Eclipsis

von Andreas Mertin

Predigt im Rahmen des 10. Festivals Neue Musik Mülheim
Utopie jetzt! am 28. Oktober 2012 in der Petrikirche Mülheim


Liebe Gemeinde,

wer vor 5 Jahren auf der Weltkunstausstellung documenta in Kassel einen der unteren Räume der Neuen Galerie betrat, dort, wo normalerweise der VW-Bus und die berühmten Schlitten von Joseph Beuys gelagert waren, der fand seinerzeit den Raum vollständig leer geräumt und außerdem ziemlich dunkel vor. Nur ein zentraler Lichtstrahl zielte gleißend auf die Stirnwand des Raumes und ergab dort einen runden Lichtkegel.

Man musste vor dem Raum, der im Katalogtext ein Kunstwerk mit dem Namen Eclipsis von Gonzalo Diaz versprach, lange Schlange stehen. Ich erinnere mich noch gut, wie viele Leute diesen Raum betraten, sich umschauten, den dunklen Raum und den Lichtkegel wahrnahmen und dann den Raum kopfschüttelnd verließen. Das sollte Kunst sein? Ein verdunkelter Raum mit einem Lichtstrahl, der sich an der Wand bündelte? Da war die Lichtinstallation im eigenen Partykeller vermutlich eindrucksvoller.

Wer aber nicht so schnell den Raum verließ, sondern mitten in den Lichtstrahl trat, der konnte feststellen, dass das grelle Licht einen etwa DIN A 4-Blatt großen Text an der Wand überstrahlte und nahezu unsichtbar machte. Nur wenn man in den Lichtkegel eintrat, erzeugte man einen Schatten, der notwendig war, um den Text an der Wand lesen zu können.

Wenn man einen Moment über diese Konstellation von Licht und Schatten im dunklen Raum nachdenkt, dann war das damals an sich schon eine interessante Bildmetapher. Denn sie sagt viel über die verschiedenen Möglich­keiten der Erkenntnis, aber auch etwas über die Aufklä­rung aus. Sie sagt etwas darüber, wann wir etwas wie wahrneh­men und dass dabei nicht immer das bloße Licht, das Enlightenment hilfreich ist, sondern dass wir aktiv werden müssen, um Erkenntnis zu erlangen und dabei manchmal auch auf den Schatten angewiesen sind. Und diese Installation sagt darüber hinaus, wie wichtig unser Körper (und nicht nur unsere Sinne) für das Erkennen werden kann. Der Körper muss sich erheben, muss sich bewegen, damit wir wahrnehmen können.

Aber was stand nun auf jenem ominösen Zettel der Kunstinstallation von Gonzalo Diaz, der durch das gleißende Licht der Betrachtung entzogen wurde? Dort konnte man lesen:

„Du kommst zum Herzen
Deutschlands,
nur um das Wort
Kunst
unter deinem eigenen
Schatten
zu lesen“.

Ein auf den ersten Blick etwas trivialer Satz, denn er wiederholte nur, was man wusste. Man war zur Documenta nach Kassel gereist, nur um im Schatten des eigenen Körpers etwas über Kunst zu erfahren. So wie man sich vielleicht auch in den letzten drei Tagen nach Mülheim begeben hat, um anhand von Neuer Musik etwas über die Kunst, das Licht und die Utopie zu erfahren.

Und damit stellt sich die Frage noch einmal anders: was bedeutet für uns die Kunst, was lässt uns die Musik, die Literatur, die Bildende Kunst an Erkenntnissen gewinnen? Das Festival Neue Musik in Mülheim sucht unter der leitenden Metapher des Lichts sich dieser Frage zu nähern, heute in diesem Gottesdienst unter der Beziehungspaar Licht und Schatten. Was ist der metaphorische Sinn von Licht und Schatten, weshalb wollen wir mit Hilfe der Kunst mehr über sie erfahren?

Das Verhältnis zum Licht und zum Schatten hat über die Zeiten und die Regionen immer wieder geschwankt. Wenn man in Weltregionen lebt, in denen die Sonne überaus dominant ist, dann sehnt man sich vielleicht nach etwas Schatten, der einem Erholung verspricht. „Der HERR behütet dich; der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts“ heißt es in Psalm 121. Lebt man aber in lichtärmeren Gefilden dieser Erde, dann kann in jedem Schatten das Unheil lauern.

Auch in der geistesgeschichtlichen Diskussion spielte das Licht und der Schatten als sein Widergänger eine wichtige Rolle. Die letzte große Auseinandersetzung um Licht und Schatten fand vor 200 Jahren statt. Die Aufklärung war angetreten, in das Dunkel der Existenz und des scheinbar Unaufgeklärten Licht zu tragen. Enlightenment – heißt Aufklärung im angelsächsischen, Erleuchtung. Die Aufklärer fühlten sich als Fackelträger der Vernunft.

Die Romantiker dagegen beklagten die von der Aufklärung rücksichtslos vorangetriebene Ausleuchtung der Welt. Sie beharrten auf der Notwendigkeit einer Poesie des Schattens, der Produktivität des Dunkels, der Nachtseiten der Gefühlswelten:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt in's freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

So das Gedicht des Frühromantikers Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, aus dem Jahr 1800 in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“. Es wird bis in die Gegenwart als Programmgedicht der Romantik verstanden. Was aber meint Novalis, wenn er schreibt, dass Licht und Schatten sich zu ächter Klarheit werden gatten? Es geht darum, es nicht beim bloßen Licht des Verstandes der Aufklärung zu belassen, sondern zu einem anderen Verständnis von Wirklichkeit und Wahrheit zu gelangen, eines, in dem Licht und Schatten ihren angemessenen Ausdruck finden.

Wenden wir uns von diesem Streit der Romantik mit der Aufklärung über die Bedeutung von Licht und Schatten nun der Bibel zu, dann finden wir zunächst und vor allem das Lob des Lichts in der Bibel. Die Lichtmetaphorik, die vom Evangelium des Johannes ausgeht, scheint alles zu überstrahlen. So heißt es in Johannes 8, 12: »Ich bin das Licht der Welt; alle, die mir folgen, werden nicht mehr in der Finsternis umherirren, sondern das Licht des Lebens haben.« Das ist das zentrale Versprechen, dass das Christentum in der kommenden Adventszeit wiederholen wird: dass es ein Licht gibt in der Finsternis der Welt.

Ein Licht, dem man folgen kann und das man sich aneignen kann. In Johannes 11, 9 heißt es: »Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Alle, die am Tag herumlaufen, stolpern nicht, denn sie sehen das Licht dieser Welt; alle aber, die bei Nacht herumlaufen, stolpern, weil das Licht nicht in ihnen ist.« Darum geht es: sich das Licht zu Eigen zu machen.

Im Bild ist dieses Motiv auch in der Darstellung der Geschichte von Jesu Geburt ausgestaltet worden und zwar mit dem Motiv des Kerzen tragenden Josef. Wenn Sie auf den unzähligen Kunstwerken der Kunstgeschichte zu Christi Geburt genau hinsehen, ist es nicht der Stern von Bethlehem, der die Nacht erleuchtet. Und es sind auch nicht die Engel. Eigentlich müsste es im Stall von Bethlehem ganz Dunkel sein, müsste alles in der Finsternis ablaufen.

Auf Kunstwerken seit dem 15. Jahrhundert sehen wir deshalb Josef, der aus Angst, bei der Geburt Jesu könne es nicht hell genug im Stall (oder in der Grotte) sein, schnell noch losgegangen ist, um eine Kerze oder Laterne (als Metapher menschlicher Welterleuchtung) zu besorgen. Zurückgekommen muss er feststellen, dass in Wirklichkeit das gerade geborene Kind die ganze Welt erleuchtet. Das Licht der Welt wird geboren. Martin Luthers Freund Lukas Cranach hat dazu ein wunderbares Bild gemalt:

1 Lukas Cranach, Christi Geburt, 1515


Und auch bei den frühen Christen, die noch darum rangen, in wel­chen Bildern man Jesus Christus ausdrücken kann, finden wir diesen Lobpreis des Lichtes. In einem Gewölbemosaik der vatikanischen Nekropolen finden wir im 3. Jahrhundert die Darstellung Christi als Sol invictus, als unbesiegbarer Sonnengott. Christus wird weniger mit dem römischen Gott Sol identifiziert, als vielmehr ausgesagt, dass das, was dem Gott Sol zugeschrieben wird, eigentlich Jesus Christus zukommt: Licht der Welt zu sein.

Deshalb feiern wir Weihnachten am alten Festtag des Gottes Sol. Deshalb feiern wir den Sonntag, obwohl er doch so erkennbar römisch bestimmt ist: dies solis – Tag der Sonne. Das hat die Christen nicht daran gehindert, sich diesen Tag anzueignen. Und von da aus hat sich die Metaphorik des Lichts weiter ausgebreitet bis zur Lichtmetaphysik der gotischen Kathedralen.

Wie aber steht es im Christentum mit dem Schatten, mit der „Eklipse“ – der Verdeckung des Lichts?


Darüber mehr nach dem Mondspiel von Gerhard Stäbler ...


So sehr die Romantik im Gegenüber zur Aufklärung den Schatten als Korrektiv des Lichts ausgezeichnet hat, so wenig scheint zumindest auf den ersten Blick die biblische Tradition auf Seiten des Schattens zu stehen.

Wenn der Schatten nicht gerade gepriesen wird, weil er den Wüstenbewohner oder auch den Propheten Jona vor der brennenden Sonne schützt, dann ist er doch eher ein Symbol des Totenreichs.

Im Buch Hiob heißt es: »Der Mensch ... lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.« Der Schatten ist unstet, nicht verlässlich, er wird mit dem Totenreich verbunden. Bis in die Gegenwart hat diese skeptische Haltung unsere Sprache geprägt: Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Tod begleitet das Leben wie der Schatten das Licht.

Nur bei Adelbert von Chamissos Märchenerzählung „Peter Schle­mihls wundersame Geschichte“ über den an den Teufel verkauften Schatten blitzt so etwas wie eine positive Wertung auf: „ohne Schatten bist du auch der Seele bar“ heißt es deshalb später in einen volkstümlichen Gedicht. Der Schatten ist unentbehrlich, sonst würde ihn der Teufel wohl kaum zu erwerben suchen und der in Aussicht genommene Brautvater würde nicht vor der Hochzeit auf einen anständigen Schatten beim Bräutigam bestehen.

Aber dann ist es doch nicht erst die Romantik, in der der Schatten Beachtung findet. Auch in der Bibel gibt es, wenn auch an fast verborgener Stelle, eine erzählerische Würdigung des Schattens.

Es ist diese Stelle in der neutestamentlichen Überlieferung, die Masaccio, einen der bedeutenden Maler der Frührenaissance, zu einem wunderbaren Bild inspiriert hat. Das Bild beschäftigt sich mit dem Schatten des Petrus und fasst zwei Texte der Apostelgeschichte zu einem Geschehen zusammen.

Zum einen den Bericht in Apostelgeschichte 3 von den Wundertaten des Petrus, konkret von der Heilung des Lahmen. Und zum anderen die Erwähnung in Apostelgeschichte 5, dass die Menschen überall dort, wo die Apostel auftraten, ihre Kranken herbei holten, in der Hoffnung, dass diese, wenn nicht von den Aposteln oder Petrus selbst, dann doch wenigstens von deren Schatten geheilt werden würden. Wir haben diesen Text gerade in der Lesung gehört. Und tatsächlich lässt der biblische Text darauf schließen, dass alle, die vom Schatten des Apostels gestreift wurden, auch geheilt wurden.

Genau diese beiden Stellen der Apostelgeschichte hat Masaccio aufgegriffen und zu einer Bilderzählung in seinem Kunstwerk verbunden. Aber der Künstler Masaccio ist – wie erwähnt – ein Vertreter der Renaissance. Und deshalb interessiert er sich nicht besonders für das Wunderbare dieses Geschehens.

Masaccio ist schließlich jener Künstler, der die Perspektivkonstruktion und damit die Berechenbarkeit in die Gottesdarstellung eingeführt hat. Das können wir heute noch in der Kirche Santa Maria Novella auf seinem Trinitätsfresko bewundern. Masaccios Interesse konzentriert sich daher auf die Humanität des Geschehens, darauf, wie die Menschen in dieser Geschichte aus ihrem Leid erhoben werden.

Und so lässt er auf seinem Fresko zum Schatten des Petrus in der Brancacci-Kapelle der Kirche Santa Maria del Carmine in Florenz den Apostel Petrus mit seinen Gefährten einfach eine Gasse in einer Stadt entlang gehen. Und dabei passieren sie auch eine Gruppe von Kranken und um Zuwendung Flehenden. Und wie beiläufig streift der Schatten des Petrus einen Gelähmten.

Und nun können wir als Betrachter des Bildes geradezu dabei zusehen, wie sich der Gelähmte vor unseren Augen aus dem Schatten erhebt und ans Licht tritt. In einer Folge von drei miteinander verbundenen Figuren lässt Masaccio den Menschen aus dem Staub auferstehen und wahrnehmbar werden.

Und anders als in der biblischen Erzählung von der Heilung des Gelähmten in Apostelgeschichte 3 wird Petrus dabei gar nicht selbst aktiv, er scheint die von seinem Schatten bewirkte Auferstehung des Gelähmten gar nicht mitzubekommen. Und doch geschieht sie.

Der Schatten des Petrus (der ja, so weiß der gläubige Betrachter natürlich, nur mit Hilfe des Lichts, also Jesu Christi seine Vollmacht bekommt), dieser Schatten des Petrus befreit einen anderen Menschen aus der Existenz im Schatten, gibt ihm eine neue Perspektive.

2 Masaccio - Der Schatten des Petrus / Heilung des Lahmen, 1426


Masaccios Darstellung ist einzigartig in der Kunstgeschichte. Alle anderen Künstler vor und nach ihm lassen vor allem den Apostel Petrus als Wunder­täter hervortreten und gestikulieren.

Nur Masaccio verfolgt mit seiner Darstellung des Schattens des Petrus offenkundig ein anderes Ziel: Nicht um das Wunder, sondern um die Aufrichtung der bisher zu kurz Gekommenen geht es.

Es ist, als wolle er die genau fünf Jahrhunderte später entstandenen Zeilen der Schluss-Strophe aus Bertold Brechts „Die Morität von Mackie Messer“ vom Kopf auf die Füße stellen:

        Denn die einen sind im Dunkeln
        Und die andern sind im Licht.
        Und man siehet die im Lichte
        Die im Dunkeln sieht man nicht.

Die Ästhetik Gottes, darauf macht Masaccio aufmerksam, funktioniert ganz anders, sie kehrt die Logik, die Lichterlehre der Welt um. Was im Schatten war, soll sichtbar werden, soll Bedeutung bekommen.

Ein Jahrhundert nach Masaccio hat dies Martin Luther in seiner Auslegung des Magnifikats der Maria noch einmal benannt. Wo blickt Gott hin, was unterscheidet seinen Blick von unserem Blick? Und Maria sprach: „er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“. Das, so Luther unterscheidet die Ästhetik Gottes von unserer:

„Das erfahren wir täglich, wie jedermann nur über sich, zur Ehre, zur Gewalt, zum Reichtum, zur Kunst, zu gutem Leben und allem, was groß und hoch ist, sich bemüht. Und wo solche Leute sind, denen hängt jedermann an, da läuft man hinzu, da dient man gern, da will jedermann sein und der Höhe teilhaftig werden ...

Wiederum in die Tiefe will niemand sehen. Wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon, da flieht, da scheut, da lässt man sie und denkt niemand, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, dass sie auch etwas sind.“

Soweit Martin Luther. Und wir sehen, dass selbst Petrus, als Repräsentant der Kirche, sich auf dem Bild von Masaccio nicht dem Elend der Menschen zuwenden mag. Gott aber kehrt diese Sichtweise um, er orientiert sich an der Niedrigkeit der Magd, an dem Menschen im Dunkeln, die man nicht sieht oder übersieht.

Die Ästhetik Gottes ist keine des Glanzes, sondern eine Ästhetik der Verklärung des Gewöhnlichen.

Gerade auch die Kunst der Moderne, die Bildende Kunst, die Literatur und nicht zuletzt die Neue experimentelle Musik sind im 20. Jahrhundert dieser aufregenden Spur gefolgt und haben sich dem Alltäglichen, dem Übersehenen, dem Gewöhnlichen zugewandt und es wahrnehmbar, hörbar und sichtbar gemacht.

Sehen, was man sonst übersieht, hören, was man sonst überhört, den Schatten und die im Schatten nicht missachten, sondern achten, nicht am Gewöhnlichen vorbeigehen, noch auf das Unwahrscheinliche hoffen – das ist die Botschaft dieser Geschichte. Und die Zusage lautet, dass im rechten Licht betrachtet, noch der Schatten das Leben verändern kann.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Andreas Mertin

Zuletzt bearbeitet 01.02.2014