvolles. Es ist nicht meine Aufgabe, es zu enthüllen, sondern die des Zuschauers, es zu entdecken.“ (Balkenhol) Aber auch wenn die Skulpturen keine Geschichten erzählen, so fordern sie selbst doch extrem zum Geschichten erzählen heraus. Eine solche wiederkehrende Geschichte ist der Mythos, die Feuerwehr oder die Polizei sei zu Hilfe gerufen worden, weil ein Passant gedacht habe, da droht ein Mensch ... und nun geht es je nach Standort und Kontext weiter ... vom Turm zu springen, ins Wasser zu gehen, im Wasser unterzugehen, usw. Gemeinsam ist diesen Erzählungen die Pointe der gelungenen Abbildlichkeit der Werke, ihre Mimesis an Alltagssituationen. Wenn man freilich den Figuren dann gegenübertritt, dann haben sie gar nicht so viel Hyperrealistisches, vielmehr ergibt sich dieser Effekt erst aus größerer Entfernung.

In der documenta-Stadt Kassel hat Stephan Balkenhol nun auf Einladung der Katholischen Kirche einige Objekte in, an und auf der zentralen Kirche St. Elisabeth platziert. Das geschah in der Tradition der bisherigen documenta-Begleitausstellungen, die die katholische Kirche dort seit 2002 veranstaltet. Auf die größte öffentliche Resonanz ist in der aktuellen Ausstellung die Figur auf dem Turm der Elisabethkirche gestoßen. Und das vor allem deshalb, weil die Leitung der documenta dagegen protestiert hat. Betroffen sei sie, es sei das traurigste Erlebnis ihres Aufenthaltes in Kassel, meinte die Leiterin der documenta 13, und der Geschäftsführer der documenta sprach von einer autoritären Geste und von mangelnden Respekt. Und unisono forderten sie, dass die Kunst verschwinden müsse, da sie das Konzept der documenta erheblich beeinträchtige. Das war natürlich eine etwas übertrieben heftige Reaktion, die vielleicht aus der Überraschung kam, nicht der einzige zu sein, der vor Ort Kunst ausstellt.

Auf dem Turm der Kirche St. Elisabeth hat Balkenhol weithin sichtbar eine Figur aufgestellt, die mit ausgebreiteten Armen auf einer goldenen Kugel steht. Wer die Skulptur vor Ort längere Zeit betrachtet, stellt fest, dass sie nicht starr montiert ist, sondern sich mit dem Wind bewegt. Vergleicht man die vertraute Situation mit der neu geschaffenen, dann erkennt man, dass Balkenhol eine Leerstelle im „Baldachin der Kirche“ anthropomorph ausgefüllt hat. Das ist schon sehr interessant. Man muss die platzierte Figur nicht zwingend mit Christus in Verbindung bringen, ein Blick auf das Oeuvre des Künstlers zeigt, dass ein Mann mit den ausgebreiteten Armen schon vorgekommen ist. Aber es ergibt sich natürlich eine gewisse assoziative Nähe zu den frühen Kreuzesdarstellungen. Das ist sicher vom Künstler mit bedacht worden. Aber, wie gesagt, er legt  Wert darauf, das Geheimnis der Figuren zu wahren und sie nicht zu ver­eindeutigen. So eröffnen sich verschiedene Lesarten für das Werk und entfalten ihren Reichtum.

Zum einen das „Was ist der Mensch?“ – also die Deutung der Skulptur im Rahmen des Buches Kohelet, in dem auch der Wind eine zentrale Rolle spielt, etwa im ersten Kapitel: Welcher Gewinn bleibt den Menschen von all ihrer Mühe, mit der sie sich abmühen unter der Sonne? Eine Generation geht, und eine Generation kommt, und die Erde bleibt immerfort bestehen. Die Sonne strahlt auf, und die Sonne sinkt herab und strengt sich an, zu ihrem Ort zu kommen, an dem sie wieder aufstrahlt. Es geht gen Süden und dreht gen Norden, es dreht, es dreht und geht der Wind, und nachdem er sich gedreht hat, kehrt er wieder, der Wind. Mit der Theologie des Buches Kohelet bekommt das „Greifen nach dem Wind“ und damit die Skulptur von Balkenhol eine ungeheuer kulturkritische Dimension.

Ordnet man sie anthropologisch ein, dann führt uns das vielleicht zu Psalm 8,5ff.: Was sind die Menschen, dass du an sie denkst, ein Menschenkind, dass du nach ihm siehst? Wenig geringer als Gott lässt du sie sein, mit Würde und Glanz krönst du sie. Du lässt sie walten über die Werke deiner Hände. Alles hast du unter ihre Füße gelegt. So geht es um die Frage der Gottesebenbildlichkeit und des menschlichen Mandats.

Und reflektiert man die Skulptur christologisch, dann geht es um die Menschwerdung in der Dialektik von „Was sagen die Leute, wer ich sei?“ und „Und ihr, was sagt ihr, wer ich sei?“ – also um unsere Erkenntnis und unseren Glauben.

Balkenhol nimmt mit seiner Skulptur selbst dazu nicht Stellung, sondern eröffnet einen Spielraum der Wahrnehmung und Deutung. Er überlässt es den Zuschauer, seine Lesart zu entdecken

.Andreas Mertin

Zuletzt bearbeitet 16.08.2014